Manuskripte und Vorträge
0. Boje Maaßen geht los. Argumente für
Eigenbewegung und eine Kritik des Autos. Baltica-Verlag Glücksburg, 2006
(192 Seiten)
I. ....und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr
ginge." Vorüberlegungen zum Sich-Bewegen in pädagogischer Absicht (Aufsatz)
II. Eigenbewegung – Urbanität – Gesundheit (Kurzvortrag)
III. Der Tod des Autos wäre das Ende vieler Krankheiten (aus Iley)
IV. Du kannst viel mehr, als Du denkst! (unveröffentlichtes
Buchmanuskript)
Boje Maaßen geht los
Inhalt
Momentaufnahmen 9
Einführung 11
Kernaussage 12
Aufbau 13
Anmerkung zur begrifflichen
Erkenntnis 14
Wort und Begriff »Bewegung« in der
Alltagssprache 15
»Omnis
determinatio est negatio« 17
1. Theorie des Fußes und des Weges
18
1.1
Der Subjektpol »Mensch« 18
Muskelgewebe und Nervengewebe 18
Aneignung von Welt über Eigenbewegung, Fremdbewegung,
Bild und Begriff 22
Zwei verschiedene Kulturen: die muskuläre und die neuronale 23
Freiheit und Subjektivität 24
Bewegung im Spannungsfeld von Determination und Freiheit 26
Freiheitsgrade 28
1.2 Der Objektpol »Weg« 28
1.3 Die Struktur der fragilen Einheit »Mensch
und Weg« 33
Problem des Begriffs
»Beziehung« 33
Bedeutung der Energie im
Vermittlungsprozess 35
Unterschied von metabolischer und
exogener Energie
in der Eigen- und Fremdbewegung 36
Sport akzentuiert den subjektiven Pol
38
Eigenbewegung und funktionale Ziele 38
Geformte Körperenergie ist das notwendige Fundament für lernende Aneignung 39
Implizites und explizites Wissen 40
1.4 Die zentralen Begriffe der fragilen
Einheit
»Mensch und Weg« 41
Augenblicke (42) � Auto, Fernsehen,
Buch in ihrem Bezug zur Wirklichkeit (43)
Bildung (43) � Denken (46) � Ding und
Symbol (46) � Ganzheit (47) � Grund (48) �
Ich-
Stärke (49) � Muskuläre Eigenbewegung
und Sicherheit (49) � Perspektive (50) � Repräsen-
tationssysteme (52) � Stille (53) �
Welt- und Selbstverhältnis (54) � Werte (57)
1.5 Der Kontext als umfassende Einordnung der
Eigenbewegung in Natur und Lebenswelt 57
1.5.1 Bewegung (ohne den Menschen) 59
Der physische
Körper
Raum und Zeit in der Physik
Körper »haben« Bewegung in Raum und Zeit
1.5.2 Die Eigenbewegung des Menschen 60
Der menschliche Leib
Raum und Zeit in der Lebenswelt
Der Leib »hat« Bewegung in Raum und Zeit
Naive Kultur, Raumkultur und Zeitkultur
Raumkultur
Zeitkultur
Die drei Kulturen in der Gegenwart
Abschließendes zu Raum und Zeit
1.5.3 Ersetzen der lebendigen Eigenbewegung durch
technische Fremdbewegung 69
2. Gewinne durch Eigenbewegung 71
A. Allgemeine Aussagen
Phänomenologie der Eigenbewegung
B. Gedanken und Befunde zur
Eigenbewegung
Ästhetik (72) �
Augenblick (73) � Bedeutung (73) � Bildung (75) � Eigen-
bewegung (77) � Einheit (81) � Erkenntnis (85) � Geschichte (94) �
Gesund-
heit (94) � Grund (96) � Kommunikation (98) � Leben (99) � Moral (100)
Natur (103) � Persönlichkeit (104) � Sport (108) � Trends (109) �
Umwelt (109) Wege (110) � Wirklichkeit (110) � Wirtschaft (112) � Zeit
(112) � Zielvorstellungen (112)
3. Verluste durch Fremdbewegung 118
A. Allgemeine Aussagen
Phänomenologie der Fremdbewegung als sekundäre
und virtuelle Bewegung
Tendenzielles Entweder-Oder
B. Gedanken und Befunde zur Fremdbewegung
»Auswilderung«
(120) � Auto (121) � Bild (126) � Fremdbewegung (134) � Geschichte (136)
Gesellschaft (136) � Kommunikation (138) � Krankheit (140) � Lernen (142) �
Mensch als Gefährdeter (144) � Modernes Leben (148) � Spaltung (156) � Stadt
und Land (157) Technik (165) � Theorie der Moderne (170) � Verhässlichung
der Welt (178) Vermessung (180) � Widerstand (183)
4. Begründung für das Fehlen eines
normativen
Vermittlungskapitels 185
Problematik der Zukunftsbestimmung
Voraussetzungen und Strategien zur Verwirklichung
der Zukunftspotenziale und Werte für
Eigenbewegung
Eine Werte-Graphik als Orientierungshilfe
191
Lebe mit
deinem Jahrhundert,
aber sei nicht sein Geschöpf;
Leiste deinen Zeitgenossen,
aber was sie bedürfen, nicht was sie loben.
Friedrich Schiller
Was bloß identisch ist mit sich selbst,
ist ohne Glück.
Theodor W. Adorno
Nur wo sich der Mensch am Menschen stößt und
reibt,
entzünden sich Witz und Scharfsinn,
nur wo sich der Mensch im Menschen sonnt und
wärmt,
entstehen Gefühl und Phantasie,
nur wo der Mensch zum Menschen spricht,
entsteht die Vernunft.
unbekannte Quelle
Endlich gewinnen die Kräfte des Geistes die
Oberhand über die rohe Macht der Dinge. Unsere Welt ist überall und
nirgends; und sie ist nicht dort, wo Körper leben. Es gibt im Cyberspace
keine Materie.
Perry Barlow[1]
Momentaufnahmen
Der Nachbar fährt am Sonntagmorgen bei schönstem
Wetter zum nahe gelegenen Bäcker mit dem Auto, statt zu Fuß zu gehen oder
mit dem Fahrrad zu fahren. Warum macht er das, obwohl es insgesamt länger
dauert, als wenn er liefe? Warum sucht er nicht den direkten Kontakt
mit seiner Umwelt?
Inzwischen hat jede Stadt auf der ganzen Welt
folgende Struktur: Fußgängerzone in der Innenstadt – schmutziger Gürtel
bestehend aus Parkplätzen, heruntergekommenen Gebäuden, Autostraßen –
relativ ruhige Wohnbezirke – Ausfallstraßen. Diese Struktur ergibt sich
monokausal aus dem Individualverkehr.
Zwei Drittel aller Stadtbewohner leiden unter dem
Verkehrslärm.
Die Hälfte aller Autofahrten ist kürzer als drei
Kilometer.
Ein Schulkind auf dem Heimweg: Es klaut einen
Apfel und bekommt »Rückmeldungen« in Form von Schimpfen. Es riecht die
Rosen, muss sich mit mitlaufenden Schülern auseinandersetzen. Es muss sich
den Raum mit entgegenkommenden Erwachsenen, Kinderwagen, Fahrradfahrern
teilen. Es hört die Schiffsglocke um acht und die Totenglocke um zehn Uhr.
Es muss auf den Hund reagieren und die über den Weg laufende Schnecke nicht
stören – oder doch? Es kann verstohlen das verliebte Paar anschauen,
den alten Mann nach der Uhrzeit fragen, es muss aufpassen, dass es sich
nicht verläuft, ist verantwortlich für seinen Hin- und Rückweg, es fühlt,
wie es ist, wenn es die leere Coladose mit den Füßen wegkickt, ihm wird
freundlich von der Nachbarin über das Haar gestreichelt, es muss lernen, auf
den merkwürdigen Stadtstreicher zu reagieren, vielleicht auch auf den
Betrunkenen, es wird mit verschiedenen Modellen des Verhaltens auf der
Straße konfrontiert, es muss sein Schuhband selbst zu einer Schleife knoten,
weil keine Hilfe da ist, es muss lernen, ein eventuelles Aufkommen von Angst
zu beherrschen. Es muss auf Autos aufpassen und sich im Wetter etwas
auskennen, um rechtzeitig vor dem Regenguss zu Hause zu sein, zumindest
berechnen, wie weit es noch bis zur nächsten Unterstellmöglichkeit
ist, es kann versuchen, durch die Regenpfütze zu waten oder Steine über den
Bach zu werfen, sich fragen, wie dieser bunte Vogel dort auf dem Baum heißt,
auf die Begrenzungsmauer springen und dort die 20 Meter balancieren, sich
Gedanken machen, warum der Nachbar auf der rechten Seite immer so grimmig
dreinschaut, genießen, wenn es beim Öffnen der Haustür laut »Mutti« ruft und
ein mit Sicherheit freudiges Gesicht die Haustür aufmacht.
»Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch
und kosmisch mehr [von der Welt, BM], als wer fährt. Überfeine und unfeine
Leute mögen ihre Glossen darüber machen nach Belieben; es ist mir
ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und
Selbständigste in dem Mann und bin der Meinung, dass alles besser
gehen würde, wenn man mehr ginge […].Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr
schlecht, man sehe sich nur um! Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich
sogleich um einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt.«
Johann Gottfried Seume
Einführung
In der Alltagspraxis wird die Eigenbewegung immer
häufiger und umfangreicher durch die Fremdbewegung ersetzt. Zum Kaufmann
geht man nicht zu Fuß oder benutzt das Rad, sondern fährt mit dem Auto.
Diese Transformation der Alltagsbewegung ist aber nicht nur eine private
Angelegenheit, sondern im Gesamt ihrer Auswirkungen auf den Menschen selbst
und auf seine natürliche, soziale und kulturelle Umwelt höchst destruktiv.
Destruktionen, die im individuellen und kollektiven Bewusstsein nicht nur
verdrängt bzw. vergessen, sondern als Fortschritt begrüßt werden. Es gibt
für diese Abläufe nahezu kein kritisches Bewusstsein und keine Abwehr. Sie
haben global alle Gesellschaften in allen Schichten in ihren kulturellen und
politischen Ausprägungen erfasst. Um einen Tramper zu zitieren: »Überall
läuft derselbe Film.« Mein fundamentales Staunen besteht also darin, dass
wir die durch Eigenbewegung entstehende Lebensqualität so leicht für so viel
Zerstörung aufgeben. Ein Verlust, der nicht sein muss. Die folgenden
Aussagen sollen meine Überzeugung begründen. Die Vorgehensweise ist
überwiegend phänomenologisch angelegt.
Unter
»Eigenbewegung« werden Bewegungen verstanden, die mit Hilfe körpereigener
Muskeln durchgeführt werden. Eigenbewegungen werden beispielsweise verlangt
beim Bettenmachen, beim Reparieren einer Uhr, beim Schneeschaufeln, von A
nach B zu Fuß gehen oder mit dem Rad zur Arbeit fahren. Bettenmachen,
Reparieren, Schneeschaufeln sind Eigenbewegungen, um einen Gegenstand oder
eine Situation zu verändern. Gehen und Fahrradfahren sind Eigenbewegungen,
um Ortsveränderungen vorzunehmen. Die Hand wird zentral bei der
Gegenstandsveränderung eingesetzt, der Fuß bei der Ortsveränderung.
In meinen
Ausführungen geht es primär um Ortsveränderungen im Modus der Eigenbewegung
und um Ortsveränderungen im Modus der Fremdbewegung. Fremdbewegungen sind
Bewegungen, die nicht vom eigenen Körper, sondern von technischen Systemen
wie Auto, Zug, Flugzeug usw. übernommen werden. Der Mensch im Modus der
Fremdbewegung (z. B. im fahrenden Auto) befindet sich selbst im Zustand der
Bewegungslosigkeit, des Stillstandes.
Die
Möglichkeiten der Ortsveränderung werden in der Eigenbewegung überwiegend
auf das Gehen beschränkt, in der Fremdbewegung überwiegend auf das Auto.[2]
Auf normativer Ebene wird das Gehen einseitig als Gewinn, das Autofahren als
Verlust dargestellt. Diese Einseitigkeit ist begründet und notwendig, wenn
man die ungeheuer große Macht der Autolobby in Rechnung stellt – eine Macht,
deren Produkte und Ideologien (fast) nicht mehr in Frage gestellt werden. In
meinen Ausführungen soll die Position der Eigenbewegung argumentativ
gestärkt werden in der Hoffnung, dass immer mehr Menschen denken werden:
»Aus ›Egoismus‹ (im Sinne von Eigeninteresse) gehe ich lieber zu Fuß oder
fahre mit dem Rad bzw. nutze öffentliche Verkehrsmittel.«
Knapp die
Hälfte der Deutschen bewegt sich nach eigener Einschätzung zu wenig und
meint, sie solle mehr Sport treiben.[3]
Genau dieser Schluss ist nicht zwingend: Eigenbewegung in natürlichen,
sozialen und kulturellen Alltagswelten ist die bessere Lösung.
Kernaussage
Eigenbewegung
beruht wesentlich auf Tätigkeiten der Muskeln, die von körpereigener (=
metabolischer) Energie gespeist werden, Fremdbewegung nutzt technische
Systeme, die von äußerer (= exogener) Energie gespeist werden.
Ortsveränderungen nehmen bestehende Wege in Anspruch bzw. bahnen sich neue
Wege. Muskuläre Eigenbewegung, körpereigene Energie und Weg bilden eine
untrennbare funktionale Einheit, werden aber zwangsläufig in der Darstellung
analytisch getrennt.
Wenn die Wege
sich in natürlichen, sozialen und kulturellen Alltagswelten befinden, dann
ist diese Einheit eine wesentliche Voraussetzung für Lebensfreude und
sinnen- und sinnvolle Lernprozesse. Eine bildvermittelnde Weltaneignung ist
gegenüber einer muskulären Welt- und Selbsterfahrung eine defizitäre Art der
Aneignung. Gleiches gilt für Wahrnehmungen in der Fremdbewegung.
Gehen
ermöglicht eine nicht-aggressive, schonende Begegnung mit der Umwelt,
während die Nutzung des Autos sich nicht nur als zerstörerisch gegenüber der
Umwelt, sondern auch gegen die Fahrenden selbst erweist, denn eine sitzende
Lebensweise hat – wie medizinische Befunde belegen – sowohl physisch wie
psychisch eindeutig negative Auswirkungen, ist Aggression gegen sich selbst.
Ein nicht zu unterschätzender Zukunftsaspekt ist der ausbeuterische Umgang
mit den immer knapper werdenden Energien.
Aufbau
Der Theorieteil (Kap. 1) enthält die Bearbeitung der Grundelemente
und -struktur dieser Arbeit, die sich aus der Forderung »Eigenbewegung statt
Fremdbewegung in natürlichen, sozialen und kulturellen Alltagswelten«
ergeben. Der sich bewegende Mensch als Subjektpol (1.1) und sein jeweiliger
Weg als Objektpol, (1.2) sind die Grundelemente, die beide – und das ist die
Kernaufgabe – eine möglichst enge und intensive Beziehung (1.3) bilden
können und sollen. Da die Eigenbewegung im Mittelpunkt steht, konzentriert
sich der Subjektpol auf das Muskel- und Nervengewebe, wobei der Fuß als
zentrale Metapher dient. Der Objektpol konzentriert sich auf die Umwelt,
wobei der Weg als zentrale Metapher dient. Die fragile Einheit[4]
von Subjekt- und Objektpol wird zuerst entwickelnd-systematisch (1.3)
dargestellt, anschließend werden zentrale Begriffe der Struktur wie
Perspektive, Grund, Ich-Stärke usw. (1.4) näher betrachtet, um
gegebenenfalls das Verständnis zu vertiefen und damit auch zu erleichtern.
Gewissermaßen flankierend schließt das Theoriekapitel ab mit einer
umfassenden Einordnung der Eigenbewegung in physische Sichtweise (1.5.1), in
die Lebenswelt (1.5.2) und in den Vergleich von lebendiger Eigenbewegung und
mechanischer Fremdbewegung (1.5.3).[5]
Im Praxisteil
werden Gewinne durch Eigenbewegung, insbesondere durch das Gehen (Kap. 2)
und die Verluste durch Fremdbewegung, insbesondere durch die Nutzung des
Autos (Kap. 3) aufgezeigt sowie exemplarisch einige Möglichkeiten der
wünschenswerten Ersetzung von Fremdbewegung durch Eigenbewegung vorgestellt.
Das geschieht hier nicht als systematische Entfaltung, sondern wird
überwiegend an praktischen Lebenssituationen als eine Auswahl typischer und
erhellender Konkretionen der im Theorieteil entwickelten Strukturen in
aphoristischer Form erläutert. In einem Bild: Die Theorie ist ein
(allgemeiner) Begriff wie »Hund«. Konkretionen wären einzelne Hunde wie
»Tini«, der zu meiner Tochter gehört oder »Moritz«, der bei meiner
Nachbarin lebt. Natürlich könnte ich unendlich viele Hunde vorstellen, alle
Hunde der Welt aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es interessieren
aber nur die typischen, charakteristischen, bedeutsamen.
Es sind also
kleine, in sich geschlossene Formen mit der Aufgabe, Theorie durch sie
anschaulicher und lebensnaher zu machen und hauptsächlich Praxis zu
verändern.
Man könnte sie
auch als Gedankensplitter auffassen, die erhellen, provozieren, zum Denken
und Überdenken anregen, vielleicht auch utopische Potenziale freisetzen. Sie
sollen hinweisen, den Finger auf Unbekanntes, Verdrängtes lenken, sind also
mit Sicherheit unvollständig und damit ergänzungs- und korrekturbedürftig.
Auf eine ausführlich strukturierende Ordnung wurde in diesem Teil bewusst
verzichtet, weil sie hier zum einen wegen Überschneidungen gewaltsam wäre,
zum anderen es lernpsychologische Hinweise gibt, dass das »lesende Gehirn«
es schätzt, auch Phasen der Ordnungslosigkeit vorzufinden und damit die
Möglichkeit erhält, eine eigene Ordnung zu schaffen. Als Orientierungshilfe
ist aber eine Dimensionierung vorgenommen worden.
Im abschließenden Teil (Kap. 4) wird (fast paradox) beschrieben,
was diese Arbeit nicht leistet und nicht leisten will, nämlich
konkret und umfassend den Übergang von Fremdbewegung zur Eigenbewegung
einschließlich des Endzustandes zu entwerfen und darzustellen. Dass dieses
Fehlen kein Versehen oder Folge von Denkfaulheit, sondern beabsichtigt ist,
wird in diesem Kapitel begründet.
Anmerkung zur begrifflichen Erkenntnis
Nach Kant entspringt unsere Erkenntnis aus zwei Grundquellen: der
Sinnlichkeit und dem Verstand. Beide sind uns an sich nicht zugänglich. Erst
als Einheit ergeben sie Erkenntnis. Deswegen ergänzen sich in dieser
Ausarbeitung allgemeine Aussagen und konkrete Beispiele. Das Allgemeine wird
in einer relativ abstrakten Sprache vermittelt, da man Gesellschaft nur mit
Hilfe von (allgemeinen) Begriffen systematisch beschreiben, reflektieren und
kritisieren kann. Rein sinnlich Gegebenes »spricht« also nicht über sich
selbst und schon gar nicht über seine Ursachen und Funktionen. Dem Menschen
ist eine direkte Erkenntnis von Welt nicht möglich, weil Welt immer über
Erfahrungen, Begriffe, innere Bilder, Alltags- und wissenschaftliche
Theorien, kurz, über Bedeutungen vermittelt ist. Je nach
erkenntnistheoretischer Position haben die Erkenntnisinhalte eine größere
Affinität zur Welt oder zum Menschen, zur Abbildung oder zur Konstruktion.
Welt
Bedeutungen
Mensch
Hinzu kommt noch eine besondere
»Subjektivierung«: Es gibt keinen objektiven Blick, sondern nur verschiedene
Perspektiven und damit inhaltlich verschiedene Blicke.[6]
Vorweggenommen sei, dass die in diesen Überlegungen vertretene
handlungsorientierte Position gewissermaßen Kant dynamisiert, denn für sie
besteht zwischen »Sinnlichkeit in der Bewegung« und Verstand kein Dualismus,
sondern ein Kontinuum: Am Anfang erscheint das vorbegriffliche Wissen als
Ahnen, Fühlen, Können, In-der-Welt-Sein usw., während die Erarbeitung des
Begriffs erst (idealiter) am Schluss dieses Prozesses steht.
Wort und Begriff »Bewegung« in der Alltagssprache
Eigenbewegung ist der zentrale Begriff in dieser Arbeit. Warum
dieser schwerfällig wirkende Ausdruck? Warum nicht einfach Bewegung? Wie
verhält sich Eigenbewegung zur Bewegung?
Wer über ein Auto verfügt, sei beweglich – sagt man. Damit ist
gemeint, problemlos von Ort A zu Ort B zu gelangen. Sieht man sich jedoch
genauer diese Art der Beweglichkeit an, wird deutlich, dass das
Sich-Bewegende nicht der Fahrer, sondern das Auto ist. Lediglich das Drehen
des Lenkrades und das Niederdrücken des Gaspedals im Zentimeterbereich sind
vom Fahrer verursacht. Der Fahrer selbst ist nahezu bewegungslos, zumal er
festgeschnallt, festgezurrt an seinem Sitz ist. Er bewegt sich nicht, wie
die Benutzung des reflexiven Verbs hier nahe legt, sondern er wird bewegt.[7]
Es liegt eine passive Form der Bewegung vor.
Eine Information enthält immer einen Unterschied, wobei der
abwesende Gegenpol in der Regel nicht explizit genannt wird, aber für das
Verstehen konstituierend ist. Da Eigen- und Fremdbewegung den Kosmos der
Bewegung vollständig ausfüllen und in einem Entweder-Oder-Verhältnis stehen,
macht es Sinn, nicht nur den Begriff Eigenbewegung allein, sondern beide
Begriffe zu behandeln.
Im sprachlichen Ausdruck geht es um Genauigkeit, denn viel steht
auf dem Spiel. Grammatikalisch gesehen handelt es sich um den gewichtigen
Unterschied zwischen transitiven Verben (etwas bewegen) und reflexiven
Verben (sich bewegen). Transitive Verben beziehen sich auf ein Geschehen,
das auf ein Objekt gerichtet ist und sich an ihm vollzieht (»Ich bewege den
Hebel«). Das durch reflexive Verben (»Ich bewege mich«) gekennzeichnete
Geschehen zielt nicht auf ein Wesen oder Ding außerhalb des Subjekts, wie
sonst bei einem Akkusativobjekt, sondern wendet sich durch das
Reflexivpronomen zum Subjekt zurück. Genau in diesen Unterschied verankere
ich die Begriffe »Eigenbewegung« und »Fremdbewegung«. Eigenbewegung meint
hier »sich bewegen« und zwar aus der Binnenperspektive, d. h. aus der
Ersten-Person-Singular-Position als ganzheitliches Phänomen (»Ich bewege
mich, d. h. ich gehe von A nach B«) und nicht um eine Eigenbewegung aus der
Fremdperspektive (»Jemand sieht, dass ich von A nach B gehe«). Natürlich
kann der Beobachter versuchen, die aus seiner Perspektive sich vollziehende
Fremdbewegung in einem zweiten geistigen Schritt als Eigenbewegung des
Anderen zu bestimmen. Aber diese Perspektive ist nicht gemeint und wird
nicht weiter verfolgt. Es geht also um die Übereinstimmung von Sprache und
Realität: Wenn ich im Auto sitze und sage »Ich bewege mich«, ist das ein
performativer Widerspruch.
So könnte man z. B. »Ich bin beweglich« der
Eigenbewegung, dagegen »Ich bin mobil« der Fremdbewegung zuordnen. Warum ist
dieser sprachliche Unterschied so wichtig? Weil er mehr als ein sprachlicher
Unterschied ist. Er ermöglicht, Begriffe wie humanes Leben, Verdinglichung,
Entfremdung, Mechanisierung, instrumentelle Vernunft, Zivilisationskritik,
Leib, Gebrauchswert aus einer konkreten Perspektive heraus zu thematisieren,
zu bedenken und daraus Folgerungen für das Handeln zu ziehen.[8]
Wichtig ist also, die Wörter und Begriffe[9]
»Eigenbewegung« und »Fremdbewegung« in den Sprachgebrauch aufzunehmen und
möglichst genau anzuwenden. Wie schwierig das werden kann, sieht man
besonders deutlich an dem Verb »fahren«, das sich ursprünglich auf
Eigenbewegung bezog (die fahrenden Studenten sind eben nicht mit der Kutsche
gefahren, wie der Ausdruck nahe legt) und heute, bis auf das Fahrradfahren,
ausschließlich Fremdbewegung meint. Viel wäre gewonnen, wenn man für die
Fremdbewegung nicht mehr die reflexive, sondern die passive Form verwände:
Ich bewege mich von A nach B, aber: Ich werde von A nach B bewegt.
»Omnis determinatio est negatio«
Mit »Jede Bestimmung ist auch ein Ausschluss«
könnte man diesen Satz des Philosophen Spinoza übersetzen. Unter diesem
harten Gesetz steht jede sprachliche Äußerung, sei es ein Satz, ein Aufsatz
oder ein Buch. Die »anderen« großen Probleme unserer Zeit wie Kriege und
Armut gehören gewissermaßen anderen Systemen an, die vielleicht nur indirekt
und sicherlich in geringerem, zumindest nicht unmittelbarem Maße[10]
mit dem hier im Mittelpunkt stehenden Problem des Individualverkehrs zu tun
haben. Aber es wäre unmoralisch, auf die Verbesserung eines Teilgebietes zu
verzichten, weil man das Ganze (momentan?) nicht ändern kann.
1.
Theorie des Fußes und des Weges
Fuß und Weg
bilden eine Einheit, die sehr schwer zu bestimmen ist. Ist die Einheit nur
dann vorhanden, wenn einer oder beide Füße den Grund berühren? Dann wäre
beim Stehen die Einheit zeitlich eine längere, beim stetigen Gehen eine sehr
kurze. Welche Rolle spielt die auf den Weg gerichtete Aufmerksamkeit oder
sind unbewusst ablaufende Prozesse das Entscheidende? Um diese und ähnliche
Fragen besser beantworten zu können, wenden wir uns im Folgenden zuerst dem
Subjektpol zu, wohl wissend, dass mit dieser Trennung Erkenntnisgewinne,
aber auch -verluste verbunden sind.
1.1 Der
Subjektpol »Mensch«
Man
unterscheidet beim menschlichen Gewebe zwischen Deck-, Binde-, Muskel- und
Nervengewebe. Insbesondere Muskel- und Nervengewebe sind für die Aneignung
von Welt konstituierend. Das Nervengewebe ermöglicht Vernunft, Verstand,
Gedächtnis, Gefühl, sinnliche Wahrnehmung und Wollen, kurz: Orientierung.
Das Muskelgewebe ermöglicht interne und externe Körperbewegungen und
Ortsveränderungen.
Muskelgewebe
und Nervengewebe
In welchem
Verhältnis stehen das Nerven- und Muskelsystem zueinander? Auf der Ebene der
Zellen lassen sich beide Systeme, die durch einen Hiatus, einen
unüberwindbaren Graben getrennt sind, eindeutig unterscheiden. Zwischen
ihnen gibt es keine substanzielle, aber eine funktionale Einheit durch
wechselseitige Beeinflussungen und Bestimmungen. Denn der Organismus ist
auf eine gelingende Zusammenarbeit beider Systeme existenziell angewiesen –
zumindest auf minimaler Ebene: Selbst der Fußballstürmer (hier Betonung auf
Muskeln) muss wissen, welche Funktion ein Tor hat und wo es steht, selbst
der Philosoph (hier Betonung auf Nerven) muss zumindest seine Augen bewegen
und die Seiten des Buches umschlagen bzw. die Knöpfe seines Computers
bedienen.
Jakob von Uexküll mit dem Funktionskreis und
Viktor von Weizsäcker mit dem Gestaltkreis haben die empirischen und
theoretischen Grundlagen für die existenzielle, genauer, funktionale Einheit
von Wahrnehmung (Nerven) und Bewegung (Muskeln) in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts gelegt:
Wahrnehmung
ist auf Bewegung und umgekehrt Bewegung auf Wahrnehmung angewiesen. Als
vereinfachtes Bild: Die Muskeln »tragen« die Nerven, die Nerven »verstehen«
die Muskeln[11].
Jeweils auf sich allein gestellt, vermögen sie bezüglich der Erkenntnis
nichts auszurichten. Betrachten wir deswegen zuerst die visuelle
Wahrnehmung, deren Organ das Auge ist.
Ein mit
Apparaturen künstlich festgestelltes Auge kann keine Objekte wahrnehmen,
mögen sie bewegt oder bewegungslos sein. Daraus folgt, dass bereits
muskuläre Bewegungen am Auge Bedingung für Informationsgewinn auf Basis von
Wahrnehmung und Erkennen sind. Eine Information beruht bekanntlich auf einer
doppelten Unterscheidung: Zum einen macht das Subjekt den Unterschied auf
Grundlage seiner Einheit von Wahrnehmung und Eigenbewegung, zum anderen muss
der wahrgenommene Unterschied bereits in der Umwelt vorhanden sein bzw.
durch Werdensprozesse entstehen wie »Jetzt ist mein Hund im Garten, vorher
war er im Zimmer« oder »Heute sehe ich (leider) anders aus als vor zwanzig
Jahren.«[12]
Umgekehrt führt die reine Bewegung ohne Wahrnehmung trivialer Weise
ebenso zu keinerlei Erkenntnissen. Aber Formulierungen wie »Die Muskeln
›tragen‹ die Nerven, die Nerven ›verstehen‹ die Muskeln« suggerieren
Sicherheit, die bei weitem noch nicht erreicht ist. Warum? Weil hier das
philosophische Rätsel schlechthin, die Frage nach dem Übergang vom Sein zum
Bewusstsein, in scheinbarer Sicherheit beschrieben wird.[13]
Trotzdem macht es Sinn, sich noch einmal der physiologischen Dimension
dieses Rätsels zu nähern:
Bei der Bestimmung des Übergangs vom Sein zum
Bewusstsein sind zwei Schnittflächen (zwei Interaktionsräume) besonders
interessant: a) die zwischen materieller Umwelt und Muskeln und b) die
zwischen Muskeln und Nerven. Die Prozesse an der ersten Schnittfläche kann
man analog der Prägungen beschreiben und damit auch ein Stück erklären: Die
jeweilige physische Umwelt prägt die Muskeln und zwar im Verhältnis 1:1,
aber in verschiedenen »Sprachen«. Bei der zweiten Schnittfläche funktioniert
das Prägemodell nicht mehr, man kann bestenfalls nur noch beschreiben. Das
bedeutet, dass der Übergang vom Sein zum Bewusstsein nicht hinlänglich
erklärt wird: An den Muskeln befinden sich direkt der Tastsinn, der innere
Bewegungssinn (Kinästhetik) und gegebenenfalls der Gleichgewichtssinn. Die
jeweils muskulär erfahrene Umwelt wird von diesen Sinnen »aufgenommen« und –
wie auch immer – mit Hilfe zusätzlicher neuronaler Systeme zu Informationen
verarbeitet. Hier findet also im Kern der immer noch geheimnisvolle Übergang
vom Sein zum Bewusstsein statt und zwar – das ist sehr wichtig –
wechselseitig: Die über die Muskeln vermittelte »Welt« wirkt auf das
Nervensystem wie umgekehrt das Nervensystem auf die Rezeption der Welt, die
wiederum das Handeln in der realen Welt verändert.
Übrigens sei hier noch darauf hingewiesen, dass
in den Begriffen »Bewegung« und »Wahrnehmung« – wie der Leser aus den
vorangegangenen Formulierungen erschließen kann – eine implizite Wertung
durch die Sprache vorliegt: Während das Wort »Wahrnehmung« ohne die
Erwähnung der Bewegung, obwohl immer vorhanden, problemlos auskommt, muss
der Sprecher bei der Bewegung das jeweils Wahrgenommene gesondert
ausdrücken. Diese Benachteiligung der Bewegung ist unbegründet, denn
Wahrnehmung und Bewegung sind gleichwertig, insbesondere, wenn man
hinzunimmt, dass die Bewegung nicht nur Einfluss auf die Wahrnehmung,
sondern auch auf andere psychische Funktionen wie Denken, Erinnern, Wollen
und Gefühle hat.
Dass zwischen
Geist und sich bewegendem Körper eine intensive und starke »Zusammenarbeit«
bestehen muss, zeigen, neben den oben erwähnten Forschern, insbesondere die
Ergebnisse der Kognitionspsychologie, Entwicklungspsychologie und
Deprivationstheorie, aber auch die Philosophien Schopenhauers und Nietzsches
sowie die Pädagogiken von Kükelhaus und Rumpf. In diesen Arbeiten wird
besonders deutlich: Der sich bewegende und wahrnehmende Körper ist
fundamental ein Erkenntnisorgan über die Welt und sich selbst. Denn
zur Bewegungsausführung (Muskeln) muss man Wissen und Ziele (Nerven) haben,
und bei der Ausführung erfährt man etwas über die Umwelt und über sich
selbst (z. B. das Gefühl der Behändigkeit oder Müdigkeit).
Eigenbewegung
ist somit ein Selbsterzeugungsorgan im umfassenden Sinne. Motor dieses
Prozesses ist der Wille, der je nach Situation mehr oder weniger stark
ausgeprägt ist und entsprechend als schwach oder stark vom Handelnden selbst
wahrgenommen wird. Bezüglich des Willens gibt es keine Fremdhilfe oder
technische Hilfsmittel. Selbsttäuschung ist nicht möglich – falls ein
Minimum an Selbstkritik vorhanden ist. Eigenbewegung ist also, sei sie
erfolgreich oder nicht, auch Willensbildung und Willenstraining in
elementarster Form und Basis für alle anderen Willensleistungen. Das gilt
für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Erwachsene bis ins hohe Alter.
Es gibt leider
viele Befunde, die belegen, dass in der Gegenwart in Praxis und Theorie die
weltaufbauende Funktion der Muskeln sträflich vernachlässigt wird. Das soll
hier ein Stück aufgearbeitet werden. Deswegen steht die muskuläre Dimension
des Menschen im Mittelpunkt – aber nicht, weil dieses Gewebesystem an sich
das wichtigste ist, denn aus funktionaler Sicht sind alle physischen und
psychischen Faktoren gleichwertig im Prozess der inneren und äußeren
Bewegung. Aus dieser hohen Wertschätzung der heute so vernachlässigten
Eigenbewegung heraus ergibt sich gleichzeitig die hier eingenommene
kritische Haltung dem Auto und Fernsehen gegenüber, natürlich nicht an sich,
sondern in ihren missbrauchten Formen, was später noch ausführlich begründet
wird. Der Haupteinwand sei aber bereits hier formuliert: Die
wirkungsmächtige Botschaft des Autos und übrigens auch des Fernsehens
lautet: Du bekommst von uns alles, vom Auto die Überwindung von
Distanzen, vom Fernsehen Weltaneignung ohne jegliche Anstrengung, also die
Rückkehr ins Paradies. Bei genauerer, kritischer Analyse erweist sich das
Versprochene als Täuschung, die Welt und Eigenerfahrungen werden durch
fremdproduzierten Schein »getauscht«, d. h. ersetzt. Der Mensch wächst nicht
mehr an Wirklichkeit[14]
und verkümmert.
Aneignung von Welt über Eigenbewegung, Fremdbewegung,
Bild und Begriff
Die muskulären Erfahrungen müssen von
nicht-muskulären Aneignungen unterschieden werden. Letztere vermitteln reale
Welt als reduzierte visuelle Erfahrungen oder als Bilder oder als Zeichen.
Konkret: Ich sehe die Wiese aus dem fahrenden Auto heraus oder als Foto oder
höre das Wort »Wiese«. Muskuläre Erfahrung wäre: Ich gehe über die Wiese.
Diese Differenz zwischen muskulärer Erfahrung und nicht-muskulärer Aneignung
wird auf Druck mächtiger gesellschaftlicher Prozesse im Bewusstsein
zunehmend verdrängt oder nicht mehr als entscheidend wichtig genommen. Und
das ist ein Verlust, der im Interesse vom Menschen und Menschlichkeit nicht
hingenommen werden darf. Denn was ist das für ein Mensch, dessen
materiell-muskuläres Selbst- und Weltwissen sich auf Sitz- und Liegeflächen
sowie auf Knopfdruckerfahrungen reduziert?
Zwei verschiedene Kulturen: die muskuläre und
die neuronale
Trotz der
lebenserhaltenden und damit notwendigen Zusammenarbeit von Muskelsystem und
Nervensystem, die eine funktionale Einheit bilden, ja bilden müssen,
behaupte ich, dass beide Gewebe idealtypisch in Theorie und Praxis zwei
verschiedene Lebensorientierungen, ja Kulturen hervorgebracht haben: eine
neuronal und eine muskulär orientierte Kultur. Das heißt, der
physiologische Befund wird in ihnen verabsolutiert unter Vernachlässigung
der funktionalen Prozesse. Es handelt sich letztlich um zwei inhumane
Ideologien, weil der Mensch entweder auf Körper oder (im exklusiven Sinne)
auf Geist reduziert wird.
Es geht aber
um ein Gleichgewicht innerhalb der Einheit. Diese Einheit hat sicherlich als
Basis eine residuale Instinktausstattung. Außerhalb von ihr besteht kein
naturwüchsiges, prästabilisiertes Gleichgewicht. Das Neugeborene verfügt
zwar über diese Instinktausstattung, muss aber von dieser Basis aus über
Lernen beide Systeme stark machen, zu einer Einheit zusammenführen und in
ein Gleichgewicht bringen. Das ist eine Aufgabe, die sehr vieler Mühen
bedarf, immer von Fragilität bedroht ist und nie vollendet werden kann.
Dass dieses Gleichgewicht nicht angestrebt,
sondern schlicht ausgeblendet wird, kann man in sehr vielen Bereichen
aufzeigen. So auch in der traditionellen Erkenntnistheorie. Kants
vielzitiertes Diktum »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne
Begriffe sind blind« thematisiert nur das neuronale System (so auch Schule
und Universitäten). Die Aufklärung kann nicht systematisch die Bewegung
denken und in ihr System integrieren, weil sie das neuronale System
verabsolutiert. Implizit, also ungesagt, enthalten die Anschauungen
sicherlich Bewegungen des erkennenden Subjekts und der wahrgenommenen
Objekte, aber Analyse und Bestimmung hören mit der sinnlichen Phase auf.
Dazu der berühmte Einleitungssatz aus der »Kritik der reinen Vernunft«:
Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung
anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das
Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht
durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst
Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung
bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den
rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu
verarbeiten, die Erfahrung heißt?[15]
Wie die Aufklärung den konstitutiven Anteil der
Muskeln bei der Entstehung der Erfahrung aus der Theorie ausblendet, so hat
der Sport als Beispiel einer muskulär orientierten Kultur kein Interesse
(Interesse ist genuin geistig) an der natürlichen, kulturellen und sozialen
Umwelt.[16]
Sein Interesse wird ausschließlich nach Innen gerichtet im Sinne von »Wie
kann ich meine körperlichen Leistungen verbessern«.
Die Beziehung des Sports zur Umwelt kann man gut
mit den Begriffen Assimilation und Akkommodation aus der Theorie Piagets,
die den Geist aus dem Handeln ableitet, erklären. Was ist mit diesen
Begriffen gemeint? Akkommodation besteht aus der Schaffung neuer Begriffe,
während Assimilation Auffüllung dieser Begriffe bedeutet. Wenn ein Kleinkind
für alle größeren vierbeinigen Haustiere den Begriff »Hund« benutzt, wird es
eines Tages gezwungen sein, einen zweiten Begriff »Katze« aufzubauen
(Akkommodation) und jeweils mit verschiedenen Katzen und Hunden zu füllen
(Assimilation). Nach diesem Prinzip verläuft der gesamte Bildungsprozess:
Neue Begriffe bilden und diese mit Inhalten füllen, wobei es auch hier
wieder auf ein Gleichgewicht zwischen beiden Prozessen ankommt.
Der Sport hat zur Umwelt – wie oben behauptet –
in der Regel ein Verhältnis der Assimilation, das heißt, die Umwelt muss
bekannt und berechenbar sein, so dass sie mühelos in die Bewegungsabläufe
integriert werden kann. Sonderformen des Sports wie Querfeldeinrennen,
Wildwasserfahrten, Bergtouren mit Mountain-Bikes usw. müssen eine sehr
differenzierte Umwelt berücksichtigen, sich ihr anpassen (Akkommodation).
Aber diese Anpassung gilt nicht dem Kennenlernen der Umwelt als Selbst- und
Bildungszweck, sondern dient primär der Weiterentwicklung der körperlichen
Fähigkeiten, ist gewissermaßen eine sekundäre Assimilation. Gleiches lässt
sich mit Abweichungen auch über Nordic-Walking, Fahrradrennen, Marathonlauf
sagen.
Freiheit und Subjektivität
Das Wesen des Subjekts ist Freiheit. Um eventuellen Missverständnissen
vorzubeugen, sei vorweg deutlich gemacht: In jeder lebendigen Eigenbewegung
ist auch Mechanisches, in der Fremdbewegung jedoch nur
Mechanisches, mechanisch verstanden als determinierte Abläufe. Der Dualismus
Leben versus Mechanik ist falsch. Leben enthält immer Momente der Freiheit
und der Determination.
Jede Eigenbewegung ist eine Bewegung, aber nicht
jede Bewegung eine Eigenbewegung. Aus physikalisch-mechanischer Sicht macht
der Begriff »Eigenbewegung« keinen Sinn, wenn man Newtons Auffassung zur
Grundlage nimmt: »Jeder Körper beharrt im Zustande der Ruhe oder der
geradlinigen, gleichförmigen Bewegung, wenn nicht eine Kraft auf ihn
einwirkt«. Das ist eine relativ neue Auffassung, die sich erst mit dem hier
zitierten Trägheitsgesetz von Newton durchgesetzt hat. Er macht Schluss mit
der aristotelischen Auffassung, dass jedes Ding sein telos, seine innere
Zielbestimmung habe, das seine Bewegungen im weitesten Sinne steuere.
Autonome Bewegungen, Eigenbewegungen kann man also seit Newton nicht mehr
systematisch denken. Allerdings bezieht er sich nur auf physische Dinge.
Es hat danach
nicht lange gedauert, bis wirkungsmächtige Theorien im Anschluss an
Newton diesen Paradigmawechsel auch auf den Menschen selbst ausdehnten. Die
»einwirkende Kraft« ist nun nach Darwin die Evolution, nach Marx die
Gesellschaft, nach Freud und Jung das Unbewusste, bei Vertretern der
Neurobiologie das Gehirn. Grundtenor: Das Subjekt ist überflüssig. Diese
Denker interpretieren die Autonomie und damit die Freiheit des Menschen
letztlich als idealistisches Konstrukt. Alle Bewegungen sind somit
physikalisch gesehen Fremdbewegungen. Das kann in Zusammenhang mit der
Eigenbewegung nicht ignoriert werden, denn alle Bewegungssysteme, ob Mensch
oder Maschine, sind auf Energien von außen angewiesen. Geht man aber von dem
bereits beschriebenen Gegensatz von externer und metabolischer Energie (Kap.
1.1) aus, ist die Unterscheidung von Eigen- und Fremdbewegung von großer
Bedeutung. Zudem stellt sich, außer der Frage nach dem Antriebssystem, auch
die nach dem Steuerungssystem: Maschinen, auch kybernetische, werden
letztlich immer nur von Menschen bedient. Wenn das bereits zitierte
Newtonsche Trägheitsgesetz nicht auch noch auf Gehirn- und
Bewusstseinsprozesse ausgedehnt wird, ergibt sich die Frage nach dem
Ursprung der angestrebten Werte im Steuerungssystem und die Art und Weise
ihrer Realisation. Geht man nicht ausschließlich von determinierten
Prozessen aus, eröffnen sich Raum und Möglichkeiten der Freiheit. Daraus
folgt: In der Eigenbewegung ist Freiheit als Ganzes in nennenswertem Umfang
realisierbar.
Natürlich ist,
wie gesagt, das Drehen des Steuerrades und die Bedienung der Pedale im Auto
Eigenbewegung, aber damit hört sie – und die Freiheit (!) – auf, denn alles
Folgende sind Fremdbewegungen. Das Gehen dagegen umfasst als Eigenbewegung
wesentlich mehr Möglichkeiten der Freiheit sowohl in der Entscheidung als
auch in der Ausführung. Konkret-mögliche Freiheitsgrade beim Fußgänger
wären: Er kann, wenn nicht Besitzverhältnisse oder unüberwindliche
Hindernisse dagegen stehen, praktisch überall hingehen, sei es auf
vorhandenen oder neu zu bahnenden Wegen. Er kann seinen Blick rundherum
schweifen lassen, all seine Sinne aktivieren, hoch- und runterspringen,
stehen bleiben, solange er will, mit Bekannten und Fremden sprechen, ja
interagieren, wie Hände schütteln oder umarmen, Zufälle aufgreifen und
nutzen, Spontaneität leben – wenn man will, wie ein Kind. Man kann flüchtig
oder intensiv das architektonisch gelungene Gebäude betrachten, an der
aufgebrochenen Knospe des Tulpenbaumes riechen, etwas verstohlen das schöne
Gesicht eines entgegenkommenden Menschen genießen, das Gesicht in den
stürmischen Wind halten und die zwei sich heftig prügelnden Jungen
auseinanderbringen. Kurz: Mit dem Reichtum der vor einem liegenden Welt in
Kontakt kommen, sei er geplant – oder noch schöner, durch Zufall.
Die hier
vertretene Position akzeptiert nicht die unreflektierte und damit nicht
modifizierte Übernahme naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf lebendige
Prozesse und insbesondere auf menschliches Denken und Handeln. Sie
betrachtet reflexive Verben nicht als Ursache einer Verhexung des Denkens
durch Sprache, sondern als Beschreibung von Wirklichkeit. Der Mensch ist
(nicht »hat«) Freiheit. Diese Einsicht hat es allerdings schwer: Entweder
wird sie, wie von der Neurobiologie, bestritten oder auf Wahlfreiheiten in
technischen und konsumentischen Bereichen beschränkt. Das führt zu allgemein
geteilten Grundüberzeugungen wie: »Gegen den Individualverkehr und den damit
zusammenhängenden Lärm und Luftverschmutzung kann man nichts machen – das
ist nun mal so«. Die wegräsonierte Freiheit verhindert somit Veränderungen,
die nicht in den wortwörtlich zu nehmenden vorherrschenden Gesamttrend
passen. Leider wird das nicht erkannt, weil dieser Trend scheinbar ohne
menschliche Subjekte daherkommt.
Bewegungen im Spannungsfeld von Determination und Freiheit
Die sicherlich offene, aber nichtsdestoweniger
entscheidende Frage besteht nun darin, in welchem Modus Bewegungen
stattfinden: Sind sie im Universum und in der Natur determiniert? Sind
selbst die geistigen Bewegungen des Menschen festgelegt oder gibt es in all
diesen Prozessen auch Momente der Freiheit – oder gibt es sie gar nicht, ist
Freiheit eine Fiktion?
All diese Fragen sollen hier allein in Bezug auf
die Bewegungen des Menschen hin betrachtet werden.[17]
Mechanik und Leben gehören verschiedenen Abstraktionsebenen an: Leben ist
der Oberbegriff, der sowohl Momente der Determination als auch der Freiheit
umfasst. Genauer: Mechanik, Determination, Algorithmus, Maschine folgen
eindeutig und ausschließlich nur dem kausalen Prinzip. Kausalität findet man
aber auch in Lebensprozessen. Im Handlungsbegriff wird diese wechselseitige
Bedingung sehr deutlich: Als Naturwesen und Gesellschaftsmitglieder sind wir
immer in Kausalketten eingebettet, sind aber in der Lage, sie kurzfristigst
zu verlassen und gegen andere einzutauschen bzw. diese zu verändern.
Das entscheidende Merkmal des Leben ist die
Fähigkeit, determinierte, kausal bestimmte Abläufe durch freiheitliches
Denken, Fühlen und Wollen neu zu bestimmen und eventuell durch Handeln zu
verändern – aber dieses nicht zu müssen. In einem Bild: Freiheit entspricht
dem Eisenbahnwaggon, der auf einer Drehscheibe steht, um in kürzester Zeit
auf eine neue Schienenspur gesetzt zu werden. Freiheit ist nicht in dieser
Welt (extramundan), vermag aber durch und über den menschlichen Geist und
daraus entstehendes Handeln in der Welt zu wirken. Deshalb sind übrigens die
positiven Wissenschaften prinzipiell nicht in der Lage, Freiheit oder gar
ihr Wesen begrifflich einzufangen und zu beschreiben.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass
Freiheit in ihrer Wirkdimension immer eine gebundene ist. Freiheit
durchbricht Determination und Kausalketten, findet aber sofort wieder neue,
andere Determination und Kausalketten vor. Sie kann sich nur in Raum und
Zeit verwirklichen. Das Bedenken der Freiheit an sich darf nicht den Blick
auf die bestehenden, oft auch bescheidenen Freiheitsmöglichkeiten
verstellen. Ohne die Anerkennung von Determination und Kausalketten wären
wir Menschen nicht zur Selbsterhaltung fähig. Der Bauer muss sich darauf
verlassen, dass mit Sicherheit aus dem Erbsensamen eine Erbenspflanze wird,
der Autofahrer, dass der Motor seines Fahrzeugs anspringt, der Fußgänger,
dass das Auto an der Ampel bei Rot hält, der Kapellmeister, dass die Geigen
beim Auftakt zu spielen beginnen. Diese und andere Kausalitäten sind das
Fundament unseres Denkens und Handelns. Der Mensch kann mechanisch denken
und handeln, die Maschine muss es. Diesen Unterschied dürfen wir nicht
vergessen.
Es wäre unlogisch und inhaltlich Unsinn, das
mechanische Denken und Handeln und seine Objektivationen in Form von
Maschinen grundsätzlich im Namen des Lebens abzulehnen – wie es z. B. in der
Lebensbewegung um 1900 massiv theoretisch und praktisch vertreten wurde.
Freiheitsgrade
Probleme entstehen, wenn Freiheit nur auf triviale Felder angewendet
wird und man sich in Situationen begibt, wo Freiheit nicht mehr realisiert
werden kann, diese aber als Freiheit bestimmt. Wer beispielsweise im
Flugzeug sitzt, kann nicht »Anhalten« fordern. Dieses extreme Beispiel zeigt
deutlich, dass es bei der Thematik der Bewegung darauf ankommt, die realen
Freiheitsgrade der Bewegung genau zu bestimmen.
Freiheitsgrade gibt es im Flugzeug und Auto im Makro- und Mikrobereich
praktisch nicht, im Zug nur im Mikrobereich, während sie beim Fahrradfahren
und insbesondere beim Gehen im Makro- und Mikrobereich relativ groß sind. In
allen geschilderten Situationen geht es nicht um ein Verhältnis des
Entweder-Oder, sondern um qualitative und quantitative Unterschiede.
Das Problem ist nicht die Mechanik oder die
Technik selbst, sondern deren sinnvolle Herstellung oder Nichtherstellung,
deren sinnvolle Nutzung, aber auch Nichtnutzung. Wir können Atomkraftwerke
bauen oder nicht bauen bzw. ausstellen, wir können uns ins Auto setzen oder
es in der Garage stehen lassen.
Die Nichtnutzung vorhandener Technologien gilt in
unserer Gesellschaft aber als töricht, hinterwäldlerisch, ja fast als
naturwidrig. Moderne heißt doch im Wesentlichen, auf dem neuesten Stand der
Technik zu sein und sie zu nutzen. Diesen Reflexionsunwillen oder diese
Reflexionsunfähigkeit finden wir vor und nach Nutzung
bestimmter Techniken: Wir setzen sie ein und wissen nicht (wollen es oft gar
nicht wissen), auf welchen Voraussetzungen sie beruhen und wie sie
funktionieren, was sie über das bewusste Ziel hinaus bewirken – bezogen auf
die Umwelt und auf den Anwender selbst. Ihre Nutzung findet im Blindflug
statt. Ihr Wert besteht in der reinen Funktion und ist ideologischen
Vereinnahmungen wehrlos ausgesetzt.
1.2
Der Objektpol »Weg«
Bevor wir uns
dem Objektpol »Weg« zuwenden, sei vorwegnehmend ein kurzer Blick auf die
Fremdbewegung geworfen. Der entscheidende Unterschied zwischen Eigenbewegung
und Fremdbewegung besteht darin, dass in der Fremdbewegung die muskuläre
Tätigkeit minimiert wird. So scheint es, um bei unserem Beispiel »Auto« zu
bleiben, dass dessen Entwicklungslogik gerade darin besteht, möglichst viele
muskuläre Tätigkeiten durch technische Apparaturen zu ersetzen. Das reicht
vom automatischen Fensterschließen bis zu Navigationssystemen.
Die
gegenwärtig dominierende Aneignung von Welt ohne muskuläre Tätigkeit stellt
eine große Gefahr dar – bis hin zur möglichen Abschaffung des Menschen im
Sinne bisheriger Menschenbilder[18].
Der Mensch wird antiquiert.[19]
Es kann also gar nicht intensiv genug betont werden: Beim Gehen und beim
Autofahren entstehen zwei verschiedene »Welten« und zwei verschiedene
»Menschen«: Im Auto haben die Fahrenden, von reduzierten visuellen
Außenkontakten abgesehen, nur Kontakt mit der Autoinnenwelt. Das Auto hat
mit der Umwelt lediglich substanziellen Kontakt über vier dynamische Punkte,
d. h. mit den vier Rädern, die in der Drehung den Untergrund berühren. Für
die Autoinsassen entsteht insbesondere kein taktiler Kontakt mit der
Außenwelt – der ersten und tiefsten unverzichtbaren Grundlegung jeglicher
Bewegung. Der daraus resultierende Verlust besteht in zweierlei: Der Mensch
verliert sich selbst, und er verliert Welterfahrung.
Wenden wir uns
jetzt näher der Umwelt des Sich-Bewegenden zu. Mensch und Umwelt bilden
immer eine sich wechselseitig konstituierende Einheit, die faktisch nicht
getrennt werden kann, so dass in der einseitig verabsolutierten Darstellung
der Umwelt strukturelle »Fehler« unvermeidbar sind. Aber gerade die
Auseinandersetzung mit dem Objektpol und der Eigenbewegung ist von
entscheidender Bedeutung in dem hier zugrundegelegten Ansatz. Denn in der
Umwelt und in der Umwelt der Umwelt, also in der Welt, ist Bildung
eingelagert. Warum? Bewegung als Ortsveränderung nimmt bestehende Wege in
der Welt in Anspruch bzw. bahnt sich neue, um einen Zielort zu erreichen.
Aber nicht nur das Ziel, sondern der Weg selbst ist bereits Kontakt mit der
ihn umgebenden Umwelt – im Weg liegen Bildungsmöglichkeiten. Es wäre
erzeugte Dummheit, Wege nur als zu überwindende anzusehen.
Der Weg muss
hier im weitesten Sinne als die Umwelt der Bewegung verstanden werden. Die
Ausdehnung des Weges beschränkt sich nicht auf seinen materiellen
Untergrund. Er meint auch, was auf und an dem Weg ist, wobei das »an« weit
in den Tiefenraum gehen kann bis hin zum Horizont. Er umfasst Steigungen,
Untergründe, Menschen, Autos, Gebäude, Tiere, Pflanzen, Regen, Sonne, Wind,
Gerüche, Geräusche und spezifische Atmosphären wie eine Stimmung am frühen
Sonntagmorgen in der Allee, also Phänomene, die man als halbobjektiv
auffassen kann. Und an diesen Dingen »kleben« Bedeutungen, also individuelle
und kollektive Geschichte, Assoziationen, Werte, Wünsche usw. In
metaphysische Dimensionen gelangt man, wenn man materiellen Untergrund und
Nichtmaterielles weiter hinterfragt. Der Weg ist also nicht linear, nicht
zweidimensional, sondern zumindest dreidimensional, ja mehrdimensional, wenn
man Zeit, Leben und Metaphysik hinzunimmt. Die Vielfalt ist unermesslich.
Das Spektrum reicht von Trampelpfaden bis zu Autobahnen, von bestehenden zu
neu zu bahnenden, von bekannten zu unbekannten, von reizvollen zu reizarmen,
von schwierigen zu leicht begehbaren, von aufsteigenden zu absteigenden
Wegen, mit und ohne Menschen, mit verschiedenen Natur-, Kultur- und
Sozialanteilen, und zusätzlich sind verschiedene funktionale, ästhetische
und soziale subjektive Zielsetzungen und Zustände vorhanden.
Bereits hier
kann man deutlich erkennen, dass eine objektive Bestimmung des Weges nicht
möglich ist. Gehört der am Weg angrenzende Vorgarten oder das Haus oder gar
der dahinterliegende Wald einschließlich der Sage, die sich hier abgespielt
haben soll, noch zum Weg?
Auch wenn der Weg interessant im Sinne von Vielfalt und
Vieldimensionalität ist, ist das nur eine notwendige, aber nicht
hinreichende Bedingung für eine entsprechende Begegnung und für Erlebnisse:
Hinzukommen muss ein seelisch-geistiges Gerichtetsein auf diesen Weg, was
eine gelöste Offenheit erfordert für das, was mir da auf dem Weg begegnet
bis hin zu einer Hinwendung zu diesem Gegenstand oder jenem Menschen.
Interessantes hat immer eine subjektive und objektive Dimension. Der
jeweilige Weg ist also subjektiv-objektiv, denn was zwischen Horizont und
Sich-Bewegendem als Weg erscheint, ist aktive Aneignung oder passives
Bestimmtwerden, was natürlich von Situation zu Situation, von Mensch zu
Mensch, von Stimmung zu Stimmung abhängt. Damit wird die Bewertung zumindest
sehr schwierig,[20]
welche Straße beispielsweise als monoton einzustufen ist.
Trotz oder gerade wegen dieser grundsätzlichen Schwierigkeiten einer
Bewertung, halte ich es für einen inhumanen Schluss, auf Wertungen zu
verzichten. Es gibt gute Gründe für Werturteile über unsere natürlichen,
sozialen und kulturellen Umwelten, allein deswegen, weil sie uns stark
prägen. Generell nehmen unsere täglichen Umwelten drastisch an Qualität und
in der Vielfalt der Sinnenreize ab. Das bezieht sich nicht nur auf Pflanzen
und Tiere, sondern, bilanziert, auch auf kulturelle Phänomene.[21]
Das oft mehrstündige Fahren im Auto, der tägliche drei- und mehrstündige
Fernsehkonsum, die monofunktionalen Einkaufsmärkte, bilderreiche Zeitungen
sind eben anspruchslos verglichen mit Zugfahrten, fordernder und fördernder
Lektüre, Sinfoniekonzerten, Aufenthalten in lebendigen Stadtteilen mit
historischen und sozial vielfältigen Ausprägungen, die man zu Fuß begeht.
Die zuletzt genannten positiven Beispiele werden oft als reaktionärer Ruf
nach Hochkultur diffamiert. Diesen Vorwurf sollte man nicht blind
nachplappern, denn das Streben nach Hochkultur (als Ideal) und damit nach
Niveau ist eine humane Forderung. Wir leiden nicht an Überforderung, sondern
an Unterforderung.
Da das offene,
interessierte Subjekt und der Weg eine nicht aufhebbare existenzielle
Einheit bilden, die bewusst, aber zumindest auch in Teilen vor- und
unbewusst ist, ist die Frage nach der Qualität des Weges für den Menschen
von höchster Bedeutung.
Den Reizen des
Weges aus dem Weg zu gehen und andererseits reizlose Wege, von allen
»Hindernissen« gereinigte Strecken zu schaffen, ist unverantwortliche
Zweckrationalität – ein Vergehen wider die menschlichen Möglichkeiten. Das
individuelle und kollektive Interesse muss sich wieder den Werten und
Reichtümern des Weges zuwenden.
Das Wort »bewegen« ist etymologisch enthalten: im
»Weg«, aber auch in »weg« im Sinne von »sich entfernen«, weiter in »wägen«
in der Bedeutung von »abwägen«, um sich zu »entschließen«, in der
Präposition »wegen« mit dem Moment der Begründung und selbst im
Pflanzennamen »Wegerich«. Diese Reichweite vom Weg als Hin- und Wegführung
bis hin zu geistigen Funktionen muss als Ausdruck der existenziellen großen
Bedeutung des Sichbewegens als aktiver Tätigkeit eines Subjekts gedeutet
werden, zumal, wenn man die Nutzung des Wortes als Metapher »Der Weg des
Lebens« hinzunimmt. An dieser Breite wird deutlich, dass äußerer Weg und
innere Bewegung eine unauflösbare dynamische Einheit bilden,[22]
»dynamisch«, weil Bewegung der Modus des Werdens ist. Die Eigenbewegung
verändert sich qualitativ und quantitativ in der Zeit, sie ist Veränderung
in der Veränderung. Aber trotz aller Veränderung enthält sie auch Sein,
Kontakt, Verbindung. Das erklärt übrigens auch, dass Beschreiben und Denken
diese Komplexität und Dynamik nur sehr grob und unvollständig wiedergeben
können.
Was ist, wenn es für ein bestimmtes Ziel noch
keinen Weg gibt, so dass man diesen erst bahnen muss? Menschen, die neue
Wege bahnen, haben es in der Regel nicht leicht mit den Anderen und oft auch
nicht mit sich selbst, denn Selbstsicherheit wird auch über soziale
Anerkennung konstituiert. Wege sind eine geistig kulturelle Leistung, sie
sind nicht schon immer und ursprünglich vorhanden. Wege erscheinen, wenn
bereits vor langer Zeit gebahnt, oft als naturwüchsig. Diese Auffassung der
Naturwüchsigkeit ist aber falsch und kann gefährlich werden. Viele Wege
entstanden auch erst, als es technisch möglich wurde, sie anzulegen. Längst
nicht alle Wege sind sinnvoll. Wege sind vielfach ambivalent: Sie
ermöglichen Begegnungen – aber auch das Weglaufen in die Metropolen. So
leiden Regionen, Dörfer und Kleinstädte unter dem Staubsaugereffekt von
schnellen Verkehrswegen. Aber nicht nur das, innerhalb von Stadtvierteln und
Dörfern ist ein historisch gewachsenes hochdifferenziertes »Kapillar«-System
von kleinen und kleinsten Pfaden, Wegen und Gängen zugunsten breiter Straßen
aufgegeben worden, da keiner sie mehr beging. Der Bewohner, der nicht mehr
ein Bürger ist, wird zum Verursacher von Destruktionen. Hinzu kommt, dass
Straßenbau auch immer Zerstörung von Wald, Feldern, Feldwegen und Häusern
ist. Durch den Straßenbau wurde in Deutschland mehr Bausubstanz zerstört als
durch den Zweiten Weltkrieg. Wege, die keine Wege sind, sind Fallen:
Da es dem König aber wenig gefiel,
dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen
verlassend,
sich querfeldein herumtrieb,
um sich selbst ein Urteil über die
Welt zu bilden,
schenkte er ihm Wagen und Pferd.
»Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen«,
waren seine Worte.
»Nun darfst du es nicht mehr«,
war sein Sinn.
»Nun kannst du es nicht mehr«,
deren Wirkung.
Günther Anders, »Kindergeschichten«
1.3 Die Struktur der fragilen Einheit »Mensch und Weg«
In diesem
»Synthese-Kapitel« werden die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der
Vermittlung und Vereinheitlichung des bisher getrennt dargestellten
Subjektpols mit dem Objektpol systematisch-entwickelnd dargestellt. Beide
Pole wurden als »Gehen« und »Weg« behandelt.
Vom rein
materiell-physiologischen Standpunkt aus[23]
besteht die Mensch-Welt-Beziehung allein zwischen den Reizen aus der
materiellen Dingwelt (hier der Weg) und dem Gehen (hier das Muskel- und
Nervensystem).[24]
Das klingt einfach, ist es aber nicht, insbesondere wenn es um deren
gemeinsame Beziehung geht.
Problem des
Begriffs »Beziehung«
Der Begriff
»Beziehung« ist höchst theoriegeladen und im Grunde sehr schwer zu
bestimmen. Denn eine genauere Begriffsanalyse zeigt, dass eine Beziehung –
nicht die Pole (!) – ein rein gedankliches Konstrukt ist. Mit empirischen
Mitteln sind Beziehungen nicht einzufangen. Dazu ein konkretes Beispiel:
Wenn Peters Herz klopft, wenn er Anke sieht, und gleichfalls Ankes Herz
klopft, wenn sie Peter sieht, kann man empirisch nur Herzklopfen feststellen
und eben keine Beziehung. Zudem muss man aus dem Phänomen des Herzklopfens
auf den Zustand »Liebe« schließen. Beziehungen und abstrakte Begriffe sind
Schlüsse, also Produkte unseres Denkens. Zugespitzt: Eine Beziehung ist
empirisch ein Nichts, geistig ein Alles.
Das gilt
selbst für Beziehungen zwischen materiellen Einheiten[25],
wenn beispielsweise nach David Hume bei Sonnenschein Eis schmilzt. Auch hier
handelt es sich um zwei Wahrnehmungen, die wir wegen der häufigen
Gleichzeitigkeit ihres Auftretens als eine kausale Beziehung auffassen.
Sicher ist wohl, dass in diesem Beispiel das empirische Material eine solche
Beziehung »hergibt« und in anderen Beispielen hergeben muss, um eine
Erkenntnis zu ermöglichen. Aber eine Beziehung zwischen materiellen
Einheiten gewissermaßen als geistfreie vorauszusetzen, ist unmöglich. Da
zudem Ursache und Wirkung per definitionem aus zwei verschiedenen Substanzen
bestehen (sonst wären sie nicht zu unterscheiden), ist selbst bei vermutetem
Vorliegen von Kausalität deren Bestimmung und ihre Auswirkungen auf die
Beziehungspole »Ursache« und »Wirkung« prinzipiell unvollständig.[26]
Ganz anders
sieht es in praktischen Lebensvollzügen aus, wo wir ständig von kausalen
Zusammenhängen ausgehen müssen, das heißt, als ob Kausalitäten vorlägen.
Jeder Norm und Regel liegt bereits eine solche subjektive
Kausalitätserwartung zugrunde.
Vielleicht
fragt sich der Leser, warum hier so ausführlich auf die Begriffe Beziehung
und Kausalität eingegangen wird. Es soll vermieden werden, dass die Aussagen
zum Gehen und Lernen kausal interpretiert werden und man nicht dem Irrtum
einer Praxis des »Wenn ich dieses tue, trifft mit Sicherheit jenes ein«
aufsitzt. Von Wahrscheinlichkeiten ist auszugehen und nicht von
Kausalitäten, insbesondere, wenn es um den Menschen geht, der ja die
Möglichkeit der Freiheit besitzt. Diese grundsätzlichen Überlegungen müssen
im Folgenden mitbedacht werden, um die ständig lauernde Gefahr der
Verdinglichung von Praxis und Theorie lebendiger Prozesse zu vermeiden. Erst
wenn diese erkenntnistheoretischen Einsichten berücksichtigt werden, bekommt
das Gehen eine realistische Grundlage und wird somit vor Ideologisierung
sowie Überforderung geschützt.
Zwischen
Umwelt, Gehen und psychischen Funktionen bestehen, um es noch einmal
deutlich herauszustreichen, nicht Kausalität bzw. Determination, sondern
eben Wahrscheinlichkeiten. So wird mit größter Wahrscheinlichkeit das
geistige »Endbild« nicht dem Prozess »Umwelt – Gehen – psychische
Funktionen« eins zu eins entsprechen.
Uns Menschen
ist nur eine relative und »verzerrte« Erkenntnis möglich. Wie bereits
zwischen Muskel- und Nervengewebe eine »beziehungslose Beziehung«, ein
Erkenntnisgraben konstatiert wurde, so besteht auch ein Hiatus zwischen dem
Menschen und seiner Umwelt. Das hat zweierlei zur Folge: Einerseits die
bereits beschriebenen nicht aufhebbaren Unschärfen im Erkenntnisprozess,
andererseits die prinzipielle Unmöglichkeit für existierende Lebewesen, mit
ihrer konkreten Umwelt materiell eine dauerhafte Beziehung einzugehen. Sie
bleibt immer auf Zeit eine fragile Beziehung und ist auch im Wesen des
Weges: Der Weg enthält Herstellen und Lösen von Beziehungen. Heute
liegt der Akzent tendenziell allein auf Lösen und damit verschwindet der
Weg. Er wird zum ärgerlichen Hindernis, das man schnellstmöglicht
überwindet. Er wird zu einer Strecke, abstrakt, wie auf einer Straßenkarte
eingezeichnet.
Bedeutung
der Energie im Vermittlungsprozess
Eigenbewegung,
im Wesentlichen auf Muskel- und Nervengewebe angewiesen, funktioniert nur,
wenn ihr Energie zur Verfügung steht.[27]
Diese Energie bewirkt, dass aus Strukturen (Gewebe) Prozesse (Bewegungen)
werden. Als Muskelenergie ist sie keine neutrale, entqualifizierte, homogene
Energie, sondern von inneren Anlagen und äußeren Bedingungen geformt und
gerichtet. Bei den inneren Anlagen stellt sich die Frage, ob diese Formung
und das Gerichtetsein den muskulären und neuronalen Strukturen,
gewissermaßen dem »Energiebett« (den physiologischen Strukturen) zuzuordnen
sind, oder ob die spezifischen Qualitäten bereits in der jeweiligen
Energie vorhanden sind[28]
oder zwischen beiden eine konstituierende Wechselbeziehung besteht. Diese
metaphysischen Fragen bleiben hier unberücksichtigt, was aber nicht heißen
muss, dass diese Dimension nicht existiere oder unwichtig sei. Es geht in
diesen Ausführungen »nur« um die äußeren Formungsprozesse, die durch
unterschiedliche Elemente der Umwelt über muskuläre Tätigkeiten im Körper
und in der Psyche des Menschen in Gang gesetzt werden. Ein Beispiel: Ich
gehe eine Treppe mit hohen Stufen hinauf. Diese Treppe bildet sich in mir
ab, denn die äußere Situation formt über muskuläre Tätigkeit die
Körperenergie und – das ist das Entscheidende – sie beeinflusst den Geist
direkt. Wahrscheinlich stellt sie in diesem Fall die strukturelle
Grundlage des geistigen Inhalts dar. Zugespitzt gedacht: Die Körperenergie
ist der Geist. Erst in ihr und aus ihr konstituieren sich Körper, Geist und
Seele, ja existenzielles Selbstbewusstsein[29].
Deutlicher und
verständlicher wird diese zentrale Position, wenn man ihr Gegenteil, die in
Maschinen und Motoren wirkende Fremdenergie analysiert. Ihr Wirken verändert
im Falle des Autos die Insassen nicht direkt. Die Energie, die das Auto
bewegt, fließt nämlich an den Fahrenden vorbei, berührt sie nicht. Diese
Energie macht keinen Unterschied in den Fahrenden, egal ob sie in
einem kleinen oder in einem großen Auto fahren. Aber das hat, paradox
formuliert, zumeist unbewusste, indirekte Wirkungen. Es wird fatalerweise
gelernt: Du kannst Welt erfahren ohne taktile Begegnung, ohne körperliche
Anstrengung. Eigenbewegungen sind überflüssig. Eine Autofahrt ist in Bezug
auf Wahrnehmungen letztlich eine Bewegung ohne Weg. Eine Bewegung ohne Weg
ist idiotisch (griech. idiotes »Privatmann, Stümper«).
Unterschied
von metabolischer und exogener Energie
in der
Eigen- und Fremdbewegung
Der Kulturtheoretiker Ivan Illich begründet in
seinem immer noch lesenswerten Buch »Selbstbegrenzung. Eine politische
Kritik der Technik« die Unterscheidung von Eigenbewegung und Fremdbewegung
mit folgenden Überlegungen:
Zumindest seit der Vertreibung aus dem Paradies
muss der Mensch für seine physische und psychische Selbsterhaltung arbeiten.
Diese Arbeit vollzieht er in der Regel mit Hilfe von Werkzeugen. Er ist ein
homo faber (»der Mensch als Handwerker«). Werkzeuge arbeiten aber nicht von
selbst, sondern bedürfen direkt oder indirekt der Steuerung und vor allem
der Energie. Illich unterscheidet zwischen metabolischer und exogener
Energie. Exogene Energie ist in körperfremden Systemen gespeichert, wird
aber durch Aufnahme von Nahrung zu körpereigener (= metabolischer) Energie
umgewandelt, so dass Nerven und Muskel diese Energie nutzen und
kontrollieren können. Beim Wandern oder Fahrradfahren wird metabolische,
beim Autofahren fast ausschließlich exogene Energie benötigt. Fremdbewegung
bedarf also exogener Energie. Der Mensch kann durch Eigenbewegung diese
Fremdbewegung, um beim Beispiel Auto zu bleiben, durch Anlassen des Motors
in Gang setzen und ihre Richtungsbewegung durch Drehen des Steuers
beeinflussen, aber darüber hinaus bleibt die exogene Energie ihm
existenziell fremd. Fremdbewegung ist eine technisch vermittelte, von
Technik übernommene Bewegung. Der Körper des Menschen wird dabei
stillgestellt.
Bewegung
Eigenbewegung
Fremdbewegung
metabolische Energie
exogene Energie
körpereigene Energie
körperfremde Energie
Laufen – Fahrrad – Flaschenzug
Motoren
Beim Autofahren sind körperliche, aber auch
geistige Eigenbewegung auf ein Minimum reduziert, schon deswegen, weil der
Fahrer buchstäblich gefesselt ist. Man muss wirklich einmal vorurteilsfrei
die analytische Frage stellen »Wer fährt da, wer bewegt sich da eigentlich?«
Diese Frage zielt auf die entscheidende Dimension der hier vertretenen
Position, nämlich auf die Praxis der Ortsveränderung. Deswegen muss
das bisher Gesagte noch einmal auf einer anderen Ebene durchdacht werden:
Fremdbewegung
und Eigenbewegung finden in natürlichen, sozialen oder kulturellen Räumen
statt, die sich ändern und damit auch eine zeitliche Dimension haben.[30]
Eine Bewegung ohne Zeit und Raum ist nicht denkbar. Auf dieser abstrakten
Betrachtungsebene gibt es zwischen Eigenbewegung und Fremdbewegung bezüglich
der Umwelt keine Differenz. Sieht man sich jedoch einerseits die jeweiligen
konkreten Umwelten an, andererseits deren psychische Verarbeitung, dann
kommen beträchtliche Unterschiede in den Blick. Wieder am Beispiel »Auto«
verdeutlicht: Die materiell-sinnlich direkt wirkende und erfahrbare Umwelt
des Autofahrers besteht aus der Innenausstattung des Autos, also aus
Karosserie, Fensterscheiben, Steuer, Sitze, Armaturenbrett – und, falls
vorhanden, Mitfahrern. Der Blick durchs Fenster beschränkt sich,
gewissermaßen methodisch gewollt, auf das Visuelle, während alle anderen von
der Außenwelt kommenden Sinneserfahrungen ausgeschaltet sind. Zudem verengen
sich die visuellen Wahrnehmungen beim Fahrer auf Asphalt, Signale und Autos.
Landschaft, Architektur und Menschen werden bestenfalls schemenhaft
wahrgenommen oder nur große Objekte (so müssen Werbeflächen an Autobahnen
proportional zur Steigerung der Geschwindigkeit immer größer werden). Man
ist faktisch und meistens auch bewusstseinsmäßig im Auto, nicht im Ort oder
in der Landschaft. Körper und Geist trennen sich vom Raum. Grundsätzlich
werden Raum und Zeit in Normalsituationen als möglichst schnell zu
überwindende Hindernisse angesehen und verarbeitet: »Hoffentlich sind wir
bald da«, »Es dauert nur noch eine Stunde«, »Durch die neue Autobahn
verkürzt sich die Fahrzeit um 28 Minuten«. Wenn ich von Hamburg bis nach
Süditalien ununterbrochen mit dem Auto fahre, bekomme ich fast keine
sinnlichen Eindrücke von Land und Leuten.
Dagegen
entsteht bei der Eigenbewegung zwischen Gehendem und Umwelt eine länger
andauernde und intensivere Einheit.[31]
Man sieht, hört, schmeckt, riecht und fühlt Umwelt direkt[32],
also Gebäude, Blumen, Insekten, Vögel, Bäume, Berge und Menschen. Zudem
ergeben sich aus dem Modus des Gehens qualitativ und quantitativ mehr
Freiheitsmöglichkeiten: Ich kann stehen bleiben (auf der Autobahn eben
nicht), näher an das Objekt der Begierde herangehen, in Gesichter schauen
und mit Menschen sprechen. Zufälle werden möglich, die in der modernen
Lebensweise systematisch ausgesperrt werden. Ein Verlust, dessen
weitreichende Folgen noch nicht einmal angedacht werden.[33]
Sport
akzentuiert den subjektiven Pol
Aus der hier
so vehement vertretenen Position der Einheit von Subjekt und Umwelt wird
deutlich, dass Eigenbewegung als Sport, wie bereits thematisiert, diese
Einheit verpasst – und auch gar nicht anstrebt: Sportplätze, also der
Objektpol, sind im weitesten Sinne monofunktional auf Sport ausgerichtet und
schließen andere Funktionen oder Zufälle systematisch aus. Dieser Einwand
gilt auch beispielsweise für Golfplätze und Sprungschanzen in landschaftlich
schönen Regionen. Entscheidend hierbei ist, dass die Konzentration allein
auf den eigenen Körper gerichtet ist, dass der Objektpol gewissermaßen nur
noch eine Funktion für die körperliche Leistung ist, sich im Subjekt quasi
auflöst.
Eigenbewegung und funktionale Ziele
Eigenbewegung
in interessanten natürlichen, sozialen und kulturellen Alltagsräumen ist in
motivationaler Hinsicht nichtprofessionellen[34]
sportlichen Aktivitäten weit überlegen. Warum? Die ursprüngliche Funktion
der Bewegung war (und ist immer noch) primär Selbsterhaltung, sei es um
Nahrung zu besorgen oder aus Gründen der Fortpflanzung. Gehen hatte ein
Ziel, das außerhalb des sich bewegenden Menschen lag. Es war durch und durch
funktional und damit unhinterfragbare und nicht zu entscheidende
Selbstverständlichkeit. Diese Funktionalität der Eigenbewegung müssen wir
uns zunutze machen und wieder in den Alltag integrieren: mit dem Rad zur
Arbeit und zum Einkaufen fahren, zu Fuß ins Kino und ins Theater oder zur
Bushaltestelle gehen. Diese Art des »Sports« verlangt, wie gesagt,
wesentlich weniger an (anstrengender) Selbstmotivation, weil funktionale
Eigenbewegung schlicht natürlich ist, so dass der Geist nicht getäuscht
werden muss.
Aber es kann
nicht oft genug deutlich gesagt werden: Der Subjektpol bei einer gelungenen
Begegnung mit Welt besteht eben nicht allein aus dem Körper, sondern auch
aus Seele und Geist: Einstellungen und Wertungen, Wissen und Bildung sind an
diesem Prozess gleichwertig beteiligt. Zugespitzt: Ohne Liebe und Bildung
findet keine Beziehung zwischen Subjekt und Welt statt.
Geformte
Körperenergie ist das notwendige Fundament
für lernende
Aneignung
Wenn man die
Umwelt und Subjekt vermittelnde körpereigene Energie mit Begriffen
beschreibt, die nicht primär physiologischer, sondern
psychologisch-geistiger Natur sind, dann kann man die Ergebnisse dieser
Vermittlung auch als Lernen im weitesten Sinne bezeichnen, das von
vorbegrifflichem Ahnen über Fertigkeiten und Fähigkeiten bis hin zum
begrifflichen Wissen reicht. Wenn ich z. B. einen schwierigen Weg über ein
Moor, quer durch den Wald oder auf einem unbekannten Bergpfad gehe, weiß ich
oft nicht, wohin ich treten soll: ob vorwärts oder besser rückwärts oder gar
seitwärts, ob der Untergrund hält und ich vor Anbruch der Dunkelheit das
schwierige Terrain verlassen haben werde. Dieser Vorgang des Gehens formt,
wie bereits gesagt, die körpereigene Energie, die das notwendige Fundament
und Bedingung für das Lernen ist. Es versteht sich von daher, dass »gute«
Wege ertragreich für Lernprozesse sind: Der »gute« Weg enthält natürliche,
kulturelle und soziale Lernpotenziale. Deren Aneignung verändert
gleichzeitig den Gehenden durch erfreuliche oder weniger erfreuliche
Selbsterfahrungen. Bereits das Sich-in-Bewegung-Setzen beruht auf einer
Entscheidung, die oft erst gegen innere und äußere Widerstände durchgesetzt
wird – oder eben nicht. Das ist Praxis des grundsätzlich freien Ichs. Gute
Wege können schwierige, aber nicht unmöglich zu begehende sein.
Gelernt wird übrigens auf drei Ebenen. Beim Gehen erfahre ich erstens
etwas über mich selbst: über meinen Körper, meine Kondition, meinen Willen;
zweitens etwas über den Weg: den Untergrund (moorig, steinig, Asphalt), die
mitgehenden und entgegenkommenden Menschen, die Gebäude, die Bäume, den
Regen, die Sonne, den Wind; drittens etwas über die wechselseitige
Einflussnahme und Beziehung zwischen mir und dem Weg: Erfreue ich mich an
dem Weg? Ist er zu anstrengend? Nehme ich das Auto? Wie wirken dieser
Mensch, dieses Haus, dieser unaufhörliche Autostrom auf mich ein? Was ziehe
ich bei diesem Wetter an?
Gleiche Strukturen wie Wege haben Denkwege. Auch diese sind
anstrengend, ungewiss, von Selbstzweifeln begleitet. Aber ebenso enthalten
sie Momente der Zufriedenheit, des Stolzes, der Bejahung – insbesondere nach
einem geglückten Ende.
Implizites und explizites Wissen
Das körpervermittelnde Lernen ist weniger ein begriffliches als ein
vorbegriffliches und fundierendes Lernen. Mit fundierendem Lernen sind
insbesondere die primären neuronalen Verknüpfungen beim Kleinkind, aber auch
neuronale Verknüpfungen in späteren Lebensjahren gemeint, die dann erst
komplizierteres und begriffliches Lernen ermöglichen.
Um diese Art des Lernens von anderen Lernformen abzugrenzen, ist es
sinnvoll, einen Blick auf die Erkenntnisse der Kognitionswissenschaft zu
werfen: Jerome S. Bruner unterscheidet zwischen drei äußeren
Darbietungsformen: den enaktiven, ikonischen und symbolischen
Repräsentationsformen. Er macht das an einem Beispiel fest: Ein Kind
hantiert mit einer Balkenwaage (enaktiv) oder sieht ein Bild oder Schema
dieser Waage (ikonisch) oder bekommt diese Waage physikalisch erklärt in
Form von Wörtern und mathematischen Symbolen (symbolisch). Diese Reihenfolge
kann man auch als unterschiedliche Entwicklungsniveaus auffassen, die keine
horizontale Ordnung von nebeneinander liegenden Kategorien bilden, sondern
eine vertikale Ordnung von mehr Materieanteilen bis zu mehr Geistesanteilen
je nach »Gegenstand« einnehmen. Die Dreiteilung ist keine absolute, denn es
gibt fließende, »wechselläufige« Übergänge, beispielsweise zwischen Bild und
Symbol.
[35]
So ist bereits der Begriff »Materie« keine Materie, sondern bereits Geist,
und umgekehrt ist der Begriff »Geist« bereits Materie in Form von Schrift
oder gesprochenem Wort. Es gibt insofern zwischen Geist und Materie nur
unterschiedliche Mischungsverhältnisse. Das reicht vom Spüren oder Ahnen
(ist bereits Geist), dass ein Etwas sich aus allem heraushebt, über
begriffloses Erkennen (bloßes In-der-Welt-Sein) und Wissen um den richtigen
Gebrauch bis hin zum definierten Begriff. Dem Begriff sieht man häufig sein
»materielles Herkommen« nicht mehr an. Diesen Sachverhalt kann man auch mit
den Begriffen implizites versus explizites Wissen fassen. Implizites Wissen
ist mit den Sinnen direkt oder indirekt über Muskeltätigkeit, allerdings oft
un- und vorbewusst, aufgenommen worden und kann gegebenenfalls erinnert und
vor allem angewandt werden. Implizites Wissen oder Gedächtnis, auch
nicht-deklaratives Gedächtnis genannt, kennen wir alle im fundamentalen
Vorgang der Zuordnung eines Dinges zu seinem Begriff, vom Fußball- bzw.
Geigespielen und vom sofortigen, nicht vom Bewusstsein vermittelten
Wiedererkennen. Die Position, dass dem Begriff immer ein Begreifen von etwas
vorangeht, dass der Geist nicht angeboren oder vom Himmel gefallen ist, hat
Jean Piaget fundiert herausgearbeitet.
Aus dieser Perspektive heraus kann man Ortsveränderungen in
Eigenbewegung als eine Art und Weise des materiellen Handelns auffassen, das
vor aller ikonischen und symbolischen Aneignung von Welt stattfindet.
Eigenbewegung ist so gesehen das fundamentum inconcussum, die
unerschütterliche und unverzichtbare Grundlage großer Teile der Bild- und
Begriffsbildungen und muss, das ist das Entscheidende und vielleicht auch
Neue der hier vertretenen Position, ständig trainiert, ergänzt und erweitert
werden. Das Fundament ist also doch nicht »unerschütterlich«, denn es kann
bei Nichtanwendung verkümmern und seine aus ihm hervorgehende produktive
Kraft und Funktion stehen dann nicht mehr zur Verfügung: Die Begriffe haben
keine Bodenhaftung mehr, das Geistige des Nervensystems wird ein
selbstreferenzielles System mit allen Gefahren, die mit der damit gewonnenen
Leichtigkeit verbunden sind. Einwände gegen den Mangel von Bodenhaftung der
Begriffe haben sicherlich intuitive Unterstützung, müssen aber argumentativ
entfaltet werden, um in unserer Gesellschaft wirksam zu werden. Die
muskuläre Passivität beim Autofahren wäre ein Argument.
Bei der Eigenbewegung sind die Muskeln also von entscheidender
Bedeutung. Das Terrain, in dem man sich bewegt, wird durch die muskuläre
Tätigkeit abgebildet. Das so entstehende »Bild« ist durch die Energie
vermittelt, die die muskuläre Tätigkeit braucht und verbraucht. Diesen
Übergang von muskulärer Tätigkeit zum inneren Bild kann man als den Beginn
geistiger Tätigkeit verstehen – aus Energie wird Geist.
1.4 Die zentralen Begriffe der fragilen Einheit »Mensch und Weg«
Zentrale theoriegeladene Begriffe der im vorangegangenen Unterkapitel
(1.3) behandelten Struktur »Mensch und Weg« werden hier vertieft und
alphabetisch dargestellt, so dass der Leser bei Bedarf auf sie zurückgreifen
kann.
Dabei thematisieren viele dieser Begriffe die Entwicklung des Lernens
(primär Geistiges) aus dem Gehen (primär Materielles), denn Materielles hat
immer eine geistige, Geistiges immer eine materielle Dimension.
Der besondere Akzent auf das aneignende Lernen wird deshalb gelegt,
weil vehement die Überzeugung vertreten wird, dass die aktive,
»eigenbewegte« Auseinandersetzung und Begegnung mit natürlichen, sozialen
und kulturellen Alltagswelten, also die Einheit von Subjekt und Objekt,
Grundlage und stetige Quelle des Lernens sind.
Formal deckt jeder dieser Begriffe eine wichtige Dimension ab, die als
relativ geschlossene Einheit konzipiert ist.[36]
Augenblicke
Die phänomenologisch deutlichste, aber zeitlich
begrenzte Einheit von Geist und Körper ist vielleicht der Augenblick, der,
wenn es einer ist, immer der wechselseitige Blick zweier lebendiger Menschen
ist: Meine Augen sehen in die Augen eines anderen Menschen, und der Andere
und ich nehmen diese Wechselseitigkeit wahr.
Außer im Stau oder vor einer rot geschalteten
Ampel gibt es aus dem Auto heraus keine Augenblicke. Auch nicht mit der
Nachrichtensprecherin im Fernsehen, denn diese blickt nicht in lebendige
Augen, sondern in tote Kameras. Augenblicke verlangen Bewegungen des
Hingehens oder Ausweichens. Ein Augenblick hebt die Herrschaft der Zeit auf
– er kann zur subjektiven Ewigkeit werden. Das Auge ist das einzige Fenster,
das die Seele hat, nicht nur zum Raussehen, sondern auch zum Reinschauen.
Augenblicke sind das Salz der Erde, sie sind von physischer, aber auch
metaphysischer Natur. Man kann sie – wenn man ein Organ für Überhöhungen hat
– als praktizierte Menschlichkeit ansehen, weil so rein, nämlich ohne
Vorbedingungen, ohne vorherige Ziele. Sie geschehen einfach. Ohne
Augenblicke, also ohne ein wirkliches Du (das äußerlich sehr wohl ein Sie
sein kann) entsteht keine Subjektivität.
Der Blick auf den Nachrichtensprecher oder auf
den hinter getönten Autoscheiben Sitzenden ist kein Augenblick, sondern eine
Wahrnehmung. Menschen als »Elementarteilchen« (Houellebecq) sind in der
Produktions- und Konsumsphäre funktional nicht mehr auf Augenblicke
angewiesen. Das Faktum, dass Augenblicke an Häufigkeit abnehmen, ist aus
anthropologischer Sicht höchst problematisch. Denn die Bedeutung der
Augenblicke für die seelische Entwicklung und für soziale Beziehungen wird
oft unterschätzt, ist aber ein wesentliches Argument gegen die
unverhältnismäßige Ersetzung lebendiger Tätigkeiten durch mechanische. Hier
liegen übrigens Wert, Chance und Stärke der Schule, des Arbeitsplatzes, ja
des Fußballstadions, denn man kann sie auch als Orte der Augenblicke
interpretieren.
Auto, Fernsehen, Buch in ihrem Bezug zur Wirklichkeit
Auto, Fernsehen und Buch verunmöglichen eine primär muskulär
erfahrbare Wirklichkeit. Die Nutzung aller drei Medien kommt nahezu ohne
Muskeltätigkeiten aus.
Die Welt aus dem Auto gesehen reduziert Wirklichkeit dreifach: auf
Visuelles und da nur auf große und größte Objekte und auf Flüchtigkeit. Es
gibt hier nur Verluste.
Die Welt des Fernsehens ist eine hergestellte, die sich auch nur auf
das Visuelle beschränkt. Der Fernsehzuschauer nimmt zwangsläufig nur die
eingenommene Perspektive des Produzenten wahr, so dass aus Potenzialität
eine bestimmte reduzierte Wirklichkeit wird. Zwischen Bild und Gezeigtem
bestehen materiell keine Gemeinsamkeiten. Ein Gewinn besteht darin, dass
Raum und Zeit des Fernsehzuschauers praktisch unendlich erweitert werden
können. So kann die geführte Kamera Perspektiven einnehmen, die dem
Zuschauer in Normalsituationen unzugänglich sind.
Beim Medium Buch besteht zwischen materiellem Buch und dem Gemeinten
weder materiell noch von der Ähnlichkeit her Gemeinsames. Es gibt keine
äußere Anschauung von der Welt. Der Leser ist gezwungen, die leeren Begriffe
mit eigenen Bewusstseinsinhalten zu füllen. Diese schöpferische Aktivität
ist der Vorteil des Geschriebenen – wenn es denn anspruchsvoll ist.
Bildung
Die kognitive Aneignung eines Sachverhaltes von
Ahnen über Gebrauch bis hin zum Begriff ist ein Vorgang, der sowohl in der
Phylogenese als auch in der Ontogenese stattfindet. Die Gattung musste
lernen, das neugeborene Kind muss lernen. Das ist aber nicht ein jeweils
einmaliger, abgeschlossener Vorgang, sondern er muss auch im
Erwachsenenalter der Gattung und des Individuums ständig wiederholt,
gewissermaßen neu gespurt werden.
Mit der Eigenbewegung sind fundamentale und »kleinere« Bildungsmomente
verbunden. So ist es nicht übertrieben festzustellen: Eigenbewegung
ermöglicht den Ausgang aus der platonischen Höhle und damit Anteil am
Bereich der Freiheit und der Wahrheit haben. Weniger großartig: Ich bringe
meiner Enkelin das Öffnen einer Verandatür bei. Erst jetzt merken Johanna
und ich, wie groß der Widerstand des Hebels ist. Es hilft nicht, zu sagen
»Der Hebel geht schwer zu öffnen« – es muss getan werden, also Eigenbewegung
ist in diesem Fall für Johanna die Quelle der Erkenntnis.
Allgemein: Das entscheidende Bildungsmoment der Eigenbewegung besteht
in der Selbstbestimmung und Aneignung des Weges einschließlich dem
Stehenbleiben auf oder Verlassen des Weges. Dieser Weg ist zweifache Quelle
des Lernens: zum einen ist es der Weg selbst und alles, was am Wege steht,
zum anderen, wie ich die Aufgabe der Wegbegehung bewältige. Es darf aber
nicht ausgeblendet werden, dass Eigenbewegung keineswegs durchgehend Spaß
und Mühelosigkeit bedeutet. Hindernisse sind Lernbedingungen. »Per aspera ad
astra«, »durch Mühen zu den Sternen« ist schlicht eine Naturwahrheit. Das
wussten nicht nur die Römer, sondern auch Hegel und Marx oder ein
Liedermacher wie Reinhard May.
Aber trotz oder gerade wegen dieser Schwierigkeiten ist die
Eigenbewegung wesentliche Grundlage von Lernprozessen, denn die damit
vorgenommenen selbständigen Standortänderungen sind die Bedingungen für die
lernende (oft funktionale) Aneignung von Welt. Es gibt zahlreiche empirische
Untersuchungen darüber, dass Schülerinnen und Schüler, die ihren Schulweg zu
Fuß oder mit dem Fahrrad bewältigen, diesen Weg inhaltlich signifikant
differenzierter wiedergeben können, als wenn sie mit dem Auto oder Bus
gebracht werden.[37]
Übrigens kann man folgende Zeichnungen aus der Dortmunder Schulweg-Studie
auch auf sich selbst anwenden:
Schulweg zu Fuß (Grundschülerin 10 Jahre)
Schulweg mit dem Bus
Schulweg mit dem PKW (Grundschülerin 9 Jahre)
Ausgewählte Schülerzeichnungen aus der Dortmunder Schulweg-Studie.
Aufgabe: »Zeichne Deinen Schulweg aus dem Kopf und beschreibe uns alle Orte,
die für Dich Bedeutung haben«. In: PÄD Forum, Zeitschrift für soziale
Probleme, pädagogische Reformen und alternative Entwürfe, August 1998, S.
381, Schneider Verlag Hohengehren. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung
des Verlages.
Denken
Das Denken zu bedenken, ist natürlich ein Zirkel und führt zu
entsprechenden Unschärfen in den Ergebnissen. Trotzdem hilft uns die
Erkenntnis der Handlungstheorie, dass Handeln immer raum- und zeitgebunden
sei, ein Stück weiter, zumal, wenn man diese Einsicht mit denen der
Kognitionswissenschaften verknüpft, dass Denken internalisiertes Tun sei.
Daraus folgt, dass auch dem Denken objektiv raum-zeitliche Strukturen eigen
sind. Topik, die Lehre von der Lage der einzelnen Dinge bzw. Organe
zueinander, hat also eine äußere (beim Handeln) und eine innere (beim
Denken) Dimension.
Die Eigenbewegung ist gewissermaßen das
vermittelnde Glied zwischen äußerer und innerer Bewegung, zwischen äußerem
und innerem Raum. Dass dies so ist, ist für die geistige Entwicklung der
Kinder hinreichend erforscht und belegt. Dass Gleiches für die Erwachsenen
gelten könnte, ist dagegen eine Aufgabe, ein Desideratum.
Ding und Symbol
Wir sind in der Welt und haben ein existenzielles Verhältnis zu ihr.
Die Welt ist mit Sicherheit auch materiell. Sie ist voller Gegenstände (die
auch »gegen« uns sind im Sinne von Widerstand), mit denen wir umzugehen
haben. Wir sind zu materiellen Beziehungen verurteilt. Mit Hilfe von
Symbolen oder Maschinen vermögen wir, Gegenstände und Beziehungen in
immaterielle zu transformieren, aber nicht vollständig. Selbst wenn ich
lese, ist immer noch Materielles unaufhebbar im Spiel, nämlich die
materiellen Zeichen und das materielle Buch, von meiner eigenen
Körperlichkeit ganz abgesehen. Die inzwischen berühmt gewordene
Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von Perry Barlow »Endlich gewinnen
die Kräfte des Geistes die Oberhand über die rohe Macht der Dinge. Unsere
Welt [des Cyberspace, BM] ist überall und nirgends; und sie ist nicht dort,
wo Körper leben. Es gibt im Cyberspace keine Materie«[38]
stimmt nicht und wird nicht stimmen, zumindest solange Menschen einen Körper
haben. Trotzdem darf auf der Ebene der Faktizitäten und des konkreten
Handelns nicht übersehen werden, dass Körperlosigkeit für zunehmend mehr
Menschen zwar ein unbegriffenes, aber wirksames Ideal ist, was auch in
besonderen Situationen begründet ist: Ohne Zweifel hat sich die große
Mehrzahl der Bevölkerung noch vor fünfzig Jahren körperlich geschunden. Ein
Bauer, der mit sechzig Jahren körperlich nicht verschlissen war, galt als
faul. Befreiung von körperlicher Fron ist zweifelsfrei ein humanes Ziel.
Abzulehnen ist aber das explizit oder implizit bestehende dominierende Ziel
der »Befreiung« von jeglicher körperlicher Betätigung im Alltag und die
Verweisung der Bewegung in Reservate (Fitnesszentren). Eine Auffassung, in
der körperliche Tätigkeiten im Alltag als überflüssig, folgenlos angesehen
werden und den Charakter des Sich-Lächerlich-Machens annehmen.
Aber der Mensch ist ein Wesen des Dazwischen: Das
Einssein mit der materiellen Welt ist für ihn existenziell nicht möglich,
weil Erfahrungen, die prinzipiell auf Unterscheidungen beruhen, dann nicht
gemacht werden können. Auch eine absolute Trennung des Körpers von der Welt
kann es nicht geben, weil wir existenziell auf Welt verwiesen sind – ob wir
es wollen oder nicht, es gut finden oder nicht. Das prekäre Dazwischen ist
unsere eigentliche Lebenswelt, wir haben keine absolute Heimat, sind aber
auch nie nur in der Ferne – sind nicht reiner Geist und auch nicht reine
Materie.
Ganzheit
Vorweg muss deutlich betont werden, dass Ganzheit ein Zustand ist, der
uns Menschen prinzipiell verwehrt ist, dass es immer nur ein Streben nach
Ganzheit geben kann. Das bezieht sich auf »partielle Ganzheiten« wie ein
Haus, ein Land, eine Geschichte, eine Idee und erst recht auf das »ganze
Ganze«, also auf das Universum einschließlich der Möglichkeiten und der im
Ganzheitsbegriff oft verdrängten negativ konnotierten Aspekte wie Krankheit,
Verfall, Müdigkeit, Anstrengung. Hier geht es zuallererst »nur« um die
Einheit von Eigenbewegung und jeweiliger Umwelt, die beide im Laufe eines
Prozesses idealiter zu einer (tendenziellen) Ganzheit zusammenwachsen.
Die personale Einheit von Körper, Seele und Geist ist mitnichten von
vornherein eine Einheit, ebenso wenig die sachliche Einheit, die aus den
Dimensionen besteht, wie sie von verschiedenen wissenschaftlichen
Disziplinen erfasst und beschrieben werden (Biologie, Ökonomie, Geschichte
usw.). Und erst Recht besteht keine Ganzheit zwischen personaler und
sachlicher Einheit, die wesentlich erst durch Eigenbewegung ermöglicht wird.
Erst in der aktuellen Begegnung entsteht die Möglichkeit einer umfassenden
Ganzheit: Ich werde mir einerseits meiner Muskeln, Gefühle, meines Willens,
andererseits der Brücke, der Steigung des Weges, des Fliederbeerbaumes, des
alten Mannes bewusst und drittens, dass ich es bin, der diesen Fliedergeruch
bewusst wahrnimmt. »Bewusst« ist in diesem Zusammenhang einseitig, denn es
gibt viele »Ganzheiten«, die zwar nicht bewusst, aber doch wirksam sind –
und zwar nach beiden Seiten, nach dem Menschen und der Umwelt hin: Mein
Stoffwechsel (wenn ich esse) verändert mich (ich werde müde) und verändert
die Umwelt auf vielfältige Weise (so wird die Kartoffel dem Boden entnommen,
ihr Transport erhöht den Verkehr und der Tisch, auf dem die
Kartoffelschüssel schließlich steht, war ursprünglich ein Baum).
Dass nur noch kleine Ganzheiten angestrebt
werden, also Spezialisierung in allen Bereichen stattfindet, ist eine
Ursache dafür, dass Eigenbewegungen in natürlichen, kulturellen und sozial
interessanten Alltagssituationen massiv abnehmen. Eine andere Ursache ist
die heutige Dominanz der Ganzheit im Scheine der Bilder. In ihr ist
Täuschung, denn diese Ganzheit besteht materiell aus Monitor und
Lautsprecher. In der Fremdbewegung findet dagegen eine Umkehrung statt: Die
Ausgangssituation für Wahrnehmung ist real, wird aber mit zunehmender
Geschwindigkeit flüchtiger und unschärfer, so dass die Wirklichkeit im
Bewusstsein verschwindet. Dieses Verschwinden hat dann sekundär
eliminierende Folgen für die Wirklichkeit: Die Häuser aus der Gründerzeit
werden abgerissen, weil man ihre Schönheit nicht mehr wahrnimmt. Das Fazit
dieser Überlegungen lautet: In der Eigenbewegung entsteht Ganzheit und damit
»wirkende Wirklichkeit«: Bilder sind keine Wirklichkeit, und in der
Fremdbewegung löst sich Wirklichkeit auf.
Grund
Abstraktionen werden nur an Gegenständen oder Situationen vorgenommen.
Dass dieser Prozess sich aber auch auf deren jeweilige Grundlage beziehen
kann, wird in der Regel nicht bedacht. Jede Wahrnehmung, jede Erkenntnis,
jedes Urteil beruht auf Setzungen, auf einem oder mehreren Gründen, die
letztlich nicht mehr bestimmt werden können. Jedes Ding hat einen Grund oder
Gründe. Der materielle Grund der ortsverändernden Bewegung, um den es hier
geht, wird nur als Oberflächenphänomen wahrgenommen, oft nur eines Blickes
oder Gedankens gewürdigt: Asphalt, Sand, Fliesen, leichte Steigung usw. Dass
auf, unter und am Grund Schicksale, Geschichte, Leben, Natur, ästhetische
Strukturen, Aufbau und Abriss vorhanden sind, wird nicht zur Kenntnis
genommen. Straßen im weitesten Sinne sind heute höchste Abstraktion, von
allem bereinigt, was nicht direkt der Fortbewegung dient. So entleert ist
auch der Außen-Blick des Autofahrers, des Zugfahrers und erst recht der des
Flugzeugpassagiers. Die autogerechte Straße hat tendenziell die gleiche
Qualitätslosigkeit wie die Umwelt der reinen Zahlen. Diese Natur- und
Grundvergessenheit ist das Strukturmerkmal der Mechanik und Technik, der
Maschinenwelt, der Fremdbewegung. Eigenbewegung dagegen schafft
Möglichkeiten zur Wiedererlangung dieser verdrängten und vergessenen
Dimensionen: Der Kontakt zwischen Fuß und Grund kann eine Welt erschließen –
wenn er denn wahrgenommen, wenn über ihn gesprochen, gelesen und reflektiert
wird. Eigenbewegung schafft auch Engagement für die Erhaltung und Schaffung
von unterschiedlichen »Gründungen«.
Ich-Stärke
Gelungene Makrobewegungen über größere Distanzen haben auch positiven
Einfluss auf Mikrobewegungen im Nahbereich: Treppen steigen, von einem
Zimmer zum anderen gehen, der Zugriff auf Dinge, morgens aufstehen werden
konzentrierter, energischer, mit weniger hemmenden Einwänden,
»optimistischer« auf das Gelingen hin, ganzheitlicher, leichter, ja mit
Freude und Genuss durchgeführt. Es bewirkt auch einen Unterschied, ob ich
zum Rad schleiche oder zuversichtlich, aufrecht gehe, um eine längere
Fahrradtour zu unternehmen. Entsprechende positive Effekte stellen sich in
der Regel nicht sofort ein, auch gibt es immer wieder Einbrüche. Aber diese
nehmen signifikant ab, wenn Eigenbewegung im Alltag zur selbstverständlichen
Gewohnheit wird. Dazu eine These, mit der aber sehr vorsichtig umgegangen
werden muss: Immer wieder hört man von Reisenden, liest man in
Reiseberichten, sieht man auf Fotografien: Trotz relativer Armut sei die
Stimmung in den Entwicklungsländern nicht schlecht. Ich denke, dass selbst
in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland mehr gelacht und
gelächelt wurde als heute. Liegt nicht ein Grund der Unzufriedenheit
im Mangel an Eigenbewegung?
Muskuläre Eigenbewegung und Sicherheit
Woher weiß ich, um die berühmte Frage Descartes etwas abgeändert zu
wiederholen, dass der Baum, der vor meinem Fenster steht und den ich sehe,
wirklich existiert? Könnte es nicht sein, dass dieser Baum in Wirklichkeit
ein täuschend echtes Bild, ein Trompe-l’œil ist, oder dass ich ihn aufgrund
meines gestrigen Weinkonsums halluziniere oder gar erträume? Innerhalb der
sinnlichen Wahrnehmung findet man – folgt man Descartes – keine Antwort
darauf. Es bedarf eines Maßstabs aus einem anderen System. Descartes sah die
Lösung bekanntlich im cogito. In vorliegenden Überlegungen wird aber eine
wesentlich andere Position vertreten: Nicht das cogito vermag zwischen
Wirklichkeit und Traum zu unterscheiden, sondern die muskuläre
Eigenbewegung.[39]
Wie begründet sich dieser Standpunkt?
Die sinnliche Wahrnehmung einer bestimmten Blume und eines Fotos von
ihr machen neuronal keinerlei Unterschied aus. Für die Netzhaut und für die
Wahrnehmungsprozesse im Gehirn sind Ding und Bild grundsätzlich
ununterscheidbar. Innerhalb des neuronalen Systems ist diese ontologische
Differenzierung also nicht möglich. Das erklärt vielleicht auch die
zunehmende Akzeptanz der Transformation realer Welt in Bilder-Welten, die
nicht nur widerstandslos akzeptiert, sondern als Errungenschaft begrüßt
wird. Es setzt sich das Bewusstsein durch, nicht zuletzt durch die
Möglichkeit der virtuellen Interaktion, das Bild als gleichwertig, ja
höherwertig einzustufen (auf höherem Niveau virtuell die Frauenkirche in
Dresden zu »erfahren«, auf niedrigerem Niveau virtuell Krieg mit den
Außerirdischen zu führen).
Wie kann man physiologisch argumentieren, wenn man der Meinung ist,
dass die Wirklichkeit und originale Begegnung unverzichtbar zur conditio
humana gehören? Sicherlich ist uns Menschen Welt unmittelbar nicht
zugänglich. Aber die muskulären Tätigkeiten während der Originalbegegnung
(ich klettere über den Zaun) konstituieren einen höheren Realitätsgehalt,
als wenn ich das Bild dieses selbsterlebten Vorgangs sehe (auf einem Foto
klettere ich über einen Zaun). Und genau diese muskulären Erfahrungen
brechen im Moment massiv weg. Das Leben wird »bequemer«, das heißt
»entmuskelt«, entwirklicht. Der Endpunkt dieser Logik der Bequemlichkeit ist
der Tod. Der ist nämlich bewegungslos.
Perspektive
Mit jeder Bewegung verändern sich Standpunkt und
damit auch Perspektive. Nach welcher Zeit oder ab welcher Distanz eine neue,
gewissermaßen eigenständige Perspektive entsteht, ist subjektiv vom
jeweiligen Bewusstseinszustand und von einer realen Bewegung abhängig. Jeder
Perspektivwechsel ist Verlust und Gewinn zugleich.
Im Fernsehsessel verändere ich meine Perspektive
nicht, weil ich mich nicht selbst bewege noch bewegt werde. Die
Perspektivwechsel finden allein im Scheine auf dem Bildschirm statt. Dabei
sind meine Perspektiven identisch mit denen der eingesetzten Kameras bzw.
der hinter ihnen agierenden Kameramänner und Regisseure. Ich bin, wenn ich
den Fernsehapparat nicht abschalte, eine Funktion der Kamera und ihr »Blick«
ist ein Blick wie jeder andere Blick auch, hat also nichts mit Objektivität
zu tun, gelangt aber im Scheine in andere Räume und Zeiten.
Als Autofahrer nehme ich ebenfalls eine sitzende
Position ein, wobei die Position des Autos meine jeweilige Perspektive
wesentlich konstituiert. Als Fahrer kann ich durch Tempoveränderung und
Abändern der Route die jeweilige Perspektive innerhalb dieses Rahmens
wechseln. Bin ich allerdings von A nach B auf einer Autobahn oder
Bundesstraße unterwegs, so befinde ich mich meistens in einem kollektiven
Fortbewegungsblock, der ganz bestimmten Regeln folgt, denen ich mich nur
sehr schwer entziehen kann: Ich darf auf der Autobahn eben nicht halten.
Solange ich fahre, sind meine Freiheitsgrade eingeschränkt, zumal mein
Körper durch die Gurte »gefesselt« ist. Die im Auto zurückgelegte Strecke
reduziert muskuläre Tätigkeiten auf ein Minimum und die sinnliche Erfahrung
nur auf ein eingeschränktes Sehfeld. Aber ich komme im Auto schneller (wenn
es keine Staus gibt), bequemer und ungestörter voran.
In der Eigenbewegung verändere ich meine realen Standpunkte und damit
die Perspektiven zwar langsamer als im Auto, dafür erhöht sich aber die
Anzahl möglicher »substanzieller« Perspektiven beträchtlich. Man stelle sich
einen Rundgang durch den Heimatort (Alltagsraum) vor: Man bleibt hier und da
stehen, richtet seinen Blick auf ein bestimmtes Fenster, auf einen
vorbeilaufenden Hund, auf den angrenzenden Wald, auf die Tankstelle. Man
kann langsam oder schnell gehen, geradlinig sich fortbewegen oder »krumme«
Wege gehen, sich bücken und an der Glockenblume riechen und sie detailliert
betrachten. Das Wichtigste: In dieser Situation ist man autonom, nicht auf
Hilfsmittel angewiesen.
Setzt man Eigenbewegung und Denkprozesse in Beziehung zueinander, muss
bedacht werden, dass Eigenbewegung eine notwendige, aber nicht hinreichende
Bedingung für Erkenntnis ist. Denn jeder hat die Erfahrung gemacht, dass
gerade von regelmäßig begangenen Wegen wenig wahrgenommen, behalten oder gar
reflektiert wird. Eine intensive Begegnung findet nur dann statt, wenn
geistige Gerichtetheit und Konzentration vorhanden sind. Diese Gerichtetheit
auf die jeweilige Umwelt muss nicht immer klare und deutliche Erkenntnisse
hervorbringen, sondern kann – wie bereits gesagt – auch Formen des Ahnens,
Fühlens, der ästhetischen Ansprache, des Könnens sein. Auf jeden Fall gilt,
dass die sinnlich-muskulär erfahrene Umwelt sich je nach
erkenntnistheoretischer Position dem Bewusstsein als Rekonstruktion oder
Konstruktion erschließt.
Repräsentationssysteme
Nach Jerome S. Bruner kann jeder Wissensbereich
(oder jede Problemstellung innerhalb eines solchen Wissensbereichs) auf
dreifache Art dargeboten werden: in symbolischen, ikonischen und enaktiven
Repräsentationssystemen. Vom Thema »Körper« aus gesehen, ist das Verhältnis
zwischen diesen Systemen besonders interessant. Analysiert man den
(allgemeinen) Begriff, also keine Eigennamen, dann stellt man fest, dass
dieser Begriff zwar ein Gebiet begrenzt, es definiert, das Gebiet selbst
aber konkret-inhaltlich leer ist. »Bevölkert« wird es erst durch
Aktivitäten, die dem Ikonischen und Enaktiven zuzuordnen sind.
Aus diesem Zusammenhang ergeben sich zumindest
vier Aspekte:
a) Der Prozess der »Bevölkerung«, besser:
»Füllung«, kann minimal – für Paris ein einziges Foto vom Eiffelturm – oder
maximal, jedoch nie vollkommen sein. Sicherlich ein unendlicher Prozess.
b) Der empirische Umfang der Nutzung der
einzelnen Repräsentationssysteme ist historisch dynamisch. Für die Gegenwart
kann generell Folgendes konstatiert werden: Anspruchsvolle symbolische und
intensivere enaktive Anteile haben abgenommen. Im ikonischen Bereich fallen
die Ergebnisse unterschiedlich aus: Der über Bildmedien vermittelte Anteil
hat stark zugenommen, während der über Eigenwahrnehmung erworbene
zurückgegangen ist. Beeinträchtigend kommt hinzu, dass die medialen
Wahrnehmungen zunehmend kürzer und flüchtiger werden. Realität wird mehr und
mehr aus der Distanz im Auto-, Zug- oder Flugzeugsessel auf vorgeschriebenen
Wegen panoramisch wahrgenommen. Zu hören sind nur die Motoren des
Fortbewegungsmittels, nicht aber Naturgeräusche. Andere Sinnesqualitäten
werden ausgeblendet.
c) Ein Minimum an Enaktivität ist unaufhebbar,
weil ein »Restkörper« immer noch mit der Welt in Verbindung stehen muss.
Selbst der Wagen mit Vollautomatik verlangt ein Geringes an Veränderung der
materiellen Welt mit Hilfe meines Körpers wie das Öffnen der Tür oder das
Umdrehen des Zündschlüssels. Geht man von einem ganzheitlichen Menschenbild
aus, das ein Anrecht auf die Entfaltung aller Fähigkeiten hat, ist dieser
Sachverhalt nicht akzeptabel. Aus der Sicht kognitivistischer
Entwicklungstheorien, in denen Denken als internalisiertes Tun beschrieben
wird und Welt erst im handelnden Umgang im Subjekt entsteht, ist diese
Deprivation für Kinder oder Jugendliche nicht hinnehmbar. Aber auch für
Erwachsene gilt, dass der Prozess der handelnd-sinnlichen Aneignung
prinzipiell unabgeschlossen ist und ständig bei jedem kognitiven Neuerwerb
fundierend stattfinden sollte. Sehr viel spricht dafür, dass zwischen
äußeren und inneren Bewegungen starke Wechselbeziehungen bestehen.
d) Die Bedeutung (Begriff, Gedanke, Idee, Wesen,
Natur, Information) eines Gegenstandes bzw. Sachverhaltes entsteht nach
meinen Überlegungen durch die Synthese aller drei Repräsentationssysteme und
durch die Integration zusätzlicher Bedeutungen. Diese (Gesamt-)Bedeutung ist
im Gegensatz zu den einzelnen Repräsentationen der Introspektion nicht
zugänglich. Denn welche direkt erkennbaren Qualitäten sollte die Synthese
aus enaktiven, ikonischen und symbolischen Anteilen annehmen? Schon Karl
Bühler stellte fest, dass ein Gedanke etwas wäre, das einen hohen
Klarheits-, Sicherheits- und Lebhaftigkeitsgrad hätte, aber keine sinnliche
Qualität aufweise. Platon spricht davon, dass Ideen gestalt- und farblos
seien. Zu vermuten ist, dass ein geringer Anteil von Handlungserfahrungen
und Eigenwahrnehmungen von Wirklichkeit Bedeutungen erzeugt, die hochgradig
anfällig für Fremdbestimmungen sind, wobei zu fragen bleibt, welchen
innerpsychischen Status diese wenig eigenfundierten Bedeutungen einnehmen.
Fazit: Die körperlichen Aneignungen und
sinnlichen Primärerfahrungen sind im Erkenntnisprozess unverzichtbar. Selbst
für einen so kognitiv-geistigen Begriff wie »Bedeutung« sind Körper und
Sinne konstitutiv. Deren Anteil wird aber in der dominanten Weltaneignung
geringer.
Stille
Stille ist nicht Abwesenheit von Geräuschen.
Stille ist – paradox formuliert – eine unerhörte Symphonie, wobei die Klänge
nur erahnt werden können. Das erklärt, dass Stille so schön ist. Man hört
Stille, sie ist Fülle und nicht nichts. Stille ist etwas Aktives, die Stimme
der Natur, vielleicht Gottes. Sphären-Symphonie. Auch hier herrscht wieder
die Verbindung von Subjekt und Objekt.
Welt- und Selbstverhältnis
»Jedes Weltverhältnis ist immer auch ein Selbstverhältnis« lautet das
berühmte Diktum von Dieter Henrich. Nur aus analytischen Gründen wird dieses
Doppelte im Folgenden getrennt dargestellt. Betrachten wir zuerst das
Weltverhältnis:
Wenn ich mit Hilfe der Fremdbewegung (Auto, Zug, Flugzeug) einen
Ortswechsel passiv vornehmen lasse[40],
also mein muskuläres System nicht in Anspruch nehme, töte ich den Raum.
Heine spricht von der Ermordung des Raumes. Was ist damit genau gemeint?
Zuallererst wird der Raum in seinem Reichtum nicht mehr wahrgenommen: Man
hört, riecht, fühlt absolut nichts von den durcheilten Räumen. Der
Gleichgewichtssinn und andere Sinne werden nicht benötigt. Das Sehen ist auf
den »panoramischen Blick« (Schivelbusch) reduziert, ebenfalls sind
Atmosphären außerhalb des Fahrzeugs nicht wahrnehmbar. Das sind
beträchtliche Verluste, die zusammen mit dem minimalen bzw. Nichtgebrauch
des Muskelsystems aus humaner Sicht als katastrophal eingestuft werden
müssen: Die Dinge verlieren, natürlich immer nur im Bewusstsein,[41]
ihren Substanzcharakter. Alle Eigenschaften wie die Ausgedehntheit, die
Dreidimensionalität, die sinnliche Vielfalt werden, gemessen an ihrem
Dingcharakter, schattenhaft, ja uneigentlich – eben zu Bildern.
Wie kommt diese Transformation zustande? Dinge werden nicht mehr mit
den Muskeln erfahren und erspürt, so dass sich zeitlich keine längere oder
kürzere Einheit von muskulärer Empfindung mit dem jeweiligen Ding bildet.
Denn Dinge sind immer widerständig und zwar – das ist wichtig – spezifisch
widerständig: Ein Stein ist schwer, ein Esel störrisch, eine Pflaume weich,
ein Fluss reißend, ein Waldpfad uneben, ein Berg steil, der Weg lang, ein
Bleistift gleitend. Genau um diese denkbar »direkteste« Erfahrung der
Schwere, des Störrischen, Weichen, Reißenden, Unebenen, der Steile, Länge,
des Gleitenden geht es, durch ihren Verlust ist die conditio humana
gefährdet. Erst über muskuläre Tätigkeiten in Auseinandersetzung mit der
Umwelt, die über taktile, vestibuläre und kinästhetische Sinne gefühlt
werden, findet eine reale Aneignung, eine Verkörperung statt, weil diese –
aus materieller Sicht – die denkbar nächste Nähe zwischen Subjekt und Ding
herstellt.
Was heißt in diesem Zusammenhang »verkörpern«? Eine Antwort wäre in
einem zugegebenermaßen problematischen, bereits im Barock verwendeten Bild
zu finden: Die vielfältigen Dinge wirken wie ein Prägestock, der auf die
Muskeln angesetzt wird und dort – wie auf einem Film – die Dinge als Negativ
»abbildet«: Der Weg zum Bergplateau als Negativ mit seiner Steigung und dem
Gefälle, mit seinen unterschiedlichen Unebenheiten in Form von kleinen
Felsbrocken, Grasbüscheln und zu überquerenden Rinnsalen, mit seinen
Brücken, aber auch das Ausweichen vor Kühen, das kurze Stehenbleiben, um mit
Entgegenkommenden einige freundliche Belanglosigkeiten auszutauschen. Was
davon sofort oder später ins Bewusstsein dringt, ist ein anderes Thema. Zu
unserem Thema gehört aber die wichtige Einsicht, dass Eigenbewegung und
jeweiliger Raum eine unaufhebbare Einheit bilden und beide Dimensionen
gleichwertig sind: Bewegen und Wald, Bewegen und Stadt, Bewegen und Halle.
Eine Einheit, die in der Fremdbewegung sich nicht bildet. Man sollte
deshalb immer nur vom jeweiligen Bewegungsraum oder noch besser vom
Lebensraum sprechen. Innerhalb dieser Lebensräume gibt es natürlich auch
Wert-Unterschiede: Eine Gefängniszelle ist sicherlich ein weniger
wünschenswerter Lebensraum als ein Stadthaus am Park, um gleich ein Argument
gegen die modische Ausklammerung aller Werte zu geben. Und: Bewegen in einem
monotonen Raum (z. B. in sportfunktionalen Räumen) ermöglicht zwar
Erfahrungen vom eigenen Körper, vermittelt aber auch unaufhebbar die
Erfahrung dieses monotonen Raumes (deswegen stellt sich schnell Überdruss
auf dem Hometrainer oder beim Rundenlaufen auf dem Sportplatz ein). Noch
problematischer: Wir gehen nicht mehr auf Welt zu, sondern die Welt kommt in
symbolischer oder ikonischer Form auf uns zu. Wir empfangen sie sitzend
(homo sedens). Hier wird eine Chance von Humanität verpasst. Man kann und
sollte, wenn immer es geht, Eigenbewegung in interessanten natürlichen,
kulturellen und sozialen Räumen suchen. Zur Qualität dieser Räume gehört
auch, dass sie ungeplante Zufälle, Neues und Überraschungen, ja das ganze
Leben zulassen.
Die wesentliche Erkenntnis dieser Analyse ist: Sinnlich nimmt der
Mensch Welt entweder über die visuellen, auditiven, gustatorischen und
olfaktorischen Sinne wahr oder über die taktilen, kinästhetischen und
vestibulären. Letztere registrieren die Veränderungen der Muskeln und
drängen sie ins Unbewusste ab oder entlassen sie ins Bewusste. Am Anfang der
Weltaneignung stehen also entweder primär die Muskeln oder primär die
Sinnesorgane, insbesondere der visuelle Sinn.
In den Aussagen zum Weltverhältnis wurde die Beziehung der
Eigenbewegung zur jeweiligen Umwelt analysiert und bestimmt. Nun vermag der
Mensch diese Weisen der Welterfahrung auch auf sich selbst anzuwenden, so
dass er sich gewissermaßen aus der Außenperspektive selbst sieht. Ein
Defizit, zumindest Problem besteht darin, dass dieser Mensch sich mit den
Begriffen und Strukturen der Außenwelt beschreibt und damit nicht wirklich
bei sich ist,[42]
das heißt, Subjekt und Objekt sind gespalten.
Es gibt aber neben dieser »Selbstschau« die Möglichkeit, ein primäres
Selbstverhältnis aufzubauen: Auf der Grundlage muskulärer Tätigkeiten hat
der Wahrnehmende die Möglichkeit, direkt in Kontakt zu sich selbst,
zumindest zu seinem eigenen Muskelsystem zu treten. Das Adjektiv »eigenes«
ist hier in aller Tiefe und Umfang systematisch und genetisch als
einzigartig Individuelles aufzufassen: Im Muskelsystem sind entsprechende
Erfahrungen eines ganzen Lebens gespeichert. Ob man – wie Schopenhauer – den
im Leib verorteten Willen mit dem kantischen Ding an sich gleichsetzt und
weiter zugespitzt von einem Eigenbewegungs-Apriori ausgeht, kann und soll
hier nicht entschieden werden, lenkt aber auf die existenzielle Bedeutung
der Eigenbewegung hin. Im Gegensatz zu sinnlichem Erkennen liegt hier
Identität von erkennendem Subjekt und Erkanntem vor. Das Sehen kann sich
eben nicht sehen, aber die Muskeltätigkeit wird direkt bemerkt und gefühlt,
was nicht ausschließt, dass das Gefühlte später versprachlicht wird. Aus der
Sicht dieses relativ sicheren Erkenntnisbodens muss man die direkten
»Selbstaussagen« des Muskelsystems zu Behändigkeit, Müdigkeit, Können oder
Nichtkönnen von Bewegungsabläufen im Mikrobereich (»Ich kann das Fahrrad
reparieren«) und Makrobereich (»Ich kann Fahrrad fahren«) zu »verstehen«
versuchen. Die damit einhergehenden psychischen Kräfte, insbesondere
Willenskraft und Formen der Identität, können daher auch relativ sicher in
Selbstaussagen beschrieben werden.
Werte
Nach der
Theorie der sogenannten verkörperten und situierten künstlichen Intelligenz
scheiterten bisher alle Versuche, autonome künstliche Intelligenzsysteme zu
realisieren auch daran, dass diese Systeme über keinen Körper verfügen[43].
Warum ist das ein Problem? Nur über den Körper gelangen die notwendigen und
unverzichtbaren Werte in das kognitive System. Sie entscheiden über
Setzungen, Selektionen und Präferenzen aus der unendlichen Zahl aller
kombinatorischen Möglichkeiten. So ist selbst die Setzung, Logik zur
Richtschnur von wahren und falschen Verknüpfungen zu machen, eine wertende.
Ginge man nicht von einem Leib aus, müsste man auf idealistische Konzepte
zurückgreifen, was im kognitivistischen Wissenschaftsverständnis nicht
zulässig wäre, oder emergenzphilosophische Konstrukte heranziehen. Als reale
Quelle und Erklärung bleibt dann nur der sich bewegende Körper übrig.
Das Paradoxon besteht also darin, dass eine der
avanciertesten und abstraktesten Wissenschaften wie die
Kognitionswissenschaft händeringend nach einem Körper sucht. Hier ist aber
nicht der »theoretische«, isolierte und bewegungslose Körper, sondern der in
Gesellschaft und Natur, in die jeweiligen Lebenswelten eingebettete gemeint.
Verzichten wir auf den Körper, so verzichten wir auf Vernunft, Kritik,
Modifikation, Weiterbildung oder Negation. Es bliebe ein einziger Wert
bestehen: die einmal überkommene und übernommene Aufgabe, alle
intern-geistigen und äußerlich-materiellen Hindernisse, die die
technologisch eingeschlagene Entwicklungsrichtung behindern, zu beseitigen.
Eine Haupteinsicht aus der künstlichen Intelligenzforschung lautet: Es gibt
keine leib-losen Werte.
1.5 Der
Kontext als umfassende Einordnung der Eigenbewegung
in Natur und Lebenswelt
In den
bisherigen Aussagen (1.1 bis 1.4) wurde die Eigenbewegung als Einheit von
Mensch und Weg gesehen. Dass diese Einheit nicht im luftleeren Raum steht,
wurde mehrfach betont. Deren Einbettung in Umwelten von verschiedenen
Reichweiten wurde bis jetzt aber nicht systematisch dargestellt. Diese
Bestimmung des Kontextes der Eigenbewegung soll nun im abschließenden Teil
erfolgen. Wenn man dem Diktum Hegels folgt, dass das Ganze die Wahrheit sei,
ist dieser Teil unabdingbar für das Verständnis der Eigenbewegung. Wenn man
eher pragmatisch orientiert ist, kann man mit gutem Gewissen die Lektüre
dieses Teiles auch auslassen.
Klimaveränderungen und Übergewicht sind Themen, die in den Medien momentan
stark präsent sind. Allerdings werden sie nicht aufeinander bezogen wie:
Übergewichtig sind viele Menschen, weil sie zeitlich überproportional
bewegungslos vor dem Fernseher und im Auto sitzen, wobei letzteres wiederum
wesentliche Ursache für die Klimaerwärmung ist. Es fehlt der Blick auf das
Ganze. Man erkennt nicht, dass der isolierte Körper eine höchste
Abstraktionsleistung ist. Erst die schrittweise Hinzunahme der Dimensionen
Bewegung sowie Raum und Zeit, ergänzt durch Bewusstseinsprozesse wie
geistiges Wachstum und Lernen, ergeben eine Ganzheit, die als die »wirkliche
Wirklichkeit« des Menschen aufgefasst werden kann. Diese Struktur bestimmt
die nun folgende Darstellung des Kontextes der Eigenbewegung. Die hier
eingeführten Dimensionen gehören also verschiedenen Abstraktionsebenen an.
Sie stehen in einem Inklusionsverhältnis, gewissermaßen wie eine russische
Puppe, deren »Kernpuppe« der sich bewegende bzw. bewegte Körper ist, der
wiederum von Raum und Zeit in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen
umschlossen ist. Alle Dimensionen bilden ein System, bedingen und wirken
aufeinander und werden so erst verständlich. Isoliert man eine von ihnen in
der Darstellung, entstehen Abstraktionen, die so in der Realität nicht
existieren, sondern ausschließlich das Ergebnis von Denkprozessen sind.
Losgelöst aus ihrem Kontext sind diese Dimensionen höchste Abstraktion und
somit am schwersten zu verstehen, weil immer das Ganze mitzubedenken ist.
Sprache dagegen ist nur in der Lage, sich auf eine Dimension zu
konzentrieren und sie darzustellen. Mit anderen Worten: Körper befinden sich
immer in Raum und Zeit und bewegen sich bzw. werden bewegt. Körper,
Bewegung, Raum und Zeit bilden eine unaufhebbare Einheit, die nur aus
analytischen Gründen in der sprachlichen Darstellung getrennt werden können
(und dürfen). Das aufzuheben, ist auch eine Aufgabe des Lesers.
Die Darstellung beginnt mit der Bewegung in der Natur im Sinne von
physis als ein rein physikalisches Phänomen (1.5.1), die dann erweitert wird
durch die »Hinzunahme« des Menschen und somit eine neue Qualität erlangt,
die mit dem Begriff »Lebenswelt« eingefangen wird (1.5.2) und mit dem
spannungsvollen Verhältnis von Leben und Determination bzw. Mechanik (1.5.3)
beendet wird.
Um das Leben gegen Ideologisierungen zu schützen, sei jetzt schon
die Formel »Leben = Determination und Freiheit« vorausgeschickt.
1.5.1 Bewegung (ohne den Menschen)
Eine reine Bewegung ist eine Abstraktion, denn
sie ist immer an einen Körper gebunden.
Der physische Körper
Körper sind
materielle, dreidimensionale, ausgedehnte Einheiten, also Steine, Pflanzen,
Gebrauchsgegenstände bis hin zu Molekülen.
Raum und Zeit in der Physik
Der isolierte Körper ist ein reines Gedankending.
Aber auch Raum und Zeit sind Gedankendinge, wir können sie nicht wahrnehmen.
Sie »existieren« entweder – wie Newton es sieht – absolut und objektiv, sie
sind unendlich, homogen, unbeweglich oder – wie Kant es sieht – im Subjekt
selbst: Raum und Zeit sind Anschauungsformen des Verstandes. In beiden
Denksystemen gibt es keinen wahrnehmbaren Raum und keine wahrnehmbare Zeit.
Wir können sie nur intuitiv erfassen oder denkerisch erschließen. Die Zeit
der Uhr und die Distanzen der Entfernungsmesser sind nichts anderes als
intersubjektive Konventionen, haben substanziell mit Raum und Zeit nichts
gemeinsam.
Körper »haben« Bewegung in Raum und Zeit
Körper sind in Raum und Zeit nicht bewegungslos
eingeschlossen wie Insekten im Bernstein. Sie verändern ständig ihre
Positionen und sind zudem in sich beweglich. Auch Raum und Zeit sind
offensichtlich in sich und in ihrem gegenseitigen Verhältnis dynamisch.
Bewegung ist universell, alles ist in Bewegung: langsamer oder schneller,
aktiv oder passiv, innerlich oder äußerlich. Es gibt keinen absoluten
Stillstand oder Ruhe. Das Weltall ist Bewegung, die Erde bewegt sich, und
wir drehen uns mit. Die Evolution ist eine Bewegung, ebenso die Geschichte
und das menschliche Leben. Selbst feste Stoffe bestehen letztlich aus
molekularen Bewegungen.
Weil alles sich bewegt, lässt Bewegung (und das
sind nicht nur die visuell wahrnehmbaren Phänomene) sich nur beschreiben,
wenn sie in Bezug gesetzt wird zu einem anderen System, das sich »leider«
wiederum selbst bewegt. Deshalb sind hier nur relative Beschreibungen
möglich. Denn es gibt zumindest für den lebenden und erkennenden Menschen
keine absolute Ruhe und damit keinen archimedischen Punkt. Panta rhei, alles
fließt – und das ist auch gut so.
1.5.2 Die Eigenbewegung des Menschen
Pflanzen, Tiere und Menschen haben ihre subjektive Lebenswelt mit
deren spezifischen Inhalten und Strukturen. In dieser Arbeit wird
»Lebenswelt« im eigentlichen Sinne, nämlich als die des Menschen aufgefasst.
Der menschliche Leib
Der Leib des
Menschen aus der Außenperspektive betrachtet ist wie alle Dinge ein Körper.
Aber er ist mehr als der materielle Körper, denn er ist auch Geist und
Seele. Geist meint hier Bewusstsein und Selbstbewusstsein, den logischen
Verstand und die moralisch-metaphysische Vernunft. Seele meint dagegen eine
innere Ausgerichtetheit, die Aspekte der eigenen Leiblichkeit und Ästhetik
bis hin zur Religiosität umfasst.[44]
Geist und Seele bilden mit dem bewegten Körper eine Einheit, in der sich
erst in diesem Zusammenspiel Eigenes, Freiheit, Selbststeuerung, auch
Unverfügbares zeigen.
Der Leib des Menschen kann also aus zwei Perspektiven verschieden
gesehen werden: Erstens ist der Leib aus der Beobachterperspektive, die sich
nur an das Sichtbare hält, ja halten muss, ein materielles Ding unter vielen
anderen. Ein Sonderfall ist die nach innen gewendete Außenperspektive, die
mit Hilfe der Empathie versucht, sich in das Innere eines von außen
beobachteten menschlichen oder tierischen Körpers einzufühlen und
einzudenken. Zweitens aus der Binnenperspektive, aus der Perspektive des
Ichs, der Ersten-Person-Singular, wird aus dem Körper ein Leib wird. Erst
hier macht es überzeugenden Sinn, weil auf Eigenerfahrungen beruhend, von
Seele und Geist zu sprechen. Erst hier öffnet und erschließt sich der
Reichtum des inneren Kosmos mit seinen Welt- und Selbstkonstruktionen, den
Gefühlen, Phantasien, Träumen, Wünschen, der Möglichkeit der Freiheit.
»Dieses Ich hat eine beflügelnde Gewissheit entdeckt: die Einheit seines
Selbstgefühls ist ihm ein Spiegel für die Einheit der Welt.«[45]
Mit diesem Reichtum steht die Bewegung des Leibes in engster
Wechselbeziehung, ist ihr Eindruck und Ausdruck. Der Schluss liegt nahe: Wer
auf Eigenbewegung verzichtet, beschädigt sein Ich.
Raum und Zeit in der Lebenswelt
Wenn also Raum und Zeit im Sinne von Newton, Kant und Einstein uns
Menschen nicht sinnlich zugänglich sind, wobei nicht einmal sicher ist, ob
es überhaupt so etwas wie einen objektiven Raum bzw. eine objektive Zeit
gibt, wir aber mit ihnen hantieren wie mit Dingen, dann wird klar, dass Raum
und Zeit zuallererst Konstruktionen sind. Auch das jeweilige Verhältnis
zwischen Raum und Zeit ist dann eine Konstruktion. Diese Einsicht nimmt der
Begriff »Lebenswelt« ernst. Er meint die Welt, die die Individuen und
Kollektive sich jeweils selbst schaffen. Dieser Konstruktionscharakter wird
besonders deutlich im Kinderspiel, wo Raum und Zeit Bedeutungen erlangen
können, die Erwachsenen vollkommen irreal erscheinen. Die Spielenden lösen
sich von der Dominanz der scheinbar objektiven Zeit und des scheinbar
objektiven Raums. Die Erwachsenen bemerken ihre eigenen subjektiven
Konstruktionsanteile insofern nicht, weil sie im großen Ausmaß von allen
intersubjektiv geteilt werden.
Man dürfte eigentlich nicht von konkreten oder gar objektiven Räumen
(und Zeit) sprechen, sondern nur von mehreren Körpern, die als eine Ganzheit
aufgefasst werden. So besteht ein Wohnraum aus Tischen und Stühlen, aber
auch aus vier Wänden, einer Decke, einem Fußboden, die Waldlichtung aus
Gräsern und Bäumen. Aber wo hört der Raum »Waldlichtung« auf? Raum wäre
eigentlich nur das, was die Körper durch ihre Ausdehnung (res extensa)
ausfüllen. Oder hat Parmenides doch Recht, wenn er sagt, es gäbe kein
Nichts, sondern nur Sein? Dann gäbe es keine Distanz, kein Dazwischen, alles
wäre Raum. Aber auch das ist eine Konstruktion.
Der Leib »hat« Bewegung in Raum und Zeit
Man kann die menschliche Bewegung als einen Sonderfall der Bewegung
der Natur (Physis) auffassen – als die Subjektwerdung eines Teils der
Bewegungen in Raum und Zeit, die zusammen die Lebenswelt sind. Diese
Bewegungen, aus Reflexen und Instinkten entstanden, sind anfänglich (oft
vielleicht ein Leben lang) von innen und auch von außen stark determiniert.
Aber zwischen Innen und Außen schob sich im Laufe der Evolution ein Drittes
(bzw. der Mensch wurde damit begabt) und zwar das relativ autonome, mit der
Möglichkeit der Freiheit ausgestattete Ich. Das wird anthropologisch immer
dann missverständlich, ja gefährlich interpretiert, wenn entweder die
Freiheit oder die (innere und/oder äußere) Determination verabsolutiert
wird. Der Mensch ist eben beides, frei und determiniert.
Naive Kultur, Raumkultur und Zeitkultur
Die bereits dargestellte Spaltung der Kultur in eine muskuläre und
neuronale ist nicht naturwüchsig, sondern Folge von
historisch-gesellschaftlichen Bedingungen und Entscheidungen. Waren hierbei
physiologische Strukturen der Ausgangspunkt, wird die im Folgenden
behandelte Spaltung in Raumkultur und Zeitkultur aus verschiedenen
Sichtweisen auf Welt dahingehend zurückgeführt, ob sie eher als ruhend,
gegenständlich ( = Raumkultur) oder als Veränderung, Werden ( = Zeitkultur)
aufgefasst werden.
Zwischen Raumkultur und muskulärer Kultur bzw. zwischen Zeitkultur und
neuronaler Kultur bestehen große Affinitäten. Trotz erkenntnistheoretischer
Bedenken zugespitzt ausgedrückt: Raum wird eher von den Sinnen wahrgenommen,
Zeit wird eher vom Denken aus Dingen erschlossen. Angemerkt sei, dass sowohl
die Spaltung in muskuläre und neuronale Kultur als auch in Raum- und
Zeitkultur und ihre jeweiligen Verhältnisse zueinander die denkbar größten
Folgen nicht nur auf Theorienbildungen und Ideologien von Welt und Mensch
haben, sondern ebenso auf die jeweilige Gestaltung der Lebenswelten und auf
die Fortbewegung.
Man kann ohne modische Aufgeregtheit in der Neuzeit eine Raumkultur
deutlich von einer Zeitkultur[46]
unterscheiden. Denn Befund ist, dass Individuen und Kollektive die
Schwerpunkte ihrer Wahrnehmungen, Handlungen und Denkprozesse entweder auf
das Sein der Dinge und ihre Zusammenhänge bzw. Beziehungen legen (das wäre
dann eine Raumkultur) oder auf die Veränderungen der Dinge und ihre
Beziehungen, das sind die sich bildenden zeitlichen Strukturen (das wäre
dann eine Zeitkultur). An einem Beispiel verdeutlicht: Wenn ich in Würzburg
bin und die Festung Marienberg besichtige, bin ich schwerpunktmäßig in den
Dingen, in einem konkreten Raum, in der Raumkultur. Wenn ich dagegen vom Zug
aus auf der Fahrt von Hannover nach München diese Festung sehe und diese
Wahrnehmung mich denken lässt, dass die Hälfte meiner Fahrt geschafft sei
oder, dass Würzburg in der spätgotischen Kunst Riemenschneiders eine
wichtige Phase der Kunstentwicklung gewesen sei, dann lebe ich
schwerpunktmäßig in der Zeit, in der Zeitkultur. Wohlgemerkt, es handelt
sich immer um eine Akzentuierung und Konzentration auf eine der zwei
Dimensionen, nämlich Raum oder Zeit, ohne dass die jeweils andere
verschwindet.
Wenn Raum oder Zeit akzentuiert werden können, so
dass man von zwei verschiedenen Kulturen spricht, dann stellt sich die Frage
nach einer Kultur ein, die weder Raum noch Zeit akzentuiert, wobei, um es
noch einmal deutlich zu machen, Akzentuierung nicht bedeutet, außerhalb des
Raumes und der Zeit zu sein. Diese Kultur vor der Raumkultur und der
ihr nachfolgenden Zeitkultur nenne ich in Anlehnung an Martin Burckhardt
»naive Kultur«. Auch sie ist nach dem oben Gesagten selbstverständlich eine
Konstruktion, aber eher eine natürliche in dem Sinne, dass keine
wesentlichen technischen Gegebenheiten, sondern Naturfaktoren bestimmend
waren. Die naive Kultur denkt Welt und Menschen als von einem transzendenten
Subjekt (Gott, Natur, Fatum) erschaffen und gelenkt, wobei im Erschaffenen
der Geist des Schöpfers erhalten bleibt: Die Dinge sind belebt, animistisch,
göttlich. Regelmäßigkeiten gibt es und werden erkannt und genutzt, aber sie
können ständig willkürlich von dieser transzendenten Macht unterbrochen und
geändert werden mit der Folge, dass Unsicherheit für den Menschen ständig
anwesend ist. Dass die Welt und damit Zeit und Raum grundsätzlich anders
sein könnten, als sie in transzendenter Abhängigkeit sind, ist nicht denkbar
und damit auch nicht realisierbar und wird von daher auch gar nicht
versucht.
Der Übergang von der naiven Kultur zur Raumkultur
ist das Ergebnis einer technischen Erfindung, der Uhr, und damit die
Bedingung eines strikt mechanistischen Denkens und Handelns, weil die Uhr
ein (Raum-)Ding ist.[47]
Der nächste Übergang von der Raum- zur Zeitkultur ist das Ergebnis einer
Revolution gegen die in der Raumkultur sich durchsetzende Dominanz des
Mechanischen.
Diese drei Kulturen: naive Kultur, Raum- und
Zeitkultur, folgen zwar zeitlich aufeinander, ergreifen aber längst nicht
immer alle Teile der Gesellschaft – zumindest nicht gleichzeitig. Selbst in
der Gegenwart und in einzelnen Köpfen existieren die drei Kulturen in
unterschiedlichen Stärken nebeneinander.
Raumkultur
Die äußere Determination durch Naturverhältnisse und Gesellschaft
erfuhr im 10. Jahrhundert durch die Erfindung der Uhr eine folgenreiche
Stärkung, deren positive und negative Folgen bis jetzt noch nicht abzusehen
sind. Mit dem Modell der mechanischen Uhr wird neben der natürlichen eine
künstliche, von Menschen geschaffene Determination größten Ausmaßes in die
Welt gebracht. Alle nachfolgenden Maschinen folgen dieser aus dem Denken des
Menschen geschaffenen Determination. Kant hat Recht: Mechanik,
Determination, Gesetze sind nichts Außermenschliches. Die Erfindung der Uhr
löste einen Paradigmawechsel aus, weil hier in einem Teilbereich ein von
Menschen erdachtes System sich exemplarisch vollständig von der Natur
emanzipiert und diese überformt. Die Uhr funktioniert automatisch, ohne
Fehler, ohne Gebet ― wenn sie denn gut gearbeitet ist. Der Mensch erfährt
zum ersten Mal, dass es bei der Herstellung dieses Produktes ganz allein auf
sein Denken und Handeln ankommt, was von entscheidender Bedeutung für die
Entwicklung des Menschen hin zum Subjekt im neuzeitlichen Sinne ist, vom
Unterworfenen hin zum autonomen und damit verantwortlichen Träger und
Produzenten aller Kultur ist.
Mit der Uhr beginnt der Einbruch und die
zunehmende, noch nicht abgeschlossene Dominanz des Mechanischen, das
augenscheinlich als Maschine die Arbeitswelt, aber noch stärker das Denken
beherrscht. Nicht nur der Mensch wird als Maschine gedacht (Lamettries
»L’homme machine«), sondern auch die Erde wird als eine Art Uhr aufgefasst
und Gott als Uhrmacher interpretiert. In der Uhr wird die Zeit »eingefangen«
und als Einheit von Hemmung und Unruhe zum gleichmäßigen Ticken gebracht.
Die Zeit wird verräumlicht. Deswegen macht es Sinn, hier insgesamt von
Raumkultur zu sprechen. Aus der subjektiven wird die objektive Zeit
konstruiert. Nun erst ist die Zeit wie der Raum eine absolute, selbständige,
autonome Einheit, etwas Regelmäßiges, Festes und Berechenbares. Die Uhr
bestimmt in Sekunden, Minuten, Stunden die Abläufe der Welt. Der absolute
Raum legt sich in Form eines Koordinatensystems aus Längen- und
Breitengraden über die Dinge der Welt. In einem Bild: Zeit und Raum werden
eingefangen und domestiziert wie wilde Tiere. Erst jetzt verfügt man über
ein Instrument, Handlungsabläufe des Menschen in Raum und Zeit exakt,
gewissermaßen objektiv zu bestimmen.
Das sind
allerdings fast unbemerkte Prozesse, die langsam und in unterschiedlichen
Bereichen in den nun entstehenden Wissenschaften und in der Alltagswelt sich
durchsetzen: Das sichtbare Faszinosum bleibt aber die Uhr, genauer: ihre
Mechanik und damit ihre für den Menschen vollkommene Durchschaubarkeit (das,
was Giovanni Battista Vico später auf die Kurzformel »manum factum verum«
bringt). Die mechanische Uhr wird zum Modell für das Erklären der Welt und
aller organischen und anorganischen Einheiten. Diese mechanistisch gesehenen
Einheiten enthalten nur systemfunktionale Elemente, alle ihre Abläufe sind
von kausal-finaler Natur[48],
weil sie nur dem Systemzweck dienen (so wäre der Zweck der Uhr die
Zeitmessung, der Zweck des Menschen, eben verstanden als Maschine, seine
Selbsterhaltung). Nun erst kann das Diesseits in den Mittelpunkt des
Interesses (inter-esse = dazwischen sein) rücken. Die Dinge bekommen dadurch
Eigenwert, ihnen wird Substanz zugestanden. Das Feste – im Gegensatz zum
Flüssigen – ermöglicht die eindeutige Ordnung der Dinge, es gibt nur eine
Wirklichkeit, die mechanische. Eine Auffassung, die Freiheit nicht
systematisch denken kann.
Zeitkultur
Gegen dieses mechanistische Weltbild und den sich
daraus entwickelnden Materialismus wendet sich »eine Aufklärung innerhalb
der Aufklärung«, wobei hier insbesondere die sentimentalistische Periode
(eingeleitet durch Shaftesbury), die idealistische Philosophie (Kant) und
die Romantik (Novalis) zu nennen sind. Und damit wären wir beim zweiten Riss
oder Paradigmawechsel im Denken des Menschen angelangt. Kant zerstört das
homogene, in sich geschlossene mechanistische und monistische Weltbild durch
seine sogenannte »kopernikanische Wende«, die von der grundsätzlichen
Unerkennbarkeit der Welt, des Dings an sich ausgeht und die konstitutive
Leistung des erkennenden Subjekts herausstellt, das auf Grund seiner
Freiheit notwendigerweise nicht nur von dieser kausal fundierten Welt ist.
Es gibt nach Kant also eine zweite, transzendentale Welt, die, vollkommen
unabhängig von der von Kausalitäten bestimmten Natur, als Freiheit im
menschlichen Handeln wirkt. Kant ist Dualist.
Damit sind
Voraussetzungen für eine Zeitkultur geschaffen, nicht zuletzt vermittelt
über das neue Arbeitsethos, deren Hauptmerkmal die Destruktion und
Konstruktion ist, woraus sich die Einheit der Dekonstruktion ergibt: Altes
wird und muss zerstört werden, damit Neues entstehen kann, das wiederum zum
Alten wird – ad infinitum. Die Zeitkultur ist die Verabschiedung vom Festen,
das verflüssigt wird, die Substanz wird durch die Funktion ersetzt.
Sowohl in der
Raumkultur als auch in der Zeitkultur wird der Mensch in seiner Stellung im
Universum gestärkt. Aber in der Raumkultur – um die unterschiedlichen
Positionen des Subjekts in beiden Kulturen deutlich zu machen – unterwirft
sich das Subjekt einerseits dem mechanistischen Paradigma, andererseits
erhebt es sich, weil es autonom auf allen Gebieten mit diesen Gesetzen
arbeitet und Welt verändert und gestaltet. In der Zeitkultur emanzipiert
sich der Mensch von den mechanistischen Vorgaben, wenn sie in absolutem
Anspruch auftreten, und wird damit wirkliches Subjekt, also auch Herrscher
über die Zeit.
Mit dieser
Hinwendung zum konstituierenden Subjekt und dessen Verabsolutierung entsteht
die große Gefahr der Illusionsbildung z. B. als Allmacht. Aber das Subjekt
vermag nicht, wie weiland der Baron von Münchhausen, sich aus seiner
Bedingtheit zu lösen und als absolut erkennendes und moralisches Wesen zu
agieren.
Kant selbst
mit dem empirischen Sinnkriterium (nur Sinnlichkeit und Verstand
ermöglichen Erkenntnis) und Goethes Kampf gegen die (realen oder
vermeintlichen) Untiefen des romantischen Lebensgefühls versuchen vergebens,
Pflöcke gegen den Einbruch des Irrationalen zu setzen. Ihre Kritik der
Kritik kann sich nicht durchsetzen. Nietzsche und seine Nachfolger in
Deutschland und insbesondere in Frankreich treiben den Prozess an diesen
Einwänden vorbei weiter voran, wobei ihre Denkbewegungen offensichtlich im
Relativismus und in prinzipieller Unsicherheit auslaufen oder gar verlaufen:
Die Frage nach der Vernunft der Vernunft, die legitim und auch sinnvoll ist,
weil sie für die gewalttätigen Momente der Vernunft sensibilisiert, ist
nicht vernünftig zu beantworten. Zur Vernunft gibt es offensichtlich keine
überzeugende Alternative – strukturell also das Gleiche, was für die
Demokratie gilt.
Die Verzeitlichung der Räume, das Wesen der Zeitkultur, hat
zusätzliche reale problematische Auswirkungen, die wir gerade erst zu
erkennen beginnen und am eigenen Leibe zu spüren bekommen: Die Objekte sind
nicht mehr primär Objekte, »die man feststellt und klassifiziert, es sind
flüchtige, vorüberstreifende Phänomene. Der Blick, der an den Dingen
vorübergleitet, notiert nicht mehr das Einzelne, er notiert Wiederholungen,
Rhythmen, er skandiert die Dinge, ihre Struktur ihre Differenz«. Und: »Die
Wahrnehmung beginnt durch die Dinge hindurch zu fließen […]«.[49]
Die Substanz wird durch die Funktion ersetzt, die Dinge verflüssigen sich.
Auch dagegen gibt es natürlich Gegenwehr, sei es in Rilkes Symbolismus, sei
es der Aufruf der Phänomenologen zur »Rückkehr zu den Sachen«. Jedoch
favorisiert der Hauptstrom der theoretischen Reflexion sowie auch der
Lebenspraxis zunehmend Verflüssigung, Beschleunigung, Prozess und
Virtualisierung.
Die drei Kulturen in der Gegenwart
Die drei Positionen der Weltsicht, die
naiv-lebendige, die räumlich-mechanische und die zeitlich-prozessuale, sind
unhintergehbare menschliche Errungenschaften, wobei jede ihre Stärken und
Schwächen hat. Der geschichtliche Prozess verlief auch nicht dergestalt,
dass eine Phase die vorhergehende ablöste oder auslöschte. Auch heute sind
alle drei Kulturen rein, aber auch als Mischformen vorzufinden.
Im Folgenden
finden sich zusätzliche Anmerkungen zu Raum und Zeit, um dieses schwierige,
letztlich grund-lose Thema ein Stück weiterhin zu erhellen:
� Zeit
»frisst«, oft sichtbar, Körper bzw. Räume, Zeit zerstört sich aber auch
selbst (das Morgen, das Gestern); Räume, wenn man sich in ihnen verliert,
lassen die Zeit vergessen (in der Galerie); Räume können von Fremdbewegungen
vernichtet werden (»to do Europe in nine days«).
� Körper und Räume verflüssigen sich in der
Realität, in Medien, in der Wahrnehmung sowie im Denken. Die Körper sind
nicht mehr feste Substanzen mit eindeutigen, sichtbaren Eigenschaften, die
man feststellen und klassifizieren kann, sondern sie werden flüchtig
vorüberstreifende Phänomene oder Zeichen. Durch Lösen von den fixierten
Phänomenen und Zeichen werden – und das ist ein Gewinn – neue, vorher nicht
wahrnehmbare Strukturen, Rhythmen, Muster sichtbar, eben das, was das Wesen
der Theorie ausmacht, die ja auch aus der Distanz, gewissermaßen aus der
Vogelperspektive, auf die Dinge und dort insbesondere auf die Beziehungen in
Raum und Zeit schaut. Auch ist die Erfindung des abstrakten Zeit- und
Raumbegriffs ein Fortschritt, denn sie ermöglicht große
Organisationsvorteile. Wer möchte ein Bahnsystem ohne Fahrpläne, wenn jetzt
bereits Minutenabweichungen Weltschmerz verursachen?
� Der Auflösungsprozess der festen Stoffe
wird nicht nur vom Subjekt erkannt, sondern ist sicherlich auch selbst
Ursache für seinen eigenen Verflüssigungsprozess. Das Subjekt verliert an
Konturen, an Festigkeit, so dass von ihm behauptet werden kann, eine Fiktion
zu sein, kurz: das Subjekt ist tot. Ich denke, man ist gut beraten, von
einem wechselseitigen Bedingungs- und Beeinflussungsprozess zwischen Subjekt
und Welt auszugehen, in welchen Proportionen und welcher Situation auch
immer. Zumindest ist der Mensch nicht tot, denn mit Sicherheit gehen alle
nicht-natürlichen Veränderungen vom Menschen aus. Dabei ist natürlich nicht
ausgeschlossen, dass er in diesem Prozess eine Funktion der Gesellschaft und
der Umwelt oder gar der Evolution ist. Aber man sollte die positiven
Möglichkeiten nicht aus dem Blick verlieren. Sloterdijk spricht in diesem
Zusammenhang vom Subjekt als einem dynamischen Wachheitszentrum.
� In der Zeitkultur werden Körper im
Zeichen verdoppelt oder durch Zeichen ersetzt. In der Regel bestehen die
Körper weiter, aber sie existieren im Bewusstsein nicht mehr als Erfahrung,
sondern eben als Zeichen. Zeichen sind aus der Sicht des Handelnden, wenn
Konstruktionswille und Konstruktionskompetenz vorhanden sind, absolut
beherrschbar. Aus der Sicht des Empfängers sind Zeichen, auf die er sich
einlässt oder einlassen muss, herrschend – von wenigen Abwehrmöglichkeiten
abgesehen.
� Die Reduktion der Dinge auf Anzahl, Maß
und Gewicht bereitet sie auf ihre Zeichenexistenz vor.
�
Vielleicht kann man die Rückkehr des Fundamentalismus als Aufstand gegen die
Verflüssigung der Welt verstehen.
� Es gilt, Raum- und Zeitkultur in ein
humanes und ökologisches Verhältnis zu bringen. Die hier explizit und
implizit vertretene Position ist gegenüber der sich gegenwärtig
verabsolutierenden Zeitkultur kritisch, weil diese Kultur nicht der
Veränderung schlechter Verhältnisse dient, sondern konkret primär der
Ausbreitung technologisch vermittelter Beschleunigung, das, was bereits
Goethe hellsichtig als veloziferisch kritisierte. Die inhaltliche
Zeitbewegung hat naturwüchsigen Charakter angenommen und immunisiert sich
damit gegen Kritik.
� Ob die
zu Beginn der Zeitkultur einsetzende hohe Wertschätzung der »Fußreise«[50]
bereits eine Antwort auf diese »Verflüssigung der Welt« gewesen war, sei
dahingestellt, zeigt aber sowohl Korrektiv als auch Widerspruch an.
� Raum- und Zeitkultur sind Konstruktionen,
die, wie jede Kultur, Vor- und Nachteile haben. Die Verabsolutierung der
einen oder anderen Kultur wäre unklug, weil sie menschliche Möglichkeiten
verhindert und damit inhuman ist.
Abschließendes
zu Raum und Zeit
Der Mensch verfügt heute über zwei Möglichkeiten der Ortsveränderung:
im Modus der Eigenbewegung und im Modus der Fremdbewegung. Die Eigenbewegung
ist immer eine lebendige, so dass in ihr Momente der Freiheit und der
Determination in situationsabhängigen Mischungsverhältnissen enthalten sind,
während die mechanische Fremdbewegung in sich immer eine reine Determination
ist. In der Zeitkultur hat das Moment der Freiheit – auch wenn es paradox
klingt – tendenziell die absolute Herrschaft: Alles Feste löst sich auf und
verdampft zu Beziehungen. Das kann – wie bereits gesagt – sinnvoll und ein
Fortschritt in der Entwicklung der menschlichen Kultur sein. Gefährlich wird
es, wenn diese Kultur sich verabsolutiert und zur einzigen »wirklichen
Wirklichkeit« wird.
Die Eigenbewegung ist ein wirksames Gegenmittel gegen die
Verflüssigung der Welt und des Subjekts. Aber nicht jede Eigenbewegung ist
gemeint: nicht die in informationsarmen, monotonen Räumen und auch nicht die
geregelte und uniformierte, sondern Eigenbewegung in sinnen- und sinnvollen
Umwelten. Sie emanzipiert sich von der objektiven Zeit, aber auch vom
mechanisierten Raum und ist so gesehen rückwärtsgerichtet. Zumal es nach
Meinung vieler Menschen ohne Eigenbewegung besser, schneller und bequemer
ginge.
1.5.3 Ersetzen der lebendigen
Eigenbewegung
durch technische Fremdbewegung
Eine Bewegung kann man nicht sehen, man sieht nur
Körper, die sich bewegen. Einem Körper sieht man es aber nicht an, ob er
sich durch Eigenbewegung oder Fremdbewegung fortbewegt. Sichere Aussagen
darüber kann nur ein sich bewegender Mensch machen: »Ich fühle (und damit
weiß ich), dass ich mich bewege«. Diese relativ kleine, rein subjektive
Sicherheitsbasis der Eigenbewegung ist vielleicht auch ein Grund für den
Siegeszug der mechanischen Fremdbewegung. Plausibilität bekommt dieser Trend
durch folgende »äußere« Entwicklung: Der Mensch ist zunehmend in der Lage,
natürliche Bewegungen (also auch seine eigenen) durch technische zu
ersetzen, sie in eine bestimmte Richtung zu lenken und zu beschleunigen, ja
er kann heute grundsätzlich jeden festen Stoff, alles Zusammengefügte,
jegliche Ordnung verflüssigen und verdampfen, um noch einmal Bilder von Karl
Marx und Zygmunt Baumann zu verwenden. Aus Substanzen werden Prozesse bzw.
Funktionen. Der überkommene Kosmos wird entqualifiziert, elementarisiert und
wieder neu zusammengefügt. Die Dekonstruktion der Welt scheint das
unbegriffene Ziel des dominierenden Zeitgeistes und damit nahezu aller
menschlichen Handlungen zu sein. Aber man muss deutlich erkennen, dass diese
Dekonstruktion gewissermaßen eine »zusätzliche« Bewegung ist, eine Bewegung
über die natürlichen Bewegungen hinaus, denn Bewegung ist immer ein Werden,
Vergehen und Neubeginn, Tod und Leben, Sein und Nicht-Sein. Zu den von
Menschen gemachten »zusätzlichen Bewegungen«, das, was im allgemeinsten
Sinne als Kultur bezeichnet wird, muss Stellung bezogen werden. Dazu gehört
auch, sie zu bewerten: »Fördert oder hemmt diese Bewegung Humanität? Soll
diese Erfindung umgesetzt werden? Ist die gegenwärtige Lösung der
Verkehrsfrage ökologisch vertretbar?« Das ist eine schwere Aufgabe, die oft
nicht alle zufrieden stellt, aber sie ist nicht zu umgehen und kann nicht
allein über rein formale Verfahrenswege gelöst werden, sondern es müssen
auch inhaltliche Entscheidungen getroffen werden.
2. Gewinne durch Eigenbewegung
A. Allgemeine Aussagen
Die Kernforderung lautet: Eigenbewegung in
interessanten natürlichen, kulturellen und sozialen Umwelten in
Alltagssituationen. Deswegen steht die Eigenbewegung selbst nicht so sehr im
Mittelpunkt, vielmehr der Schnittpunkt oder die Einheit von sich bewegenden
Menschen in ihrer jeweiligen Umwelt. Diese Interaktion an sich ist nicht
erkennbar und muss als eine black box aufgefasst werden. Erkennbar sind nur
die Folgen der Interaktion einerseits auf den Menschen, andererseits auf
seine Umwelt, in der er sich bewegt. Betont werden muss dabei, dass die
Intensivierung und Erweiterung der Eigenbewegung kein Paradies schafft (also
Ablehnung jeglicher Allmachtsphantasien), aber sie führt auf Zeit ein Stück
aus bedrückender Unwirtlichkeit und antriebsloser Uneigentlichkeit heraus.
Phänomenologie der Eigenbewegung
In meinen Aussagen konzentriert sich die Eigenbewegung auf die
Ortsveränderung. Eigenbewegung wird symbolisch durch den Fuß bzw. das Gehen,
Fremdbewegung durch das Auto dargestellt.
Zu Ortsveränderungen im Modus der Eigenbewegung gehören Gehen, Laufen,
Wandern, Spazieren, Schwimmen, aber auch Fahrradfahren, Rudern,
Rollerfahren, weil auch bei diesen Ortsveränderungen die körpereigene,
metabolische Energie die Antriebskraft ist. Muskeln, körpereigene Energie
und Weg bilden eine funktionale Einheit. Eigenbewegung ist ein hochkomplexes
Zusammenspiel aller physiologischen und psychischen Funktionen. Zur
Eigenbewegung gehören Ziele und Können, die wiederum Wissen über sich selbst
und über die Umwelt voraussetzen. Eigenbewegung und Umwelt verhalten sich
wie Schlüssel zu Schloss, sind aufeinander abgestimmt: Das Gehen auf
asphaltiertem Untergrund, über den Bohlenweg durch das Moor, auf der
Rolltreppe, im Zug, beim Verlassen nach einer Massenveranstaltung, auf einer
Bergwanderung nimmt jedes Mal eine andere innere und äußere Form an – und
muss gelernt bzw. kann eben auch verlernt werden.
Moderne Fußtherapien gehen davon aus, dass der Fuß mit dem gesamten
Leib eine Einheit bildet. Seine hoch differenzierte Struktur besteht aus 26
Knochen, die durch straffe Bänder funktional miteinander verbunden sind und
über die Beinmuskulatur mit dem Gesamtkörper. Gleiches gilt für das
neuronale System des Fußes, das in seiner Sensibilität und Effektivität oft
unterschätzt wird. Die Fußreflexzonenmassage hat das erkannt. Deswegen muss
auch der Wahl des jeweiligen Untergrundes – plan, uneben, natürlich – und ob
barfuss oder beschuht und mit welchen Schuhen, eine viel größere Bedeutung
beigemessen werden. Die Füße tragen den ganzen Körper, den leichten oder
schweren, den verspannten oder lockeren, den gesunden oder kranken, den
jungen oder alten, den sorgenbeladenen oder glücklichen. Immer müssen sie
sich dem jeweiligen Zustand anpassen, können diesen aber auch ein Stück
ändern und gegebenenfalls verbessern. Sie haben es wahrlich verdient,
beachtet zu werden, und man sollte ihnen danken. Aus dieser Perspektive
heraus gesehen ist der Fußfetischismus vielleicht gar nicht so abwegig,
zumindest haben die Füße einen großen Symbolcharakter (»Soweit die Füße
tragen«).
Die Möglichkeiten der Eigenbewegung sind groß – jedenfalls viel größer
als wir denken oder uns ausgeredet wird. Zehn Kilometer zum Arbeitsplatz per
Rad, vier Kilometer zum Theater oder drei in die Innenstadt per Fuß und das
täglich, sind kein Problem. Man muss nicht mit dem Auto zum Urlaubsort
fahren und von dort aus täglich anstrengende Autotouren unternehmen, die
vermuten lassen, dass der Urlauber alles liebt, nur nicht den angesteuerten
Urlaubsort. Warum nicht sternförmige Wanderungen unternehmen? Jeder
Urlaubsort, ob im Harz, in Mecklenburg oder in den Alpen, fordert dazu auf.
Statistisch gesehen werden die Füße in der Konsumgesellschaft
unterfordert. In zahlreichen Situationen können Weg und Füße zur Einheit
gebracht werden. Es gilt zu erkennen, dass der Weg auch ein Ziel ist.
Das Ziel zu erreichen, ist natürlich wichtig, sollte aber nicht im Sinne der
absoluten Zahl entschieden werden wie: Mit dem Auto nach X fährt man in fünf
Minuten, mit dem Rad in sieben, ergo muss ich das Auto nehmen. Der Weg ist
als positiver Faktor mit zu berücksichtigen.
B. Gedanken und Befunde zur Eigenbewegung
Ästhetik
– aisthesis, Schönheit:
In
Eigenbewegung ist Schönheit. Merkt Ihr es nicht? Diese Art der Schönheit
verschwindet aus dem Alltag, fristet ein Schattendasein und überlebt als
Inszenierung wirkungsmächtig in den Bildern des Fernsehens und der Werbung.
(1)
Die
Eigenbewegung selbst ist das Konkrete, nicht das Allgemeine. In diesem Sinne
ist die Eigenbewegung mit der Ästhetik (insbesondere im Sinne Adornos)
gleich zu setzen. Das Andere, das Fremde, das Widerstrebende wird
wahrgenommen und gewürdigt. Ästhetik ist nach Nietzsche in Wahrheit nichts
anderes als angewandte Physiologie. (2)
Ich
thematisiere nur einen Teil der aisthesis, der in der Ästhetik zumeist
ausgespart wird. In der Pinsel- und Meißelführung des Künstlers, im Dripping
von Jackson Pollock, der Werkzeugführung des Handwerkers zeigt sich bereits
die relative autonome Intelligenz der Körperbewegung, d. h. Muskelbewegung.
Die Eigenbewegung führt hin zum Besonderen, Fremdbewegung wie Autofahren auf
das (schlechte) Allgemeine. (3)
Zwei Straßen
entfernt zum Einkaufen zu gehen, birgt auch Schönheiten. (4)
Schönheit eines
Menschen offenbart sich primär in seiner Eigenbewegung. (5)
Rhythmus ist
Schönheit und Leichtigkeit, beim Autofahren gibt es nur langsameres oder
schnelleres Fahren, was man nicht als Rhythmus bezeichnen kann. (6)
Augenblick:
Der Begriff
»Augen-blick« hat ontologischen Charakter, wobei paradoxerweise die Kürze
des Blicks höchste Konzentration und Intensität ermöglicht. (7)
Eigenbewegung
ermöglicht Augenblicke und direkte Kommunikation, die immer in konkreten
Situationen stattfinden. Dort bin ich wirkliches, d. h. wirkendes
Subjekt. Das ist strukturell auch der Unterschied zwischen Ding und Bild,
während der Begriff als Möglichkeitsraum vom Subjekt mit Dingen und Bildern
ausgefüllt werden muss. (8)
Nur in der
Eigenbewegung gibt es direkten Kontakt und damit die Möglichkeit des
Augenblicks. Der Augenblick ist das Merkmal einer lebendigen sozialen
Situation. (9)
Auch im Alltag
kann und sollte man die Erfahrungen mit Licht, Wind, dem Rauschen der Bäume,
der Stille, dem Vogelgesang, dem Kinderjauchzen genießen. (10)
Bedeutung:
Bedeutung ist
immer intentional. Nicht alles, sondern nur »Etwas«, nur »bestimmte«
Elemente haben (innere) Bedeutung. Das sind dann die Phänomene, die von
unterschiedlichen Intensitäten und Klarheiten sind. Aber in den Dingen
müssen objektiv Eigenschaften vorhanden sein, die für mich wertvoll sind wie
die Trinkbarkeit des Wassers, die Durchsichtigkeit des Fensterglases oder
die Freundlichkeit meines Nachbars. Deswegen sind direkte Begegnungen im
Modus der Eigenbewegung für die Entstehung wichtiger Teile der
Bedeutungswelt unverzichtbar. (11)
Mögliche
Problematik des Erkennens: »Ein Ich beobachtet Welt« ist wie »Eine
Konstruktion beobachtet eine andere Konstruktion«. Aus der Tatsache der
prinzipiellen Zirkularität des Erkennens ergibt sich erst recht die
Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der direkten, lebendigen Begegnung mit der
Umwelt. (12)
In der
Eigenbewegung besteht die begründete Möglichkeit, die Hermetik des
Bewusstseins zu durchstoßen. (13)
Eigenbewegung
ist Voraussetzung für Selbsterhaltung – auch wenn technische Systeme
das Gegenteil suggerieren. (14)
Im Prozess der
Eigenbewegung entstehen Bedeutungen. Ich sehe aus dem Zugfenster auf die
flache Landschaft bei Gunzenhausen mit der Altmühl und bin bewegt. Warum?
Vor zwei Jahren sind wir diese Strecke mit dem Fahrrad gefahren. (15)
Körperliche
Bewegung ist auf das engste mit Bedeutung verbunden. Ein Beleg dafür liefert
die nicht-kognitive Sprachauffassung, die von der Einheit von Gedanken,
Hören und lautlicher Artikulation ausgeht. An der lautlichen Artikulation
hängen Gestik und Mimik und schließlich der ganze Körper, besonders
akzentuiert bei Stotterern.[51]
In dieser Körperlichkeit liegt vielleicht der tiefste Grund der Liebe und
Anhänglichkeit zu einer Sprache, so dass man daraus schließen kann, dass
Anhänglichkeit und Liebe erst in der Bewegung konstituiert und fundiert
werden. (16)
Bedeutsame
Wahrnehmungen entstehen oft auf dem Fundament von anstrengendem Laufen und
ansprechenden Gegenden: Der beschwerliche Aufstieg zum Landgasthof an
Bauernhäusern vorbei, wobei die Sonne brennt, Hunde bellen und freundliche
Menschen grüßend die Hand erheben. Mit dem Auto entsteht keine Landschaft
mit Tiefen, auch weil Menschen nicht wirklich wahrgenommen werden.
(17)
Kinder spielen
Fußball auf dem Spielplatz. Ich gehe zu ihnen, spreche mit ihnen und schieße
genau einmal auf das Tor ― leider vorbei. Dieser Bolzplatz hat für mich nun
eine Bedeutung. (18)
In den Sinnen,
die auf Welt bezogen sind, waltet immer auch Sinn bzw. Bedeutung. (19)
Bildung
– Lernen:
Die Humanität ist gefährdet durch Fremdbewegung:
Die Quelle unseres Lebens, unsere Naturkraft, die Fähigkeit zur geistigen
und körperlichen Aktivität werden uns genommen oder genauer, wir entledigen
uns ihrer ohne Notwendigkeit. Vita activa ist Merkmal erfüllten menschlichen
Lebens, körperlich wie geistig (übrigens immer eine Mischung), ob ich mich
um das Verstehen eines schwierigen Textes bemühe, selbst einen Aufsatz
schreibe, Atmosphären herstelle oder ein Haus baue. (20)
Umwelt wird
immer aufgenommen, bewusst, aber oft auch vor- und unbewusst. Man kann nicht
nicht lernen. Also lernt man auch beim Autofahren und beim Gehen. Die
Frage ist aber, was man lernt? (21)
Wir müssen in
die Tiefe unseres Bewusstseins und in die der Geistesgeschichte dringen, um
die Weichen zu identifizieren, die unser destruktives Denken, Fühlen und
Handeln bestimmen. Da finden wir sicherlich keine Sicherheiten, aber
Plausibilitäten. (22)
Kleinkinder
sind in der Welt, sie lernen Basisstrukturen leichter als Erwachsene.
Basisstrukturen entstehen in der Eigenbewegung. (23)
Bei der
Eigenbewegung spielt das implizite Lernen eine große Rolle. In der
Eigenbewegung wird Wissen vermittelt, das nicht immer ins Bewusstsein
dringt. Bewusstes Wissen ist nur ein Teil des Wissens. Traditionelle
»aufgeklärte« Pädagogik kann übrigens nicht die konstituierende Funktion des
Unbewussten positiv werten. (24)
In der
Fremdbewegung lernen wir »Es geht ohne Anstrengung«, in der Eigenbewegung
»Es geht nicht ohne Anstrengung«. (25)
Wenn ich
bestimmte Links-Rechts-Koordinationen nicht richtig ausführen kann, dann
wirkt sich das wahrscheinlich auch auf geistige Verknüpfungen aus. (26)
Bildung beruht
auf Erfahrungen des Körpers, die dann ins Geistige sublimiert werden. Goethe
und Heidegger wussten das, andere Denker haben das vergessen. Aber die
geistige Sublimation findet nicht naturwüchsig statt. Das leistet erst die
kulturelle Arbeit, die Arbeit am Begriff. Heute besteht eine körperliche
Bewegungs-Deprivation. Das gilt für Kinder und Erwachsene gleichermaßen.
(27)
Beim Gehen sind
Differenzgewinne im Mikrobereich möglich. (28)
Eigenbewegung
ist Verlangsamung und damit notwendige, wenn auch nicht hinreichende
Bedingung für Möglichkeiten intensiver Erfahrung. (29)
Die
Jugendlichen (und auch die Erwachsenen) wollen sich jetzt schon nicht mehr
bewegen – und sekundär oft auch nicht geistig. Körperliche
Bewegungstätigkeit und -freude ist Bedingung für geistige Tätigkeit.
Natürlich nicht im Verhältnis eins zu eins, aber Beeinflussung
und auch Wechselbeziehung wirken aufeinander. (30)
Schreiben ist
die Veräußerung der geistigen Spiegelung von Eigenbewegung. (31)
Nur durch
Eigenbewegung lernen die Muskeln. (32)
»...die
Muskelbehendheit war bei mir immer am größten, wenn die schöpferische Kraft
am reichsten floss. Der Leib ist begeistert; lassen wir die Seele aus dem
Spiele...«[52].
Dieses Wort Nietzsches drückt genau die wechselseitige Bedingtheit von
Muskel und Nerven aus, die für vorliegende Arbeit fundierend ist. (33)
Implizites
Gedächtnis bezieht sich auf Wahrnehmungen von Sinnesreizen, die in der
Großhirnrinde unbewusst verarbeitet werden und dennoch erinnert werden. So
entsteht ein »unbewusstes Wissen«, das wie Instinkt und Habitualisiertes
funktioniert. (34)
Fleisch will
Geist werden und Geist Fleisch. Deswegen treten Eigenbewegung und Wachheit
oft gleichzeitig auf. (35)
Intelligenz
ist, schwierige Situationen zu meistern wie z. B. im Schnee mit dem Fahrrad
zu fahren. Werden solche Situationen konsequent gemieden, macht sich
Dummheit breit, wenn manchmal auch auf sehr hohem Niveau. (36)
Über
Eigenbewegung werden primär implizite Begriffe gebildet. (37)
Es gibt drei
Möglichkeiten der Weltaneignung: Über Begriffe oder über Bilder, wobei
Fremdbewegung die Dinge in Bilder transformiert oder über die Eigenbewegung
der Hand und des Fußes, durch die die Dinge real erfahren werden. (38)
Durch den
Begriff »implizites Wissen« wird der Begriff »Erfahrung« und damit
»Eigenbewegung« aufgewertet. (39)
Wenn Geist und
Körperbewegung optimal interagieren, dann findet eine Steigerung in beiden
Bereichen statt: die Kraft des Körpers durchdringt den Geist, und die
Wachheit des Geistes durchdringt den Körper. (40)
Ein Vater turnt
und die dreijährige Johanna »muss« ihn offensichtlich nachmachen. Ein
anderer Vater fährt nur Auto und sitzt vor dem Fernsehapparat oder hinter
Büchern. Im Modell und im Vorbild liegen große positive und negative
Potenziale ― neurophysiologisch sind hier Spiegelneuronen verantwortlich.
(41)
Wenn ich
körperlich in der frischen Luft aktiv bin, ist mein Geist danach behände.
(42)
Eigenbewegung – Bestimmung, Funktion:
Das Simulacrum,
auf fotographisches Papier gebannt, ersetzt den Gegenstand selbst, so dass
man nicht mehr zwischen Original und Kopie unterscheiden kann. Alles wird
dadurch gleichwertig, verliert seine Aura, die man als die spezifische
sinnliche Ganzheit bestimmen kann. In Anlehnung daran interpretiere ich die
Eigenbewegung als das Original, weil es mit einem einzigartigen,
individuellen Subjekt verbunden ist, die Erfahrung im Modus der
Fremdbewegung als Kopie. Involviertheit eines Subjekts erzeugt Einmaligkeit
und spezifische Schönheit bzw. Qualität. (43)
Eigenbewegung
deckt die Dimension des Besonderen, Konkreten, Sinnlichen und Individuellen
ab. Auf dieser Ebene ist zwar auch Allgemeines vorhanden, aber nicht primär.
Das geistig Allgemeine kann sich später daraus entwickeln. (44)
Wenn man die
Seele als rein subjektiven Ausdruck des zur Bewegung fähigen Körpers oder
umgekehrt, diesen Körper als die nach außen gewendete Seele begreift, dann
bekommt die Eigenbewegung einen hohen Wert. (45)
Man darf die
Eigenbewegung nicht nach der Art eines Nullsummenspiels begreifen: Es stimmt
nicht, dass die Energie, die in der Eigenbewegung verbraucht wird, für
andere Arbeiten, z. B. geistige Arbeit, besser genutzt werden könnte. Im
Gegenteil, es besteht hier eine gegenseitige Steigerungsformel. (46)
An einen
Berghang in Süditalien schmiegen sich ehemalige Bauernhäuser und Katen. Das
Zu-Fuß-Gehen ins Tal war früher das Normale. Es war immer ein intensives
»langes« Grüßen, wenn der Schritt wegen der Mittagssonne sich verlangsamte
und man an einem Haus vorbeikam. Das erzählte uns ein alter Mann, der uns
darauf aufmerksam machte, dass wir in der Spur einer alten Tradition wären,
allerdings einer weitgehendst aufgegebenen. Die Einheimischen führen jetzt
alle mit dem Auto oder zumindest mit der Vespa. (47)
Eigenbewegung
ist die Sphäre des menschlichen Maßes. (48)
Eigenbewegung
ist natürliches Training der Muskeln. (49)
Nach Renate
Zimmer[53]
hat die Eigenbewegung personale, soziale, produktive, expressive,
impressive, explorative, komparative und adaptive Funktionen. (50)
Eigenbewegung ist die Sphäre des menschlichen Maßes. Das Fundament der
Kultur entsteht in der Einheit von Muskeln und Geist. Das ist beim Bauern
nicht anders als beim Journalisten. (51)
Menschen »sind«
wesentlich auch Muskeln. Muskelbewegungen sind Bestandteil des
Lebens. Eigenbewegung gehört zur biologischen Definition »Leben«. (52)
Zwei
wesentliche Argumente für die Eigenbewegung sind das Mehr an Freiheitsgraden
und die prinzipiell bestehende Möglichkeit, schonend mit der natürlichen,
sozialen und kulturellen Umwelt umzugehen. (53)
Vielleicht ist
nur im Modus der Eigenbewegung das Sprechen von Eigentlichkeit legitim. (54)
In der
anstrengenden Eigenbewegung stellt sich Freude oft erst später ein. (55)
Am Anfang
der tierischen Bewegung stehen vier Füße, am Anfang der Menschwerdung
zwei Füße und zwei Hände. Wie geht es weiter? (56)
Auch bei
Eigenbewegung ist immer der Wechsel von Systole und Diastole, Anstrengung
und Ruhe zu berücksichtigen. Das sind individuelle Verhältnisse, die sich
auch mit der Zeit ändern. (57)
Nicht »Ich habe
einen Körper«, sondern »Ich bin mein Körper, der sich bewegt«. (58)
Natürlich lässt
sich Eigenbewegung innerhalb von Grenzen mechanisieren. Das Zu-Fuß-Gehen ist
eine Mischung aus Bestimmung und Freiheit. (59)
»Am Anfang ist
die Bewegung.« Für diese Aussage gibt es gute Argumente. (60)
Bewegung ist
der Oberbegriff, der sich in Eigenbewegung und Fremdbewegung teilt. (61)
Was passiert
mit dem Menschen bei der Eigenbewegung und was bei der Fremdbewegung? (62)
Der Mensch soll
Sollen, die Natur hat Sein. Sollen ist Werden, Werden ist Bewegung. (63)
Es gibt mit dem Fuß gemalte Bilder. Ein Beleg,
welche großen Möglichkeiten und Sensibilitäten im Fuß stecken. (64)
Gehen, mag es
auch gesellschaftlich überformt sein, ist eines der natürlichsten
Formen menschlichen Lebens. (65)
Intensives
Gehen und tiefes Atmen bedingen einander. Bei der Fremdbewegung liegt
Flachatmung vor. Richtiges Atmen erhöht wesentlich die Freude am Gehen und
vermittelt Wohlbefinden. Nur beim Gehen und Singen erlernt man das Atmen.
(66)
Es geht um
Eigenbeweglichkeit, die behände, leicht, flüssig, relativ unangestrengt aus
dem Leib herausströmt, die sich gewissermaßen selbst normiert. (67)
Eigenbewegung
ist still. Stille ist nicht Nichts, sondern Harmonie. Vergleiche
Stille und die Geräusche von Verbrennungsmotoren bei Fremdbewegungen.
Bemerktst Du noch den Unterschied? (68)
Zentral für die
Ortsveränderung im Modus der Eigenbewegung ist der Fuß. Man kann den Fuß als
Metapher für das Gehen nehmen. (69)
Eigenbewegung
will den Pol des Seienden und des Seins stärken und die Dominanz des
schlechten Allgemeinen wie Preise, Entfernungen, Geschwindigkeiten
schwächen. (70)
Gehen, Laufen,
Fahrradfahren sind Teilmengen der Eigenbewegung, um Ortsveränderung zu
verwirklichen. (71)
Bewegung (also
auch Eigenbewegung) und Energie bilden eine untrennbare Einheit.
Trennt man sie, stellt sich der Tod ein. (72)
Eigenbewegung
ist ein Wert an sich. (73)
In Analogie zur
»Handlung« müsste man auch das Wort und den Begriff »Fußlung«
einführen, um die Wichtigkeit des Fußes zu untermauern. (74)
Maschinelle
Speicherkapazität und Suchleistungen müssen auf der Folie der Leistungen des
Gehirns gesehen und bewertet werden: Wenn das Gehirn keine Chancen mehr hat,
die Menge maschinell generierter Informationen überhaupt aufzunehmen, dann
stellt sich das Problem, wie mit dieser Informationsflut umzugehen ist,
zumal, wenn wesentliche Teile mir prinzipiell unzugänglich sind. Das ist in
etwa so, als ob ich, der nur die Sprachen Deutsch und Englisch beherrscht,
nur Bücher in chinesischer Schrift besäße. (75)
Der verstorbene
Ballettmeister »dichtete mit Schritten«. (76)
Nicht nur Mund
und Ohren, sondern der gesamte sich bewegende Körper haben beim Spracherwerb
konstituierende Bedeutung. (77)
Eigenbewegung
wird erlernt, aber auch verlernt. Einige Eltern wissen nicht mehr, wie sie
ihren Säugling richtig halten sollen. (78)
Ein Leben ohne
Eigenbewegung ist ein falsches, ein Leben in Täuschung, weil Eigenbewegung
durch Fremdbewegung getauscht wird. (79)
Es geht mir
nicht primär um langsamere Autos, Flugzeuge und Züge, sondern um
Eigenbewegung. (80)
In »Erfahrung«
steckt fahren, das ursprünglich gehen und wandern bedeutete, also zu Fuß
sich fortbewegen. (81)
Gefühle,
Leidenschaften, Subjektivität kommen aus dem sich bewegenden Körper.
(82)
Bei Platon sind
Seele und Bewegung eins. Cusanus sieht dies als Verschmelzung von spiritus
und impetus. (83)
Überschrift aus
einer Tageszeitung »Melk-Kuh Autofahrer«. Warum wird nicht aus der Kuh ein
sich bewegender Mensch? (84)
Aus der
Eigenbewegung heraus entsteht Welt, aus der Fremdbewegung heraus entsteht
Schein. (85)
Einheit
von Mensch und Welt – Kultur:
Ich laufe in
die Stadt die Wegstrecke Fluss, Straße, Friedhof, wieder Straße,
Schrebergärten, Gasse, Marktplatz. Was meint Ihr, was ich alles gesehen,
gehört, gerochen und gefühlt habe? (86)
Es geht um
Differenzen wie dionysische oder apollinische, sinnliche oder
intellektuelle, konkrete oder abstrakte, gelingende oder misslingende
Weltaneignung. (87)
Erst durch die
Bewegung ist eine Begegnung mit der äußeren Welt möglich, aber auch mit sich
selbst als beseelter Leib. In der konkreten Begegnung bilden eigene Physis
und Umgebungs-Physis eine Einheit. Ob eine Begegnung fruchtbar wird, hängt
vom jeweiligen Menschen ab und von der Umwelt. Bestimmte Räume und Menschen
erzeugen in einem das Gefühl, geborgen zu sein, ohne dass man weiß, warum.
Begegnungen können also unbewusst stattfinden. (88)
Heimat im
tieferen und umfassenderen Sinn beruht existenziell auf Eigenbewegung: die
kleinen Wege, die unzugängliche Brache, der Hinterhof, die Lichtung im Wald,
der Obstgarten vom Nachbarn. Lässt »verinselte Kindheit« überhaupt noch
Heimat in diesem Sinne entstehen? (89)
Eigenbewegung
in sinnen- und sinnvollen Räumen ist ein wesentlicher Teil der
Subjektivität, ist notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für
Humanität. Eigenbewegungen in diesen Räumen stiften begründete Identität und
schaffen Strukturen, die unverzichtbar sind für die Entwicklung von
Intelligenz, Emotion und Wollen. Das Ich ist nicht »da«, sondern entsteht
erst substanziell im ganzheitlichen Handeln, in der Auseinandersetzung mit
Dingen und Räumen in der Zeit. Das gilt insbesondere für die körperlich
orientierte Eigenbewegung. Sie ist der Anfang und Grund des Ichs (vgl.
Piaget). Das reicht vom Klavierspielen über Erdbeerpflücken bis hin zum
Wandern oder Basteln eines Starenkastens. (90)
In der
Eigenbewegung wird die größtmögliche Nähe zur materiellen und lebendigen
Wirklichkeit und ihrer Schönheit hergestellt. Dinge und Räume werden
verkörpert, es entsteht also keine über Bilder und Wörter vermittelte Welt:
Die Blumen und das Parfüm riechen, dem Entgegenkommenden mit Hilfe von
Blickkontakt ausweichen, den Straßenmusiker hören, die Mühe des
Treppensteigens produktiv interpretieren und dem eigenen schnelleren
Herzschlag nachspüren. (91)
Beim
aufmerksamen Gehen ist tendenziell die Subjekt-Objekt-Spaltung in einer
Synthese aufgehoben. Statisch gesehen stehen wir immer in einem bestimmten
Raum-Zeit-Punkt, der durch die Bewegung zu einer Linie, zu einem Weg wird.
Eine Linie, die vom Subjekt und der jeweiligen Welt gleichermaßen bestimmt
wird. (92)
Es geht um die
direkte Begegnung, die relativ tief, intensiv und nachhaltig ist. (93)
Muskeln stehen
für Zugang zur natürlichen Welt, Nerven für Zugang zur geistigen Welt. (94)
Der aufrechte
Gang ist die Würde des Menschen. In diesem Gang herrscht Selbstbestimmung.
Es entsteht eine tiefe Befriedigung und Sicherheit. Die Welt wird nicht
langweilig, höchstens anstrengend. Gehen ist Vereinigung mit Welt. Im Gehen
entsteht Wirklichkeit. (95)
Es gilt, die
Muskelbewegungen mit Sinn und Bedeutung zu verbinden: Zu Fuß in die
Innenstadt laufen, um einzukaufen, enthält in der Regel mehr Sinn, als im
Stadion Runden zu laufen. Wenn es darum geht, sich auf eine Meisterschaft
vorzubereiten, sieht es aus der Perspektive des Läufers schon anders aus.
Grundsätzlich gilt: Sinnhafte Bewegungen sind leichter durchzuführen. (96)
Zu Fuß mit ihr
zum vier Kilometer entfernten Restaurant am Hafen und abends zurück durch
die dunklen Gassen. Das ist ein Gesamterlebnis, ist Lebensqualität, die
diesen Namen verdient. (97)
Eigenbewegung
ist ein aktiv-konstruktiver Vorgang, der authentisch, umfassend, »sicher« in
der Annäherung an Wirklichkeit ist – selbstverständlich relativ.
Fremdbewegung ist aus der Erfahrungsperspektive mit oberflächlicher
Bilderfahrung gleichzusetzen. (98)
Im Gesicht und
in der Körperhaltung spiegeln sich auch die jeweilige Umwelt und das Medium
der Fortbewegung, sei es das Auto, das Fahrrad oder das Gehen. (99)
Eigenbewegung
hat auch ökologische Implikationen. (100)
Sein und
Vernunft haben wie die Liebe Vereinigungsstruktur, die vom Tauschwert
unterlaufen wird. (101)
Eigenbewegung
mit Fuß und Hand in Hinwendung zur Umwelt ist das mögliche Optimum der
Weltbegegnung für den Menschen, ein Sein zwischen den Polen Identität und
Differenz – mehr liegt nicht drin. (102)
In der
Eigenbewegung werden Sinnesreize assimiliert. (103)
Die elementare
Bestimmung von Welt und Selbst findet auf der Bewegungsebene statt. Sie ist
der Nährboden für weiterführende (geistige) Entwicklungen. Eigenbewegung ist
die Urbewegung. (104)
Sprache, auch
wenn als Disposition angeboren, bedarf der konkreten und lebendigen
Ausübung, die wieder in Raum und Zeit, in Gesellschaft und Natur eingebettet
ist. Alle Elemente bilden ein dynamisches, bewegendes und bewegtes System.
Gleiches lässt sich von der Eigenbewegung sagen. (105)
Der Linguist
Steven Pinker schreibt: »differences between individuals are so boring« und
drückt damit eine allgemeine Zeittendenz aus. Wir haben kein Interesse an
und Geduld mit den Dingen. Eigenbewegung ist mit konkreten Dingen und damit
mit Unterschieden verbunden. (106)
Eine Bewegung
wird immer von der Umwelt (Berg oder Tal, Zeit, die benötigt wird usw.)
mitbestimmt. Eine nahezu welt-lose Wirklichkeit wird schnell durch innere
Phantasiewelten oder mediale Realitäten ersetzt. (107)
Heimat entsteht
durch körperliches und geistiges Tun. Sie ist ein Raum, der begangen werden
muss. Zum Nachbarort gehen erzeugt Heimat. Heute besteht Heimat primär aus
Zeichen. (108)
Am
Sonntagmorgen um 7 Uhr zum vier Kilometer entfernten Bahnhof laufen. Ein
intensives Lebensgefühl bricht aus. Eigenbewegung ist sicherlich nicht
hinreichende, aber sicherlich notwendige Bedingung zum Glück. (109)
Wer zu Fuß
geht, liebt das Begangene, muss es lieben. (110)
Kinder spielen
auf einer »übrig gebliebenen«, achtstufigen Treppe vor dem Haus. Sie
springen, sie turnen am Gitter, balancieren, sprechen Vorbeigehende an und
bekommen oft eine Antwort. (111)
Ich laufe
schnell durch den Park. Es stellt sich das angenehme Gefühl von Freisein
ein: Die Welt und ich sind eins, bilden ein Zusammenspiel. Es entstehen
Abhängigkeiten, die diesem Genuss keinen Abbruch tun, sondern ihn erst
ermöglichen. (112)
Gelingendes
Leben ist intensiver Kontakt mit der Umwelt. Wenn ich schnell bewegt werde,
kommt meine Seele nicht mehr nach. Ich bin in diesem Teil der Welt nicht
mehr präsent. (113)
Hochkultur ist
nicht beweisbar, aber es gibt sie. Auch hier kann man nur komparativ
argumentieren: Hochkultur ist humaner als Trash-Kultur. (114)
Erst in und aus
der Eigenbewegung entsteht Welt. Absoluter Stillstand kennt keine
Unterschiede, damit auch nicht Welt. Der Autofahrer ist trotz der Fahrt
Stillstehender, genauer: Stillsitzender. Nur das Auto bewegt sich. (115)
Erkenntnis
– Probleme, Entstehung, Gegenstände, Theorien:
Die Beschreibung auch der destruktiven Prozesse,
ihre Ursachenanalyse und die Entwicklung von Alternativen sind deshalb
notwendig und sinnvoll, weil erst auf ihrem Hintergrund der Wert der
Eigenbewegung und die Verluste, die mit ihrem Verschwinden verbunden sind,
deutlich werden. (116)
In der Eigenbewegung besteht die hohe Chance,
sich der Wirklichkeit zu nähern. Wirklichkeit wird hier als eine
Realitätsmöglichkeit eines Begriffs verstanden. An die Realität komme ich
nur über Begriffe, an die Wirklichkeit nur über originale Begegnung. (117)
Wenn es stimmt,
dass wir uns der Wirklichkeit nur annähern können, dann sind komparative
Urteile wie »Eine Besichtigung von Pompeji ist informativer als Bilder von
diesem Ort« eine sinnvolle und legitime Aussage über Wirklichkeit. Aber auch
hier gibt es nicht den archimedischen Punkt. (118)
Wirtschaft ist
der Stoffwechsel des Menschen mit der Natur und somit, wenn reflektiert,
fundamental-materialistische Philosophie. In Eigenbewegung findet ebenfalls
eine Begegnung mit der materiellen Welt statt. (119)
Stabilisierende
Grenzen, die auf Zeit gelten, haben ihren Wert in sich. Man sollte sie nicht
ohne zwingende Gründe überschreiten, verletzen und auflösen, denn dann
gefährdet man immer den jeweiligen Inhalt. Ein Fußballspiel ohne Grenzen
wäre keines. Eine Auflösung von Grenzen ist nur dann gerechtfertigt, wenn
etwas Neues entsteht, das qualitativ hochwertiger ist. Das soll gut überlegt
sein. Eigenbewegung hat sehr viel mit eigenen und äußeren Grenzen zu tun,
die wiederum Gewinne ermöglichen und nicht nur Verluste nach sich ziehen.
(120)
Wenn ich die
Subjekt-Objekt-Spaltung akzeptiere und praktiziere, verdingliche ich
entweder das Objekt oder das Subjekt, d. h. erhöhe das eine und erniedrige
das andere. Im Gehen unterlaufe ich diese Spaltung ― zumindest ein Stück.
(121)
Fichte
begründet (Grund!) seine Begriffe und Theorie nicht ontologisch, sondern aus
der Entfaltung des Bewusstseins. So wird Welt als Nicht-Ich aus dem Subjekt
abgeleitet. Diesen Ansatz teilt die Theorie der Eigenbewegung nicht. Die
Eigenbewegung, weil mit Grund und Umwelt verbunden, hat Welthaftigkeit. In
ihr wird (vielleicht) das Sein im Heidegger’schen Sinne erschlossen. (122)
Gute Theorie und gute Philosophie sind, wenn man
zumindest Spuren von ihnen im Alltag wiedererkennt. (123)
Was vor
dem Gegenstand der Psychologie liegt, nämlich die geformte Seele und der
geformte Körper mit den Agenten Materie, Familie, Gesellschaften,
vorhergehenden Generationen, Evolutionen, Zufall und Gott, kann keine
Wissenschaft und keine Profession zweifelsfrei rekonstruieren. Diese
strukturelle Unschärfe spiegelt sich in der Bestimmung der Eigenbewegung.
(124)
In der
materiellen Welt herrscht Entropie, in der geistigen entsteht Information.
So gesehen gehört Eigenbewegung wesentlich zur geistigen Welt. Sie fließt
stromaufwärts – und das ist häufig auch anstrengend. (125)
Der Prozess der Bestimmung eines Phänomens, einer
Situation, eines Ereignisses ist nie abgeschlossen – ebenso wenig wie das
Gehen. (126)
Zu den
Bedingungen für mögliches Erkennen gehören einerseits Verstand und Vernunft,
andererseits Materie in Raum und Zeit, die begriffen und »begangen«
werden muss. (127)
Im Ziel muss
immer das Mittel mitbedacht werden: Das Auto und die notwendigen
Infrastrukturen (Mittel) verändern das Ziel oft beträchtlich, das Gehen und
der Fußweg verändern es nur geringfügig. (128)
Der Begriff thematisiert nur das Allgemeine einer
Erfahrung, nicht das Individuelle oder Besondere. Wird das Individuelle
wiederum auf den Begriff gebracht, wird es sofort Allgemeines. In der
Eigenbewegung mache ich zuallererst vorbegriffliche Erfahrungen. (129)
Die sinnliche
Wahrnehmung ist eine psychische Funktion, die Empirie ist eine
wissenschaftliche Methode auf Basis von Sinneserfahrungen, die letztlich auf
Gesetze und Muster aus ist. In der Eigenbewegung geht es zuallererst um die
sinnliche Wahrnehmung, sei sie zufällig oder angestrebt. (130)
Immer mehr
Dinge der Welt verdoppeln sich in Form von Symbolen und Zeichen und stehen
jedem über das Internet zur Verfügung, so dass die Zahl der zugänglichen
»Dinge« ins Unermessliche steigt. Abstraktionen und Beschleunigungen werden
immer wichtiger und notwendiger. Die Eigenbewegung hat es schwer, denn sie
ist eine Revolte gegen Abstraktion und Beschleunigung. (131)
Denken ist nach
Heidegger nicht Prädizieren, sondern Vernehmen. Letzteres ist eine »passive
Aktivität« wie das Wahrnehmen während des Gehens. (132)
Es gibt gute
Gründe[54],
mit dem Begriff der Bewegung die Welt selbst, die Welt der Lebewesen und die
entstehende Welt des Kindes als Entfaltung in Raum und Zeit zu verstehen.
Leben ist Sich-Bewegen. Zeit, Werden und Bewegen müssen als verschiedene
Dimensionen einer unaufhebbaren Einheit gesehen werden. (133)
Zufälle sind
lebensnotwendig. Sie erweitern generell den Möglichkeitsraum von Denken und
Handeln. In Eigenbewegungen haben Zufälle größere Chancen. (134)
Das Gehen legt
Grundstrukturen des Denkens: Linearität und Kausalität (dem zweiten Schritt
geht immer ein erster voraus). (135)
Move your ass (not your car!) and your mind will follow.
(136)
Du musst ein
Problem lösen, hast Dich schon lange und intensiv damit beschäftigt, bewegst
Dich ― und plötzlich schießt die Lösung in Dein Gehirn. (137)
Eine
Entscheidung ist Sache des Kopfes, so auch die Entscheidung für
Eigenbewegung. Bücher setzen am Kopf an. Deswegen dieses Buch. (138)
Nur in der
Eigenbewegung ist realer Perspektivwechsel möglich. (139)
Wenn es stimmt,
dass die Hirnaktivität zeitlich vor dem entsprechenden Bewusstseinsinhalt
liegt, dann muss Gehirn-Materie mit Leib-Materie interagieren und beide
wiederum mit der Umgebungs-Materie, gewissermaßen am Bewusstsein vorbei. Ein
sich bewegender Leib intensiviert diese Interaktionsprozesse, allein schon
deswegen, weil sich durch den Positionswechsel wesentlich mehr
Interaktionswege eröffnen. (140)
Das Leise und
das Laute, der Fahrradfahrer und der Motorradfahrer sind nicht gleichwertig.
Erstere sind ungleich umweltverträglicher. Auch hier sind wieder die
Definitionsmerkmale entscheidend: Der Begriff Verkehrsteilnehmer macht
Fahrradfahrer und Motorradfahrer gleich, der Begriff Emission macht beide
ungleich. (141)
Philosophie
glättet, homogenisiert, idealisiert eher, während Psychologie eher
Verwerfungen, Risse, Abgründe aufzeigt. Das gilt natürlich auch für die
Wahrnehmung und Einschätzung der Eigenbewegung. (142)
Wenn es um
Zusammenhänge geht, z. B. zwischen innerer und äußerer Bewegung, ist immer
größte Vorsicht vor kausalen Argumenten geboten. Der Mensch hat
Freiheit. Aber immer gibt es auch Gegenbeispiele. Man sollte eher von
Wahrscheinlichkeiten sprechen. (143)
Die Gewissheit
der Eigenbewegung des Körpers ist höchstmögliche Gewissheit – aber keine
absolute. Das cogito wird in dieser Interpretation auf die eigene
Körpererfahrung bezogen. (144)
Eigenbewegung
hat viel mit Mimesis zu tun. (145)
Denken, Fühlen,
Wollen, ja Geist ist Bewegung. (146)
Das Selbst ist
uneigentlich, weil aus der Binnenperspektive alles ganz anders ist (!) als
aus der Außenperspektive.[55]
Hinzu kommt, dass das Selbst gar nicht nur Selbst ist, sondern auch immer
gesellschaftlich vermittelt ist. Dieses Dilemma ist nicht zu umgehen. Aber
im Modus der Eigenbewegung findet das Selbst relativ sicher zu sich, zu
seinen eigenen Anteilen. (147)
Das Unsagbare heißt eben nicht, es sei nicht
vorhanden. Es erschließt sich in Stimmungen und vielleicht auch in
Bewegungen des Körpers. (148)
Jede natürliche
Situation enthält sehr viele Informationen. Beim Gehen habe ich wesentliche
Möglichkeiten zu entscheiden, was ich von dieser Situation annehme oder
ablehne. (149)
Goethe sagt,
dass das Höchste zu begreifen wäre, dass alles Faktische schon Theorie sei.
Neurobiologen haben für diese Einsicht keinen systematischen Ort. Denn das
Gehirn ist materiell und damit konkret, so dass dort Theoretisches,
Metatheoretisches, Abstraktes nicht zu finden ist. Neurologisch kann man
nicht zwischen der Repräsentation eines konkreten Dinges und seines
abstrakten Begriffes unterscheiden. Wir sehen im Gehirn keine Begriffe, weil
sie als reiner Geist nur vom Geist geschaffen wurden, das heißt, sie sind
durch und durch immateriell. Aus dieser Perspektive gesehen ist Gehen nur
die Hälfte der Begegnung: Wissen, Bildung und Ahnungen müssen dazukommen.
(150)
Eigenbewegung
ermöglicht Verantwortung für die eigene Bewegung. (151)
Kausalität ist
in der Natur und im Geist. Die Freiheit des Menschen unterbricht Kausalität
in inneren und äußeren Prozessen. Kausalität ist ein Sonderfall von Freiheit
oder Freiheit ist ein Sonderfall von Kausalität. Leben besteht aus
Kausalität und Freiheit. Daraus folgt, dass »Leben« und »Mechanik« (als
materiell gewordene Kausalität) keinen Dualismus, sondern eine Implikation
bilden. (152)
Denken
entscheidet sich am Was, das bedacht wird (Heidegger). Deswegen sind das Was
und das Denken für die Eigenbewegung so wichtig. (153)
Bewegung hat
Parallelen zum philosophischen Ding an sich, weil einerseits Bewegung sehr
viel mit dem Willen zu tun hat und andererseits nach Schopenhauer der Wille
das Ding an sich ist. (154)
Wirklichkeit
und Wahrheit hängen von der Tatsache der Individuation ab. Diese ist
schmerzhaft, weil sie eine Prägung, eine Herausstanzung und Herausnahme aus
dem Ganzen der Welt ist. So ist dem Menschen – wie übrigens allen Lebewesen
– nur eine zeitlich begrenzte Berührung mit der Welt möglich. Deshalb kommt
alles auf die Art und Weise der Berührung an. Ein mögliches Optimum wäre:
Mit Geist und allen Sinnen in der Eigenbewegung zu sein. (155)
Wie wird aus
Körper Geist? Die Entwicklung des Geistes beginnt in der Ontogenese und
Phylogenese mit der Eigenbewegung, und sie ist auch in späteren Phasen
unverzichtbar. Aber die Eigenbewegung wird immer mehr durch technische
Prozesse ersetzt und überlebt – wenn überhaupt – nur noch in Nischen und
»exotischen« Feldern. (156)
In der
Eigenbewegung kann sich Unbewusstes lösen. (157)
Die Planung und
Ausführung einer Handlung, z. B. das präzise Werfen eines Steines, ist
neuronal verbunden mit der Fähigkeit, entsprechende Sätze zu bilden. Das
gilt natürlich auch für die Eigenbewegung. (158)
Ist am Anfang
doch die Bewegung? Unser Kater bleibt stehen, wenn ich ihn streicheln will,
er läuft weg, wenn ich beabsichtige, ihn raus zu befördern. Woher weiß er
das? Da ich davon ausgehe, dass er nicht meine Gedanken lesen kann, muss er
es an meinen Bewegungen ablesen, in denen natürlich meine guten oder
schlechten Intentionen enthalten sind. Ein anderes Phänomen: Mein Körper
läuft zu einem bestimmten Ort im Haus, um etwas zu holen. Dort angekommen,
stutze ich, denn ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich holen wollte. Erst
durch Nachdenken gelingt es mir, das Ziel meines Weges wieder ins
Bewusstsein zu heben. Mein Geist, nicht mein Körper, hatte offensichtlich
das Ziel vergessen. (159)
Wie komme ich
näher an die Dinge? Wie lange muss ich diese Rose mit allen Sinnen und
Muskeln wahrnehmen, um sie mir anzueignen? Zwischen der Virtualität des
Gegenstandes und der Identität mit ihm liegen die Möglichkeiten. Hier kann
man wohl nur komparativ nach Präferenzregeln argumentieren, die Subjektives
und Objektives zu einer wertenden Einheit zusammenfassen. (160)
Die Gestalt
einer Landschaft wird beim Begehen in den Muskeln eins zu eins »abgebildet«.
Aber in der Bestimmung der Art der Bewegung, der kleinen oder großen
Schritte, ob man mehr nach links oder rechts geht und sie als anstrengend
oder leicht bewertet – also in der Verarbeitung materieller Gegebenheiten –
ist Geist beteiligt. Aus der muskulären Eins-zu-Eins-Abbildung ist ein
individuell Gestaltetes geworden. (161)
Der Vorgang
»Ich gehe zur Arbeit« kann grundsätzlich aus vier verschiedenen Perspektiven
betrachtet werden: 1. meine Wahrnehmung der inneren körperlichen und
geistig-seelischen Prozesse während des Laufens, 2. meine Wahrnehmung meiner
Umgebung während meiner Eigenbewegung, 3. die Wahrnehmung meiner Bewegungen
von außen durch einen fremden Beobachter, 4. die Wahrnehmung meiner Umwelt
während meiner Eigenbewegung durch einen fremden Beobachter. Alle vier
Perspektiven beeinflussen einander. (162)
Eigenbewegung
ist immer mit Anstrengung verbunden, die in bestimmten Phasen als angenehm,
in anderen als mehr oder weniger schwierig interpretiert und gefühlt wird.
Eigenbewegung ist physikalisch gesehen Stiftung von Ordnung, richtet sich
also gegen die universelle Entropie und verliert – das ist die harte
existenzielle Wahrheit – auf Dauer den Kampf. (163)
In der
Eigenbewegung sind die Möglichkeiten, die reale Umwelt umfangreich zu
erschließen, ungleich größer als in der Fremdbewegung, die dafür bestimmte
Möglichkeiten des Erkennens in den Fernräumen eröffnet. (164)
Muskeln sind
Bedingung für Möglichkeiten der Wahrnehmung und Kognition. (165)
Natur und
Mensch bestimmen die Umwelt, die Umwelt bestimmt die Bewegungen der Körper,
der bewegte Körper bestimmt die Hand, die bewegte Hand die Zunge und damit
die Gestalt des gesprochenen Wortes, das wiederum Einfluss auf den geistigen
Gegenstand hat. (166)
In der
Begrifflichkeit der Sprachtheorie Saussures kann man die Eigenbewegung als
den materiellen Zeichenkörper, den Signifikanten, auffassen. Die (innere)
Bedeutung der Bewegung wäre dann das Signifikat. Signifikant oder
Signifikat, wer hat den Vorrang? Nimmt man den beunruhigenden Satz »Woher
soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?« zur
Grundlage, wird die Eigenbewegung gestärkt. Oder ist die Frage falsch
gestellt, weil bewegender Körper und Bedeutungen sich gegenseitig
konstituieren und damit eine unaufhebbare Einheit bilden? (167)
Die Seele kommt
bei hoher Geschwindigkeit nicht mehr mit. (168)
Gigantische
Mengen von Informationen und hohe Vermittlungsgeschwindigkeit töten die
Information. (169)
Die
ursprüngliche Funktion der Eigenbewegung war vermutlich, einen Ort in der
näheren oder weiteren Umgebung zu erreichen, wobei die Sinne orientierten.
Was auf der Basis von Eigenbewegung und Sinnentätigkeit von dem Weg und dem
Ziel gelernt wurde, war eine erste Form der Bildung – allerdings nicht als
Selbstzweck, sondern als Selbsterhaltung. (170)
Eigenbewegung verändert wesentlich das Subjekt,
aber fast nicht die Umwelt. Dagegen: Fremdbewegung verändert wesentlich die
Umwelt, aber nicht das Subjekt (wenn es nicht wegen eines Staus aus der Haut
fährt). (171)
Der zur
Bewegung befähigte Leib ist das Unbewusste, das über mehrere Schritte zum
Bewussten werden kann, wenn Leib und Geist aktiv, in Bewegung sind. So kann
man den Ausspruch »Geist ist sublimierter Leib« nachvollziehen. (172)
Nur noch an
wenigen Orten (Einkaufszentren und Fußgängerzonen) gibt es Rückmeldungen auf
Zufallsebene, weil nur noch dort Menschen sich direkt begegnen. Aber Zufälle
sind das Salz des Sozialen und wichtig für die Entwicklung von Intelligenz
und Phantasie. (173)
Eigenbewegung schafft andere Wahrnehmungen als
Fremdbewegung. (174)
Gehen ist
In-der-Welt-Sein. Existenz beruht wesentlich auch auf vorbegrifflichen
Erfahrungen. Ich musste als Kind zum Bolzplatz laufen und als
Jugendlicher zur Lehrstelle mit dem Rad fahren. Ich denke, dass mich das
bereichert hat, auch wenn diese Erfahrungen teilweise vergessen sind. (175)
Ein Bild wirkt
wie ein im Geschäft gekauftes Spielzeug. Dagegen regt »bloße« Realität die
Phantasie zur Tätigkeit an: Aus zusammengestellten Stühlen wird für Kinder
eine Höhle. Nach einer gewissen Zeit machen sie daraus einen Zug, woran der
Erwachsene überhaupt nicht gedacht hatte. (176)
Wenn man den
Dingen ihre Transzendenz nimmt, sterben sie, werden verdinglicht. Über
Eigenbewegung werden die Dinge mit dem Subjekt mehr oder weniger, wenn auch
nur auf Zeit, verbunden. Sie bekommen Bedeutung und Sinn (zurück?) – und das
ist auch ein Stück Transzendenz. (177)
Hand und Fuß
bilden Bedingungen für die Möglichkeit des Erkennens und Wissens. (178)
Der sich
bewegende materielle Körper, das materielle Gehirn und die materielle Umwelt
bilden von der Substanz her gesehen eine primäre, unauflösbare Einheit:
der Mensch auf dem Berg in Regen und Sturm. Der Geist spiegelt mehr oder
weniger diese Einheit. Die eigentliche Trennung verläuft also nicht zwischen
Mensch und Umwelt, sondern zwischen der »materiellen Gesamteinheit« und dem
menschlichen Geist, dessen Tätigkeiten vom Ahnen bis zur bewussten
Begriffsarbeit reichen. An der Überwindung dieser Trennung muss gearbeitet
werden, so auch, wenn der Geist diese materielle Gesamteinheit aufzulösen
versucht. (179)
Nach Milan
Kundera verhält sich der Grad der Langsamkeit direkt proportional zur
Intensität der Erinnerung. Wer geht, liebt die Erinnerung bzw. aktiviert
sie. Oder: Wer nicht geht, hat keine Erinnerung. (180)
Der Sessel ist
der Ort, wo die Reise ins Innere gehen muss, wie das beim Lesen der Fall
ist. Gehen ist angezeigt, wenn man von der Welt sinnliche Erfahrungen
gewinnen will. In diesem radikalisierten Modell ist für Fernsehen und
Autofahren kein Platz. (181)
Einerseits ist
Kultur der Teil der Gesellschaft, der das Ganze repräsentiert, andererseits
kann ein System sich selbst nicht darstellen. Deswegen enthält Kultur auch
immer falsches Bewusstsein. (182)
In der
Warengesellschaft werden die großen Werte (das Gute, Schöne und Wahre) in
Warenform gegossen und entsprechend angeboten. Die Werte leben also in
schlechter Form weiter. Es gibt keine Gesellschaft ohne Werte. In der
Warenform werden die Werte gleichermaßen subjektiviert und objektiviert.
Letzteres bleibt unbemerkt. (183)
Das wahre Ich
aktiviert seine ständige Selbst-Dekonstruktion, es ist nicht mit sich selbst
identisch. Nur im Augenblick der sinnlichen Wahrnehmung gibt es Festes. Der
Wahrnehmende weiß um den fragilen Zustand des Wahrgenommenen. Sicherheit und
Selbsttäuschung sind in einem. Hinter das Wissen dieser Position können und
dürfen wir nicht zurückfallen. Auch wäre es falsch, den einen oder anderen
Pol zu verabsolutieren. Im Wandern zeigt sich also auch nicht die ganze
Wahrheit. (184)
Raum und Zeit
erschließt man aus materiellen Dingen. Dinge (Körper, Ausgedehntes)
sieht man. Im Zeitalter der Zeit hat es der Raum sehr schwer. Das
Gehen hat seinen Schwerpunkt mehr im Raum als in der Zeit. (185)
In der
Psychologie thematisieren wir stets den Einfluss der Umwelt auf unsere
Seele, selten das Umgekehrte. (186)
Parmenides geht
von der Superiorität der Ruhe (=Stille) aus, Newton und die Moderne von der
Bewegung. (187)
Geschichte:
Die
Peripatetiker des Aristoteles wussten schon, warum sie in der Säulenhalle
beim Diskutieren wandelten. (188)
Goethe erklärte
Eckermann, dass es in Jena über 40 Spazierwege gäbe, um zu sinnieren. (189)
Die Natur- und
Kulturgeschichte der Füße ist eine Geschichte der Diskriminierung.
Der Aufstieg der Hand und des Geistes als Einheit läuft parallel mit dem
Niedergang der Wertschätzung des Fußes, das heißt der Eigenbewegung. Nur
noch in Teilbereichen des Sports (aber auch dort spricht man schon vom
Sportauto und der Sportschifffahrt) und des Tanzes spielt der Fuß eine
zentrale Rolle. (190)
Zumindest der
männliche Körper ist auf eine tägliche Eigenbewegung von ca. 35
Kilometern angelegt. Das war nämlich die Distanz, die der Jäger bzw. Sammler
zurücklegen musste, um den Energiebedarf der Sippe zu decken. Heute werden
Distanzen über 200 Meter zu Fuß bereits als Zumutung empfunden, die unter
Umständen revolutionäre Stimmungen auslösen. (191)
Drei Phasen der
Bewegung: Erste Phase: natürliche, funktionale Bewegungen (vorindustrielle
Welt), zweite Phase: Bewegung als Motor (Zeitalter der Industrialisierung),
dritte Phase: Bewegung im Schein, die real Bewegungslosigkeit ist (virtuelle
Welt). (192)
Persönlichkeit,
Identität, Charakter, Autonomie werden in der Aufklärung in der Metapher des
aufrechten Gangs ausgedrückt. (193)
Gesundheit
– Wohlbefinden:
Durch
Eigenbewegung wird der Körper gereinigt (= körperliche Katharsis). (194)
Psychische
Gesundheit in Momenten der Eigenbewegung: Das Ich wächst über sich hinaus,
man ist mit der Welt verbunden. Selbstheilungskräfte werden freigesetzt.
(195)
Eigenbewegung
ist ein probates Mittel gegen Melancholie und depressive Stimmungen.
(196)
Wo Körper durch
Bewegungen ausgelastet sind, entsteht keine Sucht.[56]
(197)
»Geistig länger
fit durch Sport.«. Eine stärkere Durchblutung des Gehirns findet statt und
damit verbunden eine bessere Sauerstoffversorgung der Gehirnzellen. Das kann
übrigens jeder an sich selbst beobachten, z. B. wenn man mit dem Rad zur
Arbeit fährt. (198)
Jeder Schritt
hält fit. (199)
Während eines
Besuchs in Berlin: Ich habe eigentlich keine Lust rauszugehen, fühle mich
müde und kaputt. Mein Gehen ist zu Beginn mehr ein Schleichen. Fast
unbemerkt von mir verbessert sich dieser Zustand. (200)
Zwei Drittel
der Deutschen beklagen sich über Rückenschmerzen, und die Mehrheit
ist überzeugt, dass Sich-Bewegen die beste Medizin wäre. (201)
Eigenbewegung
ist ein Mittel gegen Süchte wie Alkohol, Zigaretten, Auto, Fernsehen. (202)
Beim Gehen und
Fahrradfahren verschwinden trübe Gedanken und Aggressionen. (203)
Im Gehen
verwirklicht sich der eigene Rhythmus, der individuell und im Laufe der Zeit
nicht immer gleich ist. (204)
Nach einer
Wanderung von fünfzehn Kilometern fühle ich mich wie zerschlagen, lege mich
eine halbe Stunde aufs Sofa und danach stehe ich auf wie Phönix aus der
Asche: zupackend, optimistisch, relativ selbstsicher und fast
schreibfreudig. (205)
Meine
Erfahrung: Je mehr Eigenbewegung, desto mehr Lachen, Ausgeglichenheit,
Herzlichkeit. (206)
Gehen ist wie
selbst Singen, Musik machen. (Dieser Einfall kam mir im Anschluss an den
Film »Wie im Himmel«). (207)
Der Ausdruck
»Die Heilkraft der Bewegung« konnotiert religiöse Momente, denn Heil ist
Ganzheit und die Domäne des Göttlichen. (208)
Meine lebendige
Natur will auf andere lebendige Naturen und nicht auf Surrogate oder
Repräsentanten treffen, also auf schlechte Abstraktionen, die ohne
Notwendigkeit abstrakt sind. Das Verhältnis zwischen Eigenbewegung und
Fremdbewegung ist aus den Fugen geraten. Wie konnte es gelingen, den Körper
still zu stellen, ohne dass »Revolten« in Form von Krankheiten Gegenstand
der individuellen und kollektiven Reflexion werden? (209)
Wachstum,
Humanität, Glück liegen jenseits von Auto und Fernsehen. (210)
Bewegung und
Gesundheit bedingen einander: »die heilende Bewegung«. (211)
Grund
– Raum, Perspektive:
Der wirkliche,
der wahre Grund ist uns nicht zugänglich. Nur sein Daß, das heißt sein
bloßes Vorhandensein. Der Grund des (empirischen) Grundes ist metaphysisch.
Über das Gehen erfahren wir etwas über den Grund des Grundes. (212)
Bei Newton ist
der Grund Mathematik, bei Kant Freiheit, bei Dilthey Leben, für den
Gläubigen Gott, für den modernen Konsummenschen Ware. (213)
Das cogito
entdeckt nachträglich, dass es im Absoluten, das über es hinausgeht, eine
Grundlage hat. Das heißt, es gibt doch einen Grund, den man nicht ausblenden
kann. Gleichzeitig ist das cogito auch nur Gegenwart. Entsprechenden
Einschränkungen ist die Eigenbewegung unterworfen. (214)
Die Geschichte
des Grundes, seine Verdrängungen, Verletzungen oder auch sein Gesunden ist
das eigentliche Thema dieses Buches. Die Mathematik thematisiert nicht ihren
Grund. Sie ist grund-los, autonom, selbstreferenziell oder der Grund ist
vollkommen neutralisiert, homogenisiert, ohne Wesen und Struktur –
informationslos, denn die Information beruht immer auf einem Unterschied.
Dagegen werden in der romantischen Auffassung Raum und Zeit nicht nur
anerkannt, sondern sie haben Wirk- und Schöpfungskraft. Es gilt, den
organischen Naturgrund wieder zu beleben, ihn lebendig und produktiv zu
machen, für ihn wieder Sinn zu schaffen. Die Eigenbewegung verhindert
Grundlosigkeit, bringt den Grund wieder ins Bewusstsein (und sei es nur als
Erschwernis beim Gehen). Eigenbewegung hat immer einen realen, wahrnehmbaren
Grund – im Gegensatz zur Fremdbewegung. (215)
Der Grund
besteht aus materiellen und geistigen Dimensionen und Elementen, die
zusammen eine Einheit bilden. (216)
Ein wahrer
Grund wird nur in der Eigenbewegung aufgefunden, vielleicht konstituiert.
(217)
Der Raum
– wenn man ihn denn wahrnimmt, sich von ihm berühren lässt bzw. ihn
berührt ― ruft grundsätzlich positive, selten negative Emotionen hervor.
(218)
In jeder
Erkenntnis ist ein Raum und ein Punkt: Der Raum, den ein Gegenstand einnimmt
und der um ihn herum besteht, und der Stand-Punkt, der eine bestimmte
Perspektive, d. h. einen Ausschnitt des Raumes ermöglicht. Der Standpunkt
ist übrigens nicht in der realen Welt. (219)
Eigenbewegung
kann eine Standpunktdrehung und einen Standpunktwechsel nach sich ziehen, so
dass prinzipiell unendlich viele Perspektiven entstehen können. Der Weg vom
alten zum neuen Standpunkt ist konstituierend für eine neue Erkenntnis, wenn
man davon ausgeht, dass Information ein Unterschied ist. Die Inhalte der vom
jeweiligen Standpunkt abhängigen Perspektive sind übrigens von
unterschiedlicher Klarheit und Deutlichkeit und verlieren sich in den Tiefen
des Gehirns. (220)
Der Grund der
Moderne besteht darin, ihn grundsätzlich zu leugnen, ihn als nicht existent
zu nehmen, zu verdrängen, nicht zu thematisieren. Die Frage nach dem Grund
erzeugt Metaphysik. (221)
Es gibt, wie in
der Geometrie, keinen Hintergrund mehr, nur noch Vordergrund. Statt
Hintergrund herrscht Nichts ― aber Nichts ist nicht Nichts. Wegen des
Fehlens dieses Hintergrunds wird alles Metaphysische wie Seele, Ich, aber
auch Natur und erst recht Gott zu leeren Begriffen. Das Gehirn, wie wir es
heute interpretieren und davon abgeleitet die Welt, ist Vordergrund. (222)
Der moderne
Mensch ist ein Wesen ohne Schatten. »Schatten« bedeutet hier, keinen Kontakt
mit dem Grund zu haben. (223)
Kommunikation – Interaktion:
Jeder Mensch
braucht einen Resonanzboden, eine direkte Ansprache. Das reicht vom Gespräch
bis hin zu einer schönen Landschaft. (224)
Der abendliche
Spaziergang mit dem Hund ist oft die einzige Situation, wo Menschen
miteinander problemlos ins Gespräch kommen. Ein positiver Nebeneffekt, der
erst in der Eigenbewegung entstehen kann. (225)
Nur in der
langsamen Bewegung sieht man den anderen Menschen. (226)
Ein wohl
sechsjähriges Mädchen klettert in den Baum hinein. Wir spenden als
Vorbeigehende Beifall, loben sie und simulieren Angst, dass sie runterfallen
könnte. Sie guckt nur. Wir gehen weiter, dann ruft sie »Ich bin unten«. Ich:
»Das stimmt nicht, du bist die Zwillingsschwester, Deine Schwester ist noch
im Baum«. Sie guckt nach oben, denkt nach und zeigt mir einen Vogel. Wir
gehen weiter, verlassen den Spielplatz und hören von Ferne ein »Tschüss«.
Wir sind übrigens die einzigen möglichen Beobachter dieser Szene, ansonsten
ist die Straße menschenleer. In öffentlichen Räumen hat eine radikale
Ausdünnung an Menschen stattgefunden. In den 1950er Jahren spielten auf
einem selbstbestimmten Spielplatz viele Kinder, nicht selten von Erwachsenen
ermahnt, gelobt, beruhigt, angefeuert. (227)
Eigenbewegung
ist eine Bedingung für spontane, zufällige Kommunikation und
Interaktion. (228)
Gehen ist
wirkliche Kommunikation mit der jeweiligen Umgebung und ein Antworten auf
sie, aus der Verantwortung entsteht. (229)
Auf dem Weg zur
Arbeit habe ich eine ältere Frau getroffen, die mir stolz eine seltene Blume
zeigte. (230)
Das kleine
Mädchen lernt Rad fahren. Sie bekommt von zwei vorbeikommenden
Männern ein aufmunterndes Lob. (231)
Leben:
Leben ist In-der-Welt-Sein
und nicht vor oder über oder hinter ihr stehen. Arbeit
am Begriff ist zwar auch Abwesenheit von Welt, aber danach ist die Begegnung
umso intensiver, weil der Blick geschärft ist. (233)
Die Hauptgefahr
der Gegenwart besteht darin, dass Lebensprozesse, die immer ein Gemisch von
Kausalität und Freiheit sind, mit dem Pol »Kausalität« identisch werden. Im
wahren Gehen ist der Pol »Freiheit« relativ stark. (234)
Leben ist
Sprechen, Spielen, Musizieren, Beziehungen und Kontakte zur Welt durch
Eigenbewegung herstellen. So gesehen ist das Leben den Menschen abhanden
gekommen. (235)
Sich bewegen
ist Leben. Darüber muss noch viel genauer nachgedacht und nachgespürt
werden. Schon der Tonus, die Art und Weise des Zupackens und Greifens,
spielt eine Rolle. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Beschreibung und
inneres Erleben zwei verschiedenen Reichen angehören. (236)
Es regnet
leicht an einem Sonnabend. Ich schaue leicht genervt aus dem Fenster. Ein
Auto nach dem anderen fährt vorbei. Plötzlich, ein junger Vater mit seinen
zwei kleinen Kindern, jeder auf seinem Fahrrad. Leben zeigt sich. (237)
Das Lebendige
ist eine Kraft, die sich ständig transzendieren will und deshalb nicht
greifbar bzw. positiv darstellbar ist. (238)
Ich wehre mich
mit meinem Körper und Geist gegen die Reduktion lebendiger Abläufe. Zwischen
Körper und Geist besteht nicht das Verhältnis eines Nullsummenspiels, d. h.
der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen, sondern ein Verhältnis der
gegenseitigen Steigerung mit der Folge, dass es hier nur Sieger gibt. (239)
Lebendig sein
heißt, sich bewegen und zwar immer in Wechselbeziehungen mit konkreten
Raum-Zeit-Gefügen. Beim Autofahren ist das nicht der Fall. Hier ist man von
der Umwelt abgeschirmt, wenn man nicht das Autoinnere als Umwelt bezeichnet.
Deswegen verschönert ein Mensch die Umwelt, ein Auto verschlechtert sie.
(240)
Bei der
Eigenbewegung wird viel Energie ausgestrahlt. Genau das erzeugt den
lebendigen Eindruck von sich bewegenden Menschen und wird auch von diesen
selbst so empfunden. Ohne diese Energie hätten wir es mit einer Art Statue
zu tun. (241)
Leben umfasst
Liebe und Aggression. Liebe und reine Mechanik schließen sich grundsätzlich
aus. (242)
In der
Eigenbewegung geht es um das Leben, wobei das Fundament des Lebens als
kausal strukturiert gesehen wird, in das aber das Subjekt in Freiheit
eingreifen kann. Nach diesem Eingriff finden sofort wieder kausal bestimmte
Prozesse statt. In diesem Zusammenhang spielt der Zufall eine unverzichtbare
konstruktive Rolle. (243)
Zum Leben
gehören Wachsen, aber auch Vergehen. Vergehen ist dem Gesetz der Entropie
unterworfen. Wachsen sollte dem Ideal der menschlichen Vervollkommnung
(Perfektibilität) verpflichtet sein. (244)
Mechanik
basiert auf Naturgesetzen, Regeln auf Menschensetzungen. Ohne Mechanik und
Regeln wären Leben und Eigenbewegung nicht möglich. (245)
Vita
contemplativa ist nicht die Negation von vita activa, sondern von vita
consumenta. Leben ist auch als Schwundform noch immer
geringfügig aktiv. (246)
Lebendigkeit
ist weder von »unten« noch von »oben« erwünscht. (247)
Auto und
Autoradio bedingen einander, weil letzteres im Schein Lebendigkeit
herstellt. (248)
Leben ist die
Einheit von Körper, Geist, Seele und jeweiliger Umwelt. (249)
Moral
– Ethik, Politik, Vernunft:
Kleines oder
großes Gutes bzw. Schlechtes zu tun bzw. zu unterlassen, ist grundsätzlich
gleichwertig bzw. »gleichunwertig«. Gleichunwertig wäre demnach: Mit einem
monströsen Geländewagen in der Stadt zu fahren und einen Zigarettenstummel
wegzuwerfen. (250)
Ein Problem
besteht darin, dass jeder Mensch (also auch ich) davon überzeugt ist (ja,
wohl sein muss), dass seine vertretenen Normen stimmig seien, also stimmen.
Nur die argumentative Form, die sich auf dem Markt der Diskussion stellt,
kann diese prinzipielle Problematik teilweise überwinden. (251)
»Wirkliche
Wirklichkeit« ist nach Hegel zeitlich manifeste Vernunft. Man muss das, was
ist, begreifen und das Vernünftige, was in der Wirklichkeit ist,
herausarbeiten und nicht umstandslos bejahen oder verneinen, sondern
reflektieren und gemeinsam diskutieren. Aufgabe auch vorliegender Arbeit
ist, zu begründen, dass das Feuerwehrauto vernünftiger ist als das Rennauto.
Diese Diskussion nicht zu führen, wäre das Ende der Kultur. (252)
Wenn Welt
geheimnisvoll ist, entstehen eher Ehrfurcht, Vorsicht, Selbstkritik. Das
Fremde als Fremdes verstehen wir vielleicht besonders gut in der
Eigenbewegung. (253)
Ein gut
erzogener Mensch hat auch immer das Ganze im Auge und verhält sich
entsprechend. Ein Schreier und ein Motorradfahrer sind beispielsweise nicht
gut erzogen. (254)
Leben ist auch
eine immerwährende Aufgabe, die nur von den Lebenden selbst gelöst, d. h.
entschieden wird. Ein Beispiel: In den Uthlanden waren die Vorfahren meiner
Heimat gezwungen, sich vor den Fluten der Nordsee zu schützen. Sie haben
zwei verschiedene Strategien entwickelt: entweder Warften oder Deiche zu
bauen. Das gilt auch für das Gehen: Jedes Leben muss sich darstellen und
auch einen Gang und einen Weg finden. Das dauert oft lange, bis man seinen
Gang und seinen Weg gefunden hat. (255)
Die Gestaltung
von interessanten natürlichen, sozialen und kulturellen Alltagsräumen, in
denen Eigenbewegung sinn- und sinnenvoll ist, ist eine wichtige politische
Aufgabe. Eigenbewegung ist ein Engagement für die Realität und richtet
sich gegen den immer mächtiger werdenden Schein. (256)
Wer heute
konsequent vom Primat des sich bewegenden Körpers ausgeht, also
Eigenbewegungs-Politik fördert und fordert, ist objektiv ein
Revolutionär, der eben nicht die Unterstützung der Massen und des
Kapitals hat. (257)
»Die perfekte
körperliche Verfassung ist ein ererbtes Recht des Menschen«[57].
Es geht um die Aufhebung der Entfremdung, die auch den Körper erfasst. (258)
Politik ist
auch ein Ringen um Begriffe: »erfahren« und »sich bewegen« müssen konsequent
nur auf Eigenbewegung angewandt werden. (259)
Es ist auch
eine politische Entscheidung, ob Eigenbewegung oder Auto. (260)
Die hier
vertretenen Positionen und Argumente sind weder ein generelles Plädoyer für
bzw. gegen Vergangenheit oder Gegenwart, sondern ein Plädoyer für das Gute
und eine Kritik des schlechten Nicht-Notwendigen. (261)
Meine
Ausführungen verstehen sich auch als eine Art Frühwarnsystem in der
Tradition Kassandras – wobei die Möglichkeit eines falschen Alarms nicht
ausgeschlossen ist. (262)
Als
Gegenbewegung (auf Zeit) müssen wir den Akzent auf die innere und äußere
Schönheit der Eigenbewegung und auf die Hässlichkeit der Fremdbewegung legen
und beschreiben, wohl wissend, dass die Beschreibung der Innenperspektive
nie ganz gelingen kann, weil eine Beschreibung letztlich immer
Außenperspektive ist. Nur Kunst, Musik, Dichtung, Lyrik, Atmosphären
vermögen, Inneres auszudrücken, da strukturelle Identität vorliegt. (263)
Es besteht kein
Bewusstsein für die Differenz zwischen Eigen- und Fremdbewegung, obwohl sie
beträchtlich ist, wenn mit der Eigenbewegung auch nicht das Paradies
beginnt. Alle Aussagen in meinen Ausführungen haben zum Ziel, diese
Differenz deutlich zu machen und dass jeder seine Eigenbewegung stärkt.
(364)
Gesellschaft
nach dem menschlichen Maß auszurichten heißt auch, nach den Möglichkeiten
der Eigenbewegung zu gestalten. (265)
Mein Anliegen
ist letztlich ein konservatives: Verringerung der Entropie und Erhaltung der
conditio humana. (266)
Eigenbewegungen
in Anbetracht zunehmender Energieverknappung und Energieverteuerung zu
fördern, müsste auch ein energiepolitisches Anliegen sein. (267)
Es gilt, auch
Fragen zu stellen, die außerhalb des Warenkosmos liegen und nicht nur zu
fragen »Wo ist etwas am billigsten?« (268)
Unnötiges
Autofahren ist stillos, peinlich und unästhetisch und eines Menschen
unwürdig. (269)
In Actionfilmen
werden permanent Autos zerstört. Ist im Unterbewussten doch Vernunft? (270)
Verstand: Wie
viele Autos gibt es? Vernunft: Warum gibt es so viele Autos? (271)
Freudsche
Fehlleistung einer Studentin: manum-factum-brutum statt manum-factum-verum.
(272)
Natur:
Kultur ist
bearbeitete Natur. Natur ist der unaufhebbare Grund von allem. Das gilt auch
für die Bewegung: Die natürliche Bewegung, die Eigenbewegung, ist Anfang und
ständige Quelle für geistige Bewegungen. (273)
Wie Menschen so
können sich auch Tiere und Pflanzen von vorbeirasenden Autos abwenden. (274)
Bei der
Eigenbewegung, weil im Wesen relativ langsam und zur sensiblen Reaktion
fähig, wird kein (größeres) Tier getötet. (275)
Eigenbewegung
ist Umweltschutz – und Menschenförderung. (276)
Eine mittelalterliche philosophische Position:
Die Natur ist wie der Mensch gefallene Natur. Erst durch Arbeit, d.
h. auf Veränderung gerichtete Bewegung wie dem Bau eines Klosters oder dem
Anbau eines Getreidefeldes, wird die Natur erlöst. Wenn die grüne Turmspitze
eines einsam gelegenen Hotels in einem Waldmeer plötzlich im Blick
aufleuchtet, ist das für mich ein mögliches Beispiel für die Erlösung der
Natur. Der Mensch ist die einzige Schöpfung Gottes, die selbst wieder in der
Lage ist, zu schöpfen. Das kann leider auch – wie wir wissen ― schief gehen.
(277)
Nur durch
Eigenbewegung entsteht die höchstmögliche Einheit mit der Natur.
(278)
Persönlichkeit – Psychische Funktionen, Ich-Stärke:
Einbildungskraft und Phantasie sind Vermittlungsräume zwischen der
Unmittelbarkeit des Erlebens und der Wirklichkeit des Geistes. Innerlichkeit
ist eine Tendenz der menschlichen Seele, sich den Dingen der Umwelt durch
Beseelung anzugleichen, eine Art Einverleibung, die sich vom geistigen
Ergreifen oder Erfassen dadurch unterscheidet, dass sie den Dingen gerecht
zu werden sucht. Genau hierin liegt der einzigartige Wert des Gehens. (279)
Offensichtlich
ist der normative Anteil an der Kognition wesentlich größer, als man
gemeinhin denkt. (280)
Nietzsches
Einsicht stimmt: Körperliche Behändigkeit und geistige Regsamkeit bedingen
einander. (281)
Wieso erfahren
wir etwas über die Welt, und wenn wir etwas erfahren, was erfahren wir? Über
die Eigenbewegung entstehen häufigere und größere Möglichkeiten des
Erfahrens, weil mehr Sinne daran beteiligt sind. Aus den Befunden der
Deprivationslehre von Kindern, aber auch Erwachsener wissen wir, dass
sinnliche Erfahrungen unverzichtbar sind. (282)
Insbesondere
durch die Eigenbewegung versichert man sich elementar seiner Existenz. Diese
Sicherheit überträgt sich auf das Denken, Fühlen und Handeln in anderen
Zeitabschnitten. Jeden Tag einige Kilometer laufen hat zur Folge, dass ich
intensiver, vitaler und zupackender arbeite. (283)
In der
Eigenbewegung sind immer geistige Anteile enthalten. Wie schwer diese
Koordination von Bewegung und Geist ist, sieht man sofort, wenn man ein Kind
in den ersten Lebensjahren beobachtet. (284)
Der
Anfangsimpuls zu einer Eigenbewegung, der Übergang vom Stillstand in die
Bewegung, ist oft mühsam, kostet Überwindung und verlangt
Willensanstrengung. Sich auf den Weg machen, ist auch Training des Willens.
(285)
Nur über
Eigenbewegung komme ich zu wirklichen Zielen. Wenn Neugierde ― die Gier nach
Neuem ― befriedigt werden will, muss der Neugierige sich innerlich und
äußerlich bewegen. (286)
In der Eigenbewegung fühlt oder weiß man, dass innere Prozesse und
äußere Bedingungen sich gegenseitig positiv beeinflussen, eine Einheit
bilden. (287)
Gehen ist eine
nicht-aggressive Aneignung der Umwelt. Dabei wächst der Gehende in
seelischer, geistiger und körperlicher Hinsicht. (288)
Selten: Eine
junge Mutter ist stolz, dass ihre Kinder zu Fuß zur Schule gehen.
(289)
Sich in
Bewegung zu setzen und diese Bewegung über einen längeren Zeitraum aufrecht
zu erhalten, ist nicht immer durchgängig leicht und lustvoll, sondern
erfordert oft mühsame Selbstüberwindung. Gehen über längere Strecken ist
dafür eine gute Trainingsmöglichkeit. (290)
Nur in der
Eigenbewegung entsteht eine tiefere und fundiertere Einheit mit der
jeweiligen Umwelt. Dieses Erlebnis mit ihr und mit sich selbst stiftet
Ich-Stärke. (291)
In und durch
anstrengende Eigenbewegung entsteht Engagement. (292)
In der
Eigenbewegung besteht die große Chance, eingebildete Ängste und Gefahren am
und auf dem Weg real zu überwinden. (293)
Das Ich ist
wesentlich äußere und innere Bewegung. (294)
Der aufrechte
Gang ist das, was den Menschen zum Menschen macht. Er ist die Bedingung für
Humanität. Mit dem Rückgang des Gehens geht auch die Humanität zurück.
Humanität hier primär verstanden als Entfaltung der guten Möglichkeiten des
Menschen. (295)
Ein wesentlicher Teil von Subjektivität liegt im
Körper, besser: in dem sich bewegenden Leib. Einseitige Intellektualisierung
bringt das körperliche Subjekt zum Verschwinden. Der Geist emergiert zwar
aus dem Körper, spaltet sich aber von diesem ab und wird selbständig. (296)
Ohne
Eigenbewegung keine Selbsterhaltung. (297)
Der Mensch, der
auf technische Prothesen angewiesen ist, kann schwer Ich-Stärke entwickeln.
In Psyche steckt Lebensodem, Lebenskraft, also auch Sich-Bewegendes und
Bewegtes. (298)
Vita activa gilt nicht nur für den Geist,
sondern auch für den Körper. (299)
Eigenbewegung
ist Selbstfundierung. Das Ich entsteht auch durch Muskeltätigkeit. In der
Eigenbewegung von bewegungsbetonten Spielen bis hin zu Fingerspielen mit der
Mutter gewinnt das Ich erste Gewissheit über sich selbst. (300)
Eigenbewegung
schafft Selbstbewusstsein im doppelten Sinne: a) »Ich bin diese sieben
Kilometer von A nach B selbst gelaufen, das weiß ich, das ist sicher, das
ist nun ein Teil meines Lebens« und b) »Bin ich nicht tüchtig? Das soll mir
mal einer nachmachen.« (301)
Das Wesen des
Ich ist Freiheit. Sie bestimmt alle Funktionen, auch die Bewegungen,
die dem Willen unterworfen sind. (302)
In der
Eigenbewegung des Körpers, sei es als Geste, Mimik oder Körperausdruck, aber
auch (und das ist weniger bekannt) in der Ortsveränderung zeigt sich mehr
Individualität, Persönlichkeit, Charakter als im sprachlichen Ausdruck oder
im statischen Körper. (303)
Eigenbewegung
ist der real-materielle und geistige Grund unserer Existenz. Wir verzichten
auf ihn ohne Not. Aber das ins Geistige transformierte Materielle wirkt über
die Eigenbewegung als Unbewusstes auf Geist und Seele, auf Motive, Wille,
Werte – und zwar ganzheitlich. (304)
Sich bewegen
ist qualitativ und quantitativ das Zentrum des Lebens. Folgendes
Gedankenexperiment macht das deutlich: Du hast mehrere Autos. Sind sie ein
Ausgleich für Eigenbewegung oder gar höherwertig? (305)
In der
Eigenbewegung versichert sich der Mensch auf existenzielle Weise seiner
selbst. (306)
Eigenbewegung
ist Freiheit und damit tiefste Subjektivität. (307)
Es gibt Situationen, in denen der Körper dem
Geist vorangeht. Ein Beispiel: Man ist vom Lesen oder von der Arbeit am
Computer müde, beendet sie und geht zum Postkasten oder holt Brötchen –
plötzlich verschwindet die Müdigkeit, neue Gedanken (oft sehr fruchtbare)
schießen ins Gehirn, es »bewegt sich« wieder. Oder: Ich mache morgens mit
großen inneren Widerständen meine obligatorische Morgengymnastik. Plötzlich
fallen mir Gedanken ein ― sie »fallen« aus den Muskeln. Fazit: Äußere
Bewegungen machen auch den Geist flexibel und aktivieren ihn. (308)
Die körperliche
Bewegung zeigt konkrete Endlichkeit. In ihr lernt man existenziell etwas
über sich selbst. (309)
Es geht auch um
den Teil der Sinne, die in der Eigenbewegung aktiviert werden und am
weitesten vom begrifflichen Selbstwissen entfernt sind. (310)
Mit dem Verlust
von Muskeln wird mehr als nur Muskeln verloren, nämlich Potenz, Zuversicht,
Sicherheit. (311)
Die
körperlichen Zustände und Bewegungen haben Einfluss auf die seelischen
Zustände und Prozesse. (312)
In der
Eigenbewegung werden nahezu alle psychischen Fähigkeiten aktiviert, am
wichtigsten davon der Wille. (313)
Der
Naturphilosoph Carl Gustav Carus betrachtet den Leib als Ausdruck der Seele.
Leib ist immer der eigenbewegte Körper. Leib und Seele sind eng verbunden,
während der Geist relativ autonom vom Leib ist. Über Eigenbewegung forme ich
meine Seele. (314)
Gehen hat viel
mit Selbstbestimmung, mit der Möglichkeit der Reflexion, des Anhaltens, des
Betrachtens zu tun. (315)
Wenn ich eine
längere Zeit zügig laufe, fühle ich mich psychisch frisch. Diesen Übergang
vom Laufen auf die körperliche, geistige und seelische Befindlichkeit gilt
es zu erkennen und auszunutzen. (316)
Es gilt,
materiell Verfügbares im Modus des Seins und nicht des Habens zu besitzen.
Der Geist muss mit den Sachen mitwachsen. Das gilt auch für
Ortsveränderungen. (317)
Eigenbewegung
stärken heißt, Autonomie stärken, heißt auch, dass der Konsument sich zu
einem Bürger macht. (318)
Wer die
Freiheit kennt, setzt sich nicht den Qualen des Autofahrens aus. (319)
Eine
fundamental elementare Freiheit ist die Eigenbewegung. Das wird wohl erst
begriffen, wenn man ans Bett gefesselt ist. (320)
Mühe und
Anstrengung zu meiden, heißt, Körper, Seele und Geist zu schwächen. (321)
Wer nur im
Wasser lebt, wird zum Wasserwesen, wer nur im Schein lebt, wird zum
Scheinwesen. (322)
Sport:
Veröffentlichungen über den Sport
[58] klammern in der Regel systematisch die Umwelt-
bzw. Objektdimension aus. Aber die Umwelt ist nicht neutral, sie wirkt. Das
Ziel einer Bewegung ist auf sinnhafte Welt ausgerichtet, was von Nahrung bis
zu schönen Objekten reicht. Laufen auf dem Laufband erschwert ungemein die
Motivation, weil es widersinnig ist und sich negativ auf Seele und Geist
auswirkt – diese fühlen sich betrogen. (323)
Funktionale
Ortsveränderungen zu Fuß oder mit dem Rad durchzuführen, ist die wertvollste
Realisation gefolgt von zweckfreiem Spazieren gehen und Wandern. Sportliche
Betätigung ist wegen der vernachlässigten Umwelt nur von halbem Wert. Diese
Einschränkung gilt nicht für den Mannschaftssport, der seinen besonderen
Wert im Sozialen hat. (324)
Der
professionelle Sport ist hochabstrakten Zielen, der reinen Zeit und der
reinen Zahl unterworfen, während Eigenbewegung im Alltag vielfältige Ziele
auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Phasen hat. So ist partiell
auch der Weg ein Ziel. (325)
Autosport ist
ein Widerspruch in sich. (326)
Trends:
»Die Babyboomer
wollen in die Innenstadt: Die Entwicklung und Belebung der
Innenstädte wird auch in den Vereinigten Staaten zunehmend ein Thema. Die
großen Metropolen sind häufig auf die Bedürfnisse der Automobilgesellschaft
zugeschnitten. Urbanität im europäischen Sinne – belebte Fußgängerzonen und
Einkaufsstraßen, gemütliche Plätze und Grünanlagen – ist selten. Die
Bürodistrikte sind nachts und am Wochenende verwaist, eingekauft wird in
riesigen Malls an den Hauptverkehrsstraßen, die Wohnquartiere der
Besserverdienenden liegen im Grünen«.[59]
(327)
Es deutet
vieles darauf hin, dass Bewegung im Sinne von Selbstbewegung ein großes
Thema wird: Selbst große Handelsketten machen Reklame für Eigenbewegung.
(328)
Umwelt:
Es ist wohl so:
Der Geist holt sein Material hauptsächlich aus der jeweiligen Umwelt. Die
überwiegend natürliche Umwelt des Indianers prägt diesen, die primäre
Auto-Fernseh-Konsum-Umwelt prägt den auf der gegenwärtigen Höhe der Zeit
sich befindenden Menschen. Umwelt enthält nicht nur Inhalte, sondern auch
Strukturen. Die meisten Zeitgenossen meinen, sie können dieser Prägung
entgehen. (329)
Zum Ausdruck
gehören auch Gestik, Mimik und die ganzheitliche Körperbewegung als
Ortsveränderung (Proxemik). Die Ausdrucksbewegungen sind (und waren immer)
gesellschaftlich bestimmt über Rollen, Vorbilder: Ein Pastor oder ein
Fußballspieler verkörpern oder »verbewegen« ihre Rolle. (330)
Es ist ein
Unterschied, ob die Prägung eines Kindes in der Buchhandlung oder an der
Tankstelle stattfindet. (331)
Wege:
Im Weg steckt
die Ambivalenz von Bleiben und Gehen. (332)
In »bewegen«
steckt sowohl der erst zu schaffende als auch der bereits gebahnte Weg. In
Weg ist Ziel und Sollen enthalten. (333)
In unserer
Sprache müsste es das Verb »wegen« geben, das die Einheit von Mensch und Weg
deutlich machen würde. In allen Verben der Fortbewegung einschließlich »sich
bewegen« wird der Weltpol nicht ausgesprochen. (334)
Wege ohne
Widerstände sind keine wirklichen und lohnenden, sondern nur noch Ziele.
(335)
Die Lehrerin
und die Schüler vermessen mit Schritten den äußeren Schulbau, Räume und
Gänge. Das ist eine Aneignung ihrer Schule. Aber es gibt auch noch
Wege jenseits des Messens. (336)
Straßen sind
eigentlich Orte der Begegnung, wo Bewegungen harmonisch aufeinandertreffen
können. (337)
Wirklichkeit:
»Inszenierung«
ist vielleicht ein ganz wichtiges Kriterium für die Feststellung von
Wirklichkeit. In der Inszenierung geschieht nicht ein Ereignis, sondern es
wird konstruiert. Inszenierte Wirklichkeit ist eine andere Wirklichkeit als
die natürliche. Es geht hier nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein
Sowohl-als-Auch. Sich aber über die Differenz beider Wirklichkeitsbegriffe
klar zu sein, ist von entscheidender Wichtigkeit. (338)
In der
bürgerlichen Epoche ist nach Hegel die Wirklichkeit nicht mehr Poesie,
sondern bereits Prosa. Müssen wir für die Beschreibung der dominanten medial
vermittelten Welt nicht eine neue Kategorie erfinden? (339)
Wirklichkeit
ist nach einer bestimmten philosophischen Ausrichtung verborgen, sie meldet
sich mit einer Stimme, auf die sorgfältig geachtet werden muss, wenn sie
überhaupt Gehör finden soll. Im Gehen findet das natürlich eher statt als
beim Autofahren. Übrigens ist die Verwendung des Begriffs »Wirklichkeit« in
diesem Kontext angemessener, weil darin die aktive Komponente, das Wirken,
enthalten ist. (340)
Mir scheint,
dass im praktischen Alltag noch mehr als in der Wissenschaft der Begriff des
Wirklichen an »Wirklichkeit« verliert. Da er offensichtlich nicht mit
Sicherheit bestimmbar ist, verzichtet man zunehmend auf ihn. »Es stehen uns
keine ausreichenden Mittel zur Verfügung, Wahrheit als Wahrheit und Schein
als Schein zu bezeichnen.«[60]
Aber wir können komparative Aussagen machen wie »Der vor meinem Haus
stehende Ahorn ist wirklicher als eine Plastikimitation.« Das gilt auch für
moralische Urteile. Diese Differenzierung heißt, Humanität zu leben. (341)
Es geht mir um
die Rettung der »wirklichen Wirklichkeit«, um das Sein, das der Wirklichkeit
am nächsten ist. (342)
Die allgemeine
Tendenz geht zur Ruhigstellung menschlicher Körper. Wir müssen »wieder Sinn
für die taktile Realität gewinnen, dass der Raum nicht bloßes Medium der
Fortbewegung ist und sonst nichts, dass der Wunsch, den menschlichen Körper
von Widerständen zu befreien nicht mehr im Mittelpunkt steht«.[61]
(343)
Die sichere
Bestimmung, was Wirklichkeit nun wohl wirklich sei, ist grundsätzlich von
keinem Erkenntnissystem zu leisten. Wirklichkeit zeigt sich aber in
kontinuierlichen Erscheinungs- und Abschattungsmannigfaltigkeiten.[62]
(344)
Wirklichkeit (wie »Ganzheit«) ist ein Ideal und
von uns Menschen nicht erreichbar. Höchst mögliche Annäherung wäre sinnliche
Wahrnehmung und Reflexion. So gesehen gibt es nur eine subjektive
Wahrheit und eine subjektive Ganzheit. (345)
Entscheidend
ist die Differenz von wahrgenommener Wirklichkeit und wahrgenommenem Bild.
(346)
Wirtschaft:
Man muss der
Wirtschaft dankbar sein: Sie ist der Ermöglichungsgrund für Leben und
Kultur. Abzulehnen ist ihr Bestreben, alle anderen Praxisfelder zu
bestimmen. (347)
Weniger
Autofahrten, weniger Abhängigkeit vom Öl. (348)
Die
volkswirtschaftlichen Veränderungen, die durch eine wünschenswerte
Reduzierung des Autos verbunden sind, vermag ich nicht zu antizipieren. Das
ist sicherlich ein Defizit meinerseits. (349)
Zeit:
Die objektiv
Zeit ist eine Möglichkeit der vielen subjektiven Zeiten. Gehen, wenn
es den Namen verdient, findet im Modus der subjektiven Zeit statt. (350)
Der tiefste
Sinn der Sorge ist das Vergehen der Zeit, weil der Mensch endlich ist. In
der Eigenbewegung ist man am stärksten in der Zeit. (351)
In der
Eigenbewegung wird die subjektiv-lebendige, die gefühlte Zeit (temps)
gegenüber der objektiv-mechanisch-linearen Zeit (durée) gestärkt. (352)
Zielvorstellungen – Alternativen, Pragmatik,
Modelle, Vorbild:
Use it or loose it. (353)
Eigenbewegung
könnte wegen der gestiegenen Energiepreise eine Alternative zur
motorisierten Fremdbewegung werden. (354)
Inzwischen bin ich so weit, dass ich nur mit
größtem Widerwillen Auto fahre. Das war nicht immer so. Reflexion einerseits
und eine Praxis der Gewohnheiten sind Grundlagen für den Ausstieg. (355)
Grundsätzlich alle Uferstraßen von Flüssen und
Seen für den Durchgangsverkehr von Autos sperren. (356)
Individuelle
und gemeinsame Überlegungen anstellen, wann, wo und wie man das Auto durch
andere Fortbewegungsmittel und -weisen zurückdrängen kann. Fakt ist
offensichtlich, dass autofreie Straßen und Wege Fußgänger und Radfahrer
anziehen. (357)
Der Polizist
Holger Thomsen kommt in seiner Acht-Stunden-Schicht mit dem Fahrrad locker
auf 30 bis 50 Kilometer. Und das bei jedem Wetter: »Das hält fit – auch ohne
Zulage.« Auf diese Weise vermeidet er Berufskrankheiten wie schmerzende
Gelenke und Rückenprobleme.[63]
(358)
Aktion einer Krankenkasse: Zur Arbeit mit dem
Rad. (359)
Als
Selbstverbindlichkeit und Versuch: Eine autofreie Woche. (360)
Die verkehrstechnische Gestaltung des Brockengebietes ist vorbildlich:
Weiträumig ist dieses Areal für den Individualverkehr gesperrt. Eine Bahn
ermöglicht, auch ohne Eigenbewegung auf den Brocken zu gelangen. Jährlich
sind es über 50.000 Wanderer, darunter auffallend viele jüngere Menschen.
Das Konzept ist aufgegangen. Übrigens – soweit ich es beurteilen kann – kein
Murren und keine Forderungen nach Autozufahrten. (361)
Die strikte Trennung von Produktion, Konsumtion
und Wohnen ist heute aufgrund moderner Informationstechnologien nicht mehr
notwendig. (362)
Die Bürger müssen sich dafür einsetzen, dass ihr
Stadtteil eine entsprechende Infrastruktur zur Befriedigung der
Grundbedürfnisse hat. Dann ist aber einzufordern, dass der Bürger hier
vorwiegend einkauft. Daran führt kein Weg vorbei. Und es rechnet sich
allemal, wenn man Benzinverbrauch, Abschreibung und Zeitaufwand mit
einbezieht. (363)
Wenn Fuß- und Fahrradwege zielfunktional im
weitesten Sinne sind, werden sie angenommen. Jede Stadt muss von der
Innenstadt strahlenförmig ausgehende Fuß- und Fahrradwege anlegen. Gleiches
gilt für öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Bahnhof, Sportstätten. Es
besteht kein Grund, diese Aufgabe gegenüber dem normalen Straßenbau als
zweitrangig zu betrachten – im Gegenteil. Abstellmöglichkeiten für Fahrräder
wären ein weiterer Mosaikstein, das Fahrradfahren attraktiver zu machen.
(364)
Für gesicherte Schulwege sorgen, so dass alle
Kinder, die unter drei Kilometer von der Schule entfernt wohnen, zu Fuß oder
mit dem Rad diese erreichen können. (365)
Warum nicht gemeinsame Parkplätze für Wohngebiete
anlegen – ein 300 Meter langer Fußweg ist nicht nur zumutbar, sondern eine
Wohltat. (366)
Aus der Einleitung eines Referats zum Thema
»Natur und Kind«: »Liebe Gäste, welch ein schöner Tag, der ganze Stadtteil
ist in Sonnenlicht getaucht, Häuser werfen geometrische, Bäume diffuse
Schattenbilder. Die wenigen Menschen auf der Straße scheinen leichter zu
gehen, mehr zu lächeln, zumindest weniger verspannt zu sein. Neben dem
obligatorischen Benzingeruch nehme ich auch andere Düfte wahr: den von
Blumen und Sträuchern aus Vorgärten, den aus dem türkischen Gemüseladen, den
aus der Frittenbude. Ich höre Gesprächsfetzen, Kirchenglocken und
Vogelgesang. All das und vieles mehr nehme ich deshalb wahr, weil ich mich
mit meinem Rad durch den mir bisher unbekannten Stadtteil fortbewege. Ich
benutze eben nicht das Auto, das mich nahezu hermetisch von der Umwelt
abschirmt. Ich aktiviere meinen Körper – und Freude, Zufriedenheit, ja ein
kleines Glück entstehen. Ich wurde durch meine er-fahrende Aneignung
bereichert. Es ist schön hier.« (367)
Wer einsam
wohnen will, muss diese Einsamkeit auch auf die Straßen ausdehnen. Faktisch
hieße das, auf das Auto zu verzichten, zumindest es außerhalb dieser
Einsamkeit zu parken. Das gilt auch für »sensible« Stadtteile. (368)
Small is
beautiful: Kleine Läden könnten mit Hilfe moderner Kommunikationsmittel und
Techniken existieren, wenn der Konsument es will. Heute gibt es noch die
Buchhandlungen – aber wie lange noch? (369)
Es gilt, die
Möglichkeiten und Grenzen der Eigenbewegung in Zeiten der Globalisation und
des demographischen Wandels neu zu durchdenken und zu bestimmen. (370)
Was haben die
vierjährige Johanna und der zweijährige Matthies alles im Zug erlebt, als
der Großvater sie aus Hamburg abholte? Den Bahnhof, den ankommenden roten
Zug, der nicht einfache Einstieg, die freundlichen Mädchen, die den Jungen
gleich unter ihre Fittiche nahmen und Schokolade verteilten, die Hochbrücke
über den Kanal, das Herumlaufen im Waggon, die Großmutter, die am
Bestimmungsbahnhof die kleine Gruppe strahlend empfing. (371)
Eine wichtige
und sinnvolle Arbeit wäre, einen Atlas herzustellen, der die verschiedenen
Belastungsstufen durch Autos aufzeigt, so dass Landschaften und Städte bzw.
Stadtteile erkennbar wären, die vom Auto nicht oder wenig »befallen« sind.
(372)
Selbst
Autobefürworter haben im Unbewussten den Wunsch nach autofreien Zonen. Davon
leben die Malls, die Zoos, die Vergnügungsparks. Diese Wünsche gilt es, ins
Bewusstsein zu heben und dort anzuknüpfen. (373)
Während der
»Schneekatastrophe« fährt ein junger Mann seit Jahren das erste Mal wieder
mit der Bahn. Plötzlich lichtet sich sein Bewusstsein, und er sieht die
Schönheit der verschneiten Landschaft. (374)
Im Zeitalter
der totalen Auto-Mobilität, in dem man auch in den abgelegensten
Gebirgswinkeln oder auf kleinsten Inseln auf Autos trifft bzw. Autos auf
einen treffen, sind trotzdem Freizeitgebiete ohne Autos,
Motorräder, Motorboote, Snow-jets und Wasserskijets für eine Minderheit
attraktive Nischen-Angebote. (375)
Hotels sind
ästhetisch gut beraten, wenn sie ihre Parkplätze weit vom Haus entfernt
»verstecken«. (376)
Die Kritiker
des Autos müssen den Autobefürwortern bewusst machen, dass diese bei
Verzicht oder mäßigem Gebrauch des Autos Gewinne an Lebensqualität bekommen.
(377)
Viele Einwohner
New Yorks laufen, auch deswegen, weil es keine Parkplätze gibt. Ist das ein
Vorbote? (378)
»Wieder ganz
viel autofreie Erholung« – Reklame in einem Bahnhof. (379)
Bewegungsfreude
oder -ablehnung erklärt sich aus dem täglichen Umgang, der Gewohnheit, der
normativen Kraft des Faktischen. Entwicklung von Gewohnheiten, die die
Eigenbewegung stärken, wäre eine gute Strategie. (380)
Niemand möchte
an einer vielbefahrenen Straße wohnen, deswegen sind die Mieten dort sehr
günstig. Vorschlag: Wer gerne viel fährt, müsste in diesen Wohnungen
»leben«, wer in der Natur wohnen will, muss längere Fußwege in Kauf nehmen,
da der gemeinsame Parkplatz außerhalb liegt. (381)
Gegen inhumane
Tendenzen zu leben, setzt den neugierigen, selbständigen,
verantwortungsvollen und sozial-kulturell interessierten Bürger voraus. Ein
Bürger, der sich auf seine Eigenkräfte verlässt, sich erinnert, dass er zwei
Beine zum Laufen hat und es auch nicht als soziale Deklassierung
interpretiert, wenn er mit dem Rad oder Bus in die Stadt oder zum
Arbeitsplatz fährt. Das bringt sogar Spaß und schafft Selbstwert. Nebenbei
tut man seiner Gesundheit etwas Gutes, entlastet die Krankenkassen und
leistet zusätzlich wahrscheinlich einen kleinen Beitrag zur Verhinderung des
Klimawandels. (382)
Es geht im Kern
um die Wiedergewinnung der Schönheit. (383)
Ich gehe von
uns zum drei Kilometer entfernten Stadtkern: Grüße den Friedhofsarbeiter,
eine ältere Dame fragt mich nach dem Weg, ich tröste ein kleines Kind, ein
hübsches Mädchen kreuzt lächelnd meinen Weg. (384)
Ich überquere
mit dem Rad die vielbefahrene Straße und sehe als Einziger ein
Stockentenpaar, das die Straße überquert, und kann die Autos stoppen. Ein
Fahrer schimpft empört, wird aber plötzlich ruhig, als er die Enten sieht.
(385)
Weil alle mit
dem Auto fahren, sieht keiner die Katze mit ihren vier Jungen in der
Toreinfahrt. (386)
In Analogie der
Transformation von Schwertern in Pflugscharen müssten Autos in öffentliche
Verkehrsmittel überführt werden. (387)
Utopisches zu
einer Stadt an der Ostsee[64]:
� Die Autos
(bis auf Nutzfahrzeuge) werden aus den Stadtteilen rausgedrängt.
� Das
Grundstück der »Pilkentafel« als Gaststätte und Theatereinrichtung wieder
wie früher direkt mit dem Fördeufer verbinden; es ist jetzt durch eine
hochfrequentierte Küstenstraße vom Ufer getrennt.
� Die
Innenstadt blüht auf. Die hühnerkäfigartigen Einkaufszentren auf ehemals
grünen Wiesen schließen wegen mangelnder Nachfrage.
� Strandbäder
an der Förde erleben auch wegen der momentanen guten Wasserqualität eine
Renaissance.
� Universität,
Fachhochschule und Volkshochschule halten einen Teil ihrer Veranstaltungen
in Lokalitäten der Innenstadt ab.
� Mehrere
literarische Cafés öffnen ihre Pforten.
� Jeder
Stadtteil veranstaltet gut besuchte Feste.
�
Naherholungsgebiete wie der Volkspark werden von der Bevölkerung in Besitz
genommen.
� Die bisher
im Konsumrausch und Autowahnsinn nicht wahrgenommenen Schönheiten unserer
Stadt werden vom Bürger nun wahrgenommen und durch Besuch geschätzt.
� Man spricht
wieder miteinander: Erwachsene mit Erwachsenen, Kinder mit Erwachsenen und:
Die Frauen entdecken, dass es in unserer Stadt unsagbar viele interessante,
kluge und gut aussehende Männer jeden Alters gibt, so dass die männlichen
Models aus Illustrierten, TV-Shows usw. dagegen schal wirken. Statt
industriemäßig fabrizierte Stars aus Berlin oder gar New York im Scheine zu
erahnen, kann man hier die Männer lebendig und ganzheitlich mit all ihren
aktuellen und potenziellen inneren und äußeren Bewegungen genießen.
� Die Männer
entdecken, dass es in unserer Stadt … (388)
3. Verluste durch Fremdbewegung
A. Allgemeine Aussagen
Fremdbewegung frisst Eigenbewegung, wobei
letztere – und das ist das Manko dieses organischen Bildes – nicht wie Gras
nachwächst. Angemessener ist es, von einer Ersetzung zu sprechen:
Fremdbewegung ersetzt Eigenbewegung. Im Folgenden werden ausschließlich
negative Auswirkungen[65],
also die Verluste durch Fremdbewegung, thematisiert, weil ihre destruktiven
Momente nicht zufriedenstellend und hinreichend bewusst sind – was übrigens
auch ihre Stärke erklärt.
Phänomenologie der Fremdbewegung als sekundäre
und virtuelle Bewegung
Es gibt zwei Formen der Fremdbewegung: das
Transportiert werden, das man als eine sekundäre Bewegung auffassen kann,
und die virtuelle Bewegung.
In der sekundären Bewegung werde ich sitzend im
Auto, im Zug, im Flugzeug transportiert[66].
In der virtuellen Bewegung bewegt sich die Umwelt im Scheine, während der
Zuschauer ebenfalls eine sitzende Position einnimmt.[67]
In ihr bewegt sich, abgesehen vom mechanischen An- und Ausgehen der
Lichtpunkte auf dem Bildschirm, real nichts, sondern die Bewegungen müssen
erst im Kopf erzeugt werden, so dass man hier von einer geleiteten inneren
Eigenbewegung sprechen könnte ― aber diese Art von Eigenbewegung ist
natürlich nicht gemeint.
Eigenbewegung, die den Namen verdient, hat aus quantitativer und
qualitativer Sicht also zwei faktische »Hauptverhinderer«, das Auto und den
Fernseher.
Die westliche, sich aber global erweiternde Zivilisation, ist auch
eine Zivilisation der Zerstörung. Hier beschränken wir uns auf die
Thematisierung von Zerstörungen, die durch den Einsatz von exogener
Fremdenergie quasi indirekt entstehen: die Emissionen motoren- und
düsenbetriebener Fortbewegungsmittel wie Autos, Motorräder, Flugzeuge, Züge
einerseits und die dafür notwendigen Infrastrukturen wie Straßen, Flughäfen,
Eisenbahntrassen andererseits. Zerstörungen, die oft nicht direkt
wahrgenommen, sondern verdrängt werden, die gewissermaßen unbeabsichtigt
sind.
Tendenzielles
Entweder-Oder
Da das Auto auf der Erscheinungsebene als das
zentrale Problem angesehen wird, bedarf es noch einer vertiefenden
Begründung und Argumentation für diese Position. Das Auto ist der große
blinde Fleck in unserer Gesellschaft. Das Auto ist der größte
Negativ-Veränderer der Welt, der Kultur und von uns selbst. Direkt und
indirekt ist es Ursache für größte Zerstörungen. Direkt: autogerechte Stadt.
Indirekt: Die Autos fahren aneinander vorbei mit der Folge drastischer
Reduzierung von Kommunikationsmöglichkeiten. Der damit verbundene
Energiebedarf ist inzwischen ein politischer Faktor geworden, der in seiner
Wirkmächtigkeit noch gar nicht angemessen begriffen wird.
Das Auto ist aus quantitativer Perspektive sowohl
im produktiven als auch im Bereich des Konsums der entscheidende Faktor:
Jeder siebte Arbeitsplatz hängt von der Autoindustrie ab, dreißig Prozent
der Ausgaben der privaten Haushalte beziehen sich auf das Auto. Die große
Bedeutung und Wertschätzung des Autos lässt sich mühelos aus dem
Alltagshandeln und der Hinwendung zum Auto in Gesprächen, im Denken und
Fühlen aufweisen. Jede Einschränkung der Autonutzung wird als Anschlag auf
die persönlichen Möglichkeiten und die Freiheit des Bürgers bewertet.
Verstärkter Schneefall wird als Katastrophe und Chaos eingestuft, ungefähr
zu vergleichen mit einer Kriegssituation. Kurz: Das Auto ist neben dem
Fernseher der Mittelpunkt des materiellen Lebens. Vielleicht ist das ein
Grund dafür, dass eine fundamentale Kritik des Autos das eigentliche Tabu in
unserer Gesellschaft ist. Denn, wie das Auto das entscheidende Medium der
normalen Lebensvollzüge ist, so würde seine Reduzierung eine Revolution
bedeuten.[68]
Warum dennoch reduzieren? Im Auto fokussiert sich eine Produktionsweise, die
blind gegenüber ihren Produkten und deren Auswirkungen auf natürliche,
soziale und kulturelle Umwelt sowie gegen die Benutzer selbst ist.
»Entweder – Oder« ist die Übersetzung des
Buchtitels »Enten-Eller« des dänischen Philosophen Kirkegaard. Ich bin der
Überzeugung, dass es im Interesse einer humanen Gesellschaft wäre, das Auto
im großen Umfange zurückzudrängen, d. h. nicht zu eliminieren, sondern auf
genuine Aufgaben zu beschränken (Liefer-, Kranken-, Ärztewagen, Taxi usw.,
aber auch die private Nutzung in notwendigen Situationen). Die Zerstörungen
haben einen augenfälligen Umfang angenommen – zumindest für die, die noch
sehen können –, der nicht mehr hingenommen werden darf und ein letztlich
leeres und folgenloses »Sowohl-als-Auch« nicht mehr zulässt.
Wer das als Schwarzmalerei einschätzt, möge sich einmal eine halbe
Stunde an den Rand einer viel befahrenen Hauptstraße stellen oder dort gar
eine Wohnung beziehen. Erst aus dieser Position heraus erfährt man hautnah
in aller Schärfe die Aggression und Hässlichkeit von Autos, Motorrädern und
Lastzügen im Gegensatz zum vorbeiradelnden Schulkind und den wenigen
vorübergehenden Passanten. Erst aus dieser Perspektive versteht man die Rede
vom Geschoss »Auto«, während das Wageninnere umgekehrt proportional an
Bequemlichkeit, Ästhetik und Ruhe zunimmt. Deswegen ist es schlicht
ungerecht, von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung
aller Verkehrsteilnehmer auszugehen.
Gedanken und
Befunde zur Fremdbewegung
»Auswilderung«:
Man müsste eine
Genossenschaft gründen, in die Fußgänger, Fahrradfahrer und Benutzer
öffentlicher Verkehrsmittel ob der Schönheit, die sie erfahren, einen Euro
einzahlen, während die Autofahrer, ob der objektiven Schmerzen, die sie sich
und der Umwelt zufügen, zehn Euro bekommen müssten. Vielleicht hilft das, um
den Nebel im Bewusstsein zu lichten. (389)
Das Kriterium
der Nachhaltigkeit in die Gewohnheiten fließen lassen. (390)
Um Zwängen
verschiedenster Art zu entgehen, bietet sich die indirekte Selbsterziehung
an. Man schafft sich selbst eine Umwelt, in der mögliche »Verführer« ―
Zigaretten, Alkoholvorräte, Zeitungen, Fernseher, Auto ― nicht mehr zur
Verfügung stehen. Diese Strategie ist sicherlich nicht optimal, aber oft
effektiv. (391)
Man müsste – in Analogie zu Hogarths Beer Street
und Gin Lane – zum einen die von Menschen bevölkerte Straße, zum anderen
eine vielbefahrene Autostraße darstellen. (392)
Es gibt
Menschen, die inhumane Zustände offensichtlich intuitiv erkennen, andere
wiederum über Anstöße und Fragen: »Wie seid ihr auf die Idee gekommen, von
München nach Garmisch-Patenkirchen zu laufen?« (393)
Bedenkt man die
Deprivationen des Autofahrers, müsste er für jede Fahrt mit 20 Euro
subventioniert werden. (394)
Selbsthilfegruppen müssen gegründet werden, um sich von der
selbstverschuldeten Autokrankheit zu befreien. (395)
Wie Greifvögel,
die in Gefangenschaft gelebt haben, wieder an Freiheit gewöhnt werden
müssen, so müssen wohl auch die notorischen Autofahrer ausgewildert werden
in die Welt der Eigenbewegung. (396)
Auto
– Stellung in der Gesellschaft, Auswirkungen:
»… und also
öffnet man sein Garagentor und fährt hinaus und an der Welt vorbei«.[69]
(397)
Wer große Teile
seines wachen Lebens im Reich der Schatten verbringt (insbesondere
Autofahren und Fernsehen), wird selbst zum Schatten. (398)
Ich verstehe
nicht, warum Menschen so stolz auf ihr Auto sind ― sie haben kein Stück
davon selbst geschaffen. (399)
Jede Bewegung
und jedes menschliche Produkt sind Geist. So ist ein Auto objektivierter
Geist, aber nur dessen kausaler Anteil, während der freiheitliche Anteil
nicht in ihm vorhanden ist. (400)
Ortsveränderung
mit Hilfe technischer Systeme ist eine große, nicht infrage zu stellende
Errungenschaft. Es geht um das rechte Verhältnis von Eigen- und
Fremdbewegung, das nicht besteht. (401)
Beleg für
emotionale Bindung an das Auto: »Des Deutschen liebstes Kind – das Auto –
parkt gleich neben dem Bett. Lästige Parkplatzsuche, lange Wege zum Auto und
mühsames Treppensteigen mit Einkaufstüten haben ein Ende. Die Bewohner
fahren mit ihrem Auto direkt von der Straße in den Aufzug. Die Carloggia
befindet sich direkt neben der Wohnung. Das ermöglicht beispielsweise auch
im fünften Stock den Blick auf den eigenen Wagen aus dem Wohnzimmerfenster.«[70]
(402)
Die
gegenwärtige Generation der Jugendlichen ist bereits die dritte, die in
Atmosphären der naturwüchsigen Selbstverständlichkeit aufwächst, das Auto
als einziges Fortbewegungsmittel zu nutzen. Großeltern und Eltern sind die
Modelle für dieses alternativlose, eindimensionale Denken und Handeln.
Bereits im Sehen werden nach neueren gehirnphysiologischen Erkenntnissen
(Spiegelneuronen) Vorbilder wirksam. (403)
Die
Systemtheorie erklärt, dass der Autofahrer in der Logik des Systems »Auto«
faktisch und gedanklich eingemauert ist, sodass kritische Einwände sich
nicht in ihm entwickeln bzw. ihn nicht erreichen.[71]
(404)
Autofahren
verhält sich zum Gehen oder Radfahren wie ein Tagesschlager zu einer
Sinfonie. (405)
Bequemlichkeit,
Schnelligkeit, Transportmöglichkeiten, Grenzenlosigkeiten sind wohl die
Hauptargumente für das Auto, die genannt werden und auch
handlungsbestimmende Kategorien der Gegenwart sind. Das Auto als
Darstellungsmittel, Kontaktverhinderer, »Fremdenvermeider« und
Umweltzerstörer wird nicht genannt. (406)
An einem schönen Sommertag stauen sich Cabriofahrer und Motorradfahrer
vor dem Naturschutzgebiet, das sie nicht befahren dürfen. Ratlos und ständig
um sich blickend, ob sie nicht bewundert werden, verharren sie einige
Minuten, um dann aufbrausend von dannen zu fahren. (407)
»Das Auto ist
für mich eine Stück Freiheit« betonen 19 Senioren (nur Männer!) im
Gesprächskreis eines Autoclubs. (408)
Die »Freiheit«
der Autofahrer ist die Unfreiheit der anderen ― und auch die der Autofahrer
selbst. (409)
Qualität setzt
sich nur durch, wenn sie häufig (also quantitativ) wahrgenommen wird. So
gefährdet ein Prozent Autokritik nicht die Dominanz des Autos – im
Gegenteil, zugelassene Kritik ist ein Beleg für unangefochtene Stärke eines
jeglichen Systems. (410)
Sinnlich nimmt
man im Auto die Innenausstattung und eventuelle Mitfahrer wahr. Die
Außenwelt beschränkt sich auf den visuellen Sinn, wobei das Blickfeld durch
die Fenster eingeengt wird. (411)
Autofahren ist Erfahrungslosigkeit. (412)
Ein neuerbautes
Nobelhotel bei Kitzbühel hat alle Parkplätze und Straßenzugänge für Autos
unter die Erde verlegt. Damit ist eine große ästhetische Aufwertung
geschaffen, die man auch als indirekte Kritik am Auto interpretieren kann.
(413)
Was passiert
beim Autofahren mit den Muskeln, Sinnesorganen und der
Kommunikationsfähigkeit? Ein verdrängtes Thema. (414)
Die
Erfolgsgeschichte des Autos erklärt sich auch dadurch, dass man im Auto das
Fremde, das Zufällige, das Anstrengende, das Unangenehme, das Plötzliche
umfährt (im Sinne von überfahren und herumfahren). (415)
Das teure Auto
ist mobiler Reichtum, den man überall im Modus der Unabsichtlichkeit zeigen
kann. Deswegen wird jeder Weg, und sei er noch so kurz, mit dem Auto
gefahren, und es werden permanent neue Fahrten erdacht. (416)
Vielleicht drückt sich in privaten und öffentlichen Rasereien wie dem
Formel-1-Rennen am deutlichsten der nekrophile, also der todesliebende
Charakter unserer Zivilisation aus (Erich Fromm). (417)
Werden,
Bewegen, natura naturans sind wesentliche »Kontextbegriffe« der
Eigenbewegung. Autofahren ist kein Werden, weil der Autofahrer sich nicht
entwickelt, sondern auf sich und in sich zurückfällt. Das Werden des Autos
dagegen besteht in reiner Abnutzung. (418)
Es gilt, die
Argumente der Autofahrer Ernst zu nehmen und genau zu analysieren. Die
häufigsten sind: Bequemlichkeit, Schnelligkeit, universelle Erreichbarkeit,
große Transportmöglichkeiten, mehr Spaß, Schutz vor schlechtem Wetter und
unerwünschten Menschen und – oft nur verschämt zugegeben – häufigere
Gelegenheiten, sich mehr oder weniger offen durch das Auto darzustellen.
(419)
Mit der
persönlichen Zeichenwahl auf Autoschildern (die Anfangsbuchstaben des Namens
und bei älteren Fahrern eher das Geburtsjahr, bei jüngeren eher das
Lebensalter) ist eine weitere Möglichkeit der Identifizierung und
Emotionalisierung mit dem Auto geschaffen, die fast nicht aufzubrechen ist.
Das Auto muss entemotionalisiert werden, weil es destruktiv ist: Autos
dürfen nicht geliebt werden. (420)
Die Attraktivität des Autos besteht vielleicht
darin, dass es massiv re-infantilisiert, indem es ein Gefühl ähnlich dem
eines Säuglings im Kinderwagen erzeugt. (421)
Auto und
Klimaverschlechterung bilden eine untrennbare Einheit. (422)
Die
Unterhaltskosten für das Automobil betragen je nach Größe zwischen 311 und
1454 Euro pro Monat.[72]
(423)
»Für meinen
Mann war der Mercedes heilig« sagt eine Witwe während einer Diskussion. Das
erklärt, warum sie das Auto prinzipiell nicht kritisieren kann, obwohl sie
scharf im Denken ist. (424)
Das Wesen des Gefängnisses ist die Isolation. So
gesehen ist das Auto ein mobiles Gefängnis. (425)
Die emotionale
Bindung an das Auto löst Denk- und Kritikblockaden aus. (426)
Im Auto wird die Welt in doppelter Hinsicht
körperlos: Zum einen werden die Körper der Fahrenden als Erfahrung für
andere praktisch eliminiert, zum anderen löst sich die Welt in Schlieren und
Streifen auf – so wie das Scheinwerferlicht auf bei Nacht aufgenommenen
Fotos zu Schlieren wird. (427)
Das Auto schafft (Auto-)Typen, nicht Individuen.
(428)
Wir fahren um zu finden, und finden nichts, weil
wir vorbeifahren. (429)
Im Auto wird der Mensch sowohl im Bewusstsein als
auch im Verhalten eine Funktion des Autos. (430)
»Ein Viano (Mercedes) ist so individuell wie die
Menschen, die mit ihm unterwegs sind.«[73]
(431)
Die habituellen
Autofahrer verhalten sich, als ob die Vogelgrippe schon universell geworden
wäre: kontaktlos, abgeschottet, bewegungslos. (432)
Das Verständnis
und die Definition von Winter werden zunehmend durch die Erfordernisse und
Pragmatik des Autos bestimmt. (433)
Die
Destruktionen durch das Auto betreffen insbesondere Menschen – die Fahrenden
selbst und die Menschen in der Umgebung der Autos – und die Städte. (434)
Das Auto ist
die Maschine der jüngeren Neuzeit, das die Umwelt und Lebenspraxis zum
Nachteil tiefgreifend verändert hat. (435)
Das größte Tabu
gilt dem Zerstörer natürlicher, kultureller und sozialer Welt: dem Auto.
Dieses Tabu wird von allen Klassen, allen Generationen, inzwischen allen
Kulturen geteilt, es ist universell geworden. (436)
Beim Auto gibt
es Eigenbewegung nur noch beim Ein- und Aussteigen. (437)
Die Emissionen
des Autos sieht man nicht, es sei denn, man steht direkt vor dem Auspuff,
der übrigens in der Werbung nie erscheint. (438)
Das System der Autos ist eine reale
Gefahrenquelle. Die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland nach dem Zweiten
Weltkrieg entspricht der Einwohnerzahl einer Großstadt. Die Angst ist
begründet, also Realangst. Was bewirkt diese Angst in den Seelen von
Kindern? (439)
Der große
(versteckte) finanzielle Aufwand für das Auto: 50 Cent pro Kilometer sind
realistisch. (440)
Aufgezeigt
werden soll, dass die allgemeine große Hochschätzung des Autos nahezu
unbegründet ist. In der Diskussion, wenn sie überhaupt noch stattfindet, hat
nur noch die instrumentelle bzw. technische Vernunft als Anpassung an den
Trend Platz. Das ist eine halbierte Vernunft, da sie die Frage nach einer
Problematisierung »Ist das überhaupt sinnvoll, was wir da wollen?« oder gar
eine alternative Sinnbestimmung nicht mehr ermöglicht. (441)
Sinnvoll
eingesetzt ist das Auto unverzichtbar: Das Auto des Arztes,
Transportfahrzeuge, der Rettungswagen, ... (442)
Es gibt kein
richtiges Leben im Auto. (443)
Auto-mobil ist
ein begrifflich korrektes Wort, weil das Auto real sich bewegt und nicht der
Fahrer. (444)
Der
Individualverkehr verursacht Kosten, die in der Werbung und häufig in
Diskussionen unterschlagen werden. (445)
Der Mensch im
Auto unterliegt der Prägungskraft und Logik des Autos und wird zum
Autofahrer schlechthin. (446)
Autofahren ist
Arbeit im Kleide des Müßiggangs. (447)
Bild
– Analyse, Fernsehen, Medien:
Das Wort »bild-hübsch« ist ein Beleg für die
Macht der Bilder über das Original. Das ist fatal, weil in der Regel
zwischen der Schönheit der inszenierten Bilder und der Schönheit aus dem
wirklichen Leben große Unterschiede bestehen. (448)
Bilder lügen,
wenn sie nicht bis in die Seele dringen, sondern im Äußerlich-Sinnlichen
bleiben. Erst wenn sie reflektiert werden, d. h. ins Innere drängen und dort
ein Eigenleben annehmen, hebt sich diese Entfremdung auf. (449)
Ein Medium hat keine inhaltliche
Zeichenbedeutung, ist aber in seiner Funktion Ermöglichungsgrund von
Zeichen. (450)
Die Medien
haben sich verselbständigt: »The medium is the
message.« Beim täglichen vierstündigen Fernsehkonsum hat das
Fernsehen faktisch keine Bilder und Wörter, keine Information mehr. Ähnlich
ist es beim Autofahren. (451)
Wenn
Abbildungen Originalbegegnungen vorgezogen werden, entsteht grundsätzlich
ein Defizit, denn die Originalbegegnung ist schon wegen der Affektion durch
alle Sinne fruchtbarer. (452)
Dem Fernsehen
fehlt die Systematik, Kontinuität und Wirklichkeit. Diese Eigenschaften
müssen anderen Lebenssystemen entnommen werden. (453)
Menschen, die regelmäßig und lange vor dem Fernseher sitzen,
verteidigen oft vehement diese Informationsaneignung als optimal, die
Nichtfernsehenden werden von ihnen bemitleidet. (454)
Die berechtigte
Wertschätzung von Gemälden hat sich auf jedes Bild übertragen, so dass die
Wirklichkeit es schwer hat. Sie verliert an Wert. Welt wird zu Bildern, weil
der Rahmen verschwindet und somit der Unterschied nicht mehr erkennbar ist.
(455)
»Wie eitel ist
die Malerei, wo man die Ähnlichkeit mit Dingen bewundert, die man im
Original keineswegs bewundert.«[74].
Pascal dringt in das Herz der Paradoxie vor und erklärt damit auch die
Minderbewertung der Eigenbewegung in alltäglichen Räumen. (456)
Substanzielle
Bilder stehen wahrscheinlich am Ausgang und am Ende eines
Erkenntnisprozesses. Sie haben auch die Funktion, eine Konkretion der
unendlichen Möglichkeiten eines Begriffs zu liefern. Wenn Bilder nicht in
diesen Gesamtprozess eingebettet sind, sind sie überflüssig oder gar
gefährlich. (457)
Identifikation
mit Sportlern, Tänzern, Teilnehmern von Shows im Medium der Bilder und des
Films führt eben in der Regel nicht ― wie immer behauptet – zur Nachahmung,
sondern zum »ewigen« Verbleib in dieser medialen Welt, indem man von einer
zur anderen Sendung schaltet. Warum? Die inszenierten Bewegungen im Medium
der Bilder sind von höchster Perfektion und Professionalität und damit
faktisch unerreichbar mit der Folge, dass die Eigenbewegung sich auf den
»Weg« zum Fernsehsessel bzw. ins Auto beschränkt. Es setzt sich folgender
Zirkel durch: Der Zustand der Bewegungslosigkeit zieht, wenn habitualisiert,
die Vermeidung von Eigenbewegung nach sich, so dass diese verlernt und – am
verhängnisvollsten – nicht mehr als Praxis geschätzt, ja abgelehnt wird:
Eigenbewegung im Alltag verschwindet als Denk- und Handlungsmöglichkeit.[75]
(458)
Wenn ich von
Bildern rede, meine ich nicht Kunst, die verdichtet, die neue Blicke
ermöglicht, Einsicht in Subjektives erlaubt, sondern primär Fotos, wie sie
sich uns tagtäglich in den Medien aufdrängen. Sie sind immer dann
abzulehnen, wenn Originalbegegnung möglich wäre. Bilder erscheinen oft im
Kleide der Wirklichkeit und noch schlimmer, im Kleide des Begriffs ― sie
werden für die ganze Wirklichkeit genommen. Ein Bild ist weder Wirklichkeit
noch Begriff, sondern nur deren negativ Anderes. (459)
Die Materie wird zunehmend zum Träger von
Bildern. (460)
Neue
Kommunikationsmittel mit entsprechenden Programmen (200 und mehr
Fernsehprogramme, beliebige Filme runterladen) lassen das Interesse und die
Motivation, wirklicher Welt zu begegnen und sie zu erhalten, immer geringer
werden. Welt wird devaluiert. (461)
Der Anteil an wirklichem Leben geht immer weiter
zurück, während der Anteil an inszeniertem Leben ständig größer wird. Die
logische und reale Folge ist, dass den Medien die Inhalte mit wirklicher
Wirklichkeit ausgehen. Sie treffen immer häufiger nur auf sich selbst,
werden also zunehmend selbstreferenziell. Ein Privatsender zeigt
beispielsweise die Mobilisierung für einen Superstar in ihrer Heimatregion.
Inszenierung ist ein ganz wichtiges Differenzkriterium für Wirklichkeit, ein
Ereignis geschieht nicht seinetwegen, sondern wird für das Fernsehen
inszeniert. Das Theater verlässt sein Gebäude und wird zum universellen
Theater. (462)
Selbst die Vogesen müssen sich als
Wintersportgebiet von höchstem Niveau darstellen. Diese Täuschung ergibt
sich aus ökonomischen Zwängen. (463)
Von zwei Seiten
wird Natur bedrängt: Die Wahrnehmung von realer Natur wird immer mehr von
Medien modelliert und diese Modellierung wirkt selbst modellierend wieder
auf die Natur zurück. (464)
Im Fernsehen bildet die Sendung zur
Fußballbundesliga zusammen mit der Autowerbung eine nahezu untrennbare
Einheit. (465)
Konsum ermüdet.
Der Anblick von Fotos schöner Landschaften ermüdet ebenfalls, weil die
Landschaft auf Farbe und Form reduziert ist. Das Bild ist schal im
Verhältnis zur Wirklichkeit. Das gilt nicht für Gemälde, da hier die
Subjektivität des Malers das Interessante ist. (466)
Symbole und
Zeichen werden selbstreferenziell und damit, bezogen auf die Dinge, leer.
(467)
Fernsehen ist
schlechte Re-Transsubstantiation: Das Bild wird nicht mehr als Bild gesehen,
sondern für Wirklichkeit genommen. (468)
Nicht mehr die
Realität, sondern die Fotografie bekommt die höchste Anerkennung. Die Frage
ist, ob das, was man nicht mehr wahrnehmen kann (so den spektakulären
unsichtbaren Moment beim Wellenreiten), das Faszinierende ist:
Wahrscheinlich ist es nur die Technik der Fotografie, die das Unsichtbare
sichtbar macht. (469)
Eine Fotografie
verdichtet alles Vorhandene oder Bekannte, es typisiert, »reinigt« die Welt,
verabsolutiert nur einen Aspekt. (470)
Die technischen
Objektivationen überborden, ja ersetzen die Erde; das Originale, die genuine
Welt, existiert zunehmend nur noch als Inszenierungen oder als Bilder. (471)
Fernsehen ist
ruinös, weil es die eigenen Bilder raubt, genauer: den Zwang raubt, äußere
Bilder und Weltdinge in innere Bilder umzusetzen. Beim hergestellten Bild
macht der Produzent diese Transformation mit Hilfe von Apparaten. Natürlich
formen wir ebenfalls aus den äußeren Bildern eigene, sind aber dann in den
Möglichkeiten erheblich eingeengt. Gemälde haben einen anderen Wert als die
Bilder in Bilderfluten, die an uns vorüberhuschen. Ein Gemälde ist eine
Chance, weil es idealisiert, verdichtet und Subjektives enthält. (472)
Die mediale
Verfasstheit von Wirklichkeit wird immer gravierender, das erkennende Auge
ist bereits voll von den von Massenmedien vermittelten Bildern. (473)
Das Medium hat
alle Chancen, Wirklichkeit zu werden – wenn sie es nicht schon bereits
geworden ist. (474)
Die Idealisierung des Autos in der Werbung: Nur
ein Auto, umringt von schönen Menschen, auf einem historischen
Marktplatz einer mittelitalienischen Stadt; der Auspuff ist in
stalinistischer Manier wegretuschiert. (475)
Eine Persiflage
und offenbar bemerkt das keiner: Hübsche joggende Mädchen auf einem
Luxusliner in einer Werbung. (476)
Warum sehen
sich viele Menschen so häufig Krimis und Actionfilme mit Mord und
Aggressionen an? Hängt das mit dem Mangel an Eigenbewegung zusammen?
(477)
Fernsehen ist
Wirklichkeitspender im Scheine, eine Wirklichkeit, die nicht mehr greifbar
und damit unangreifbar ist und aus der Binnenperspektive nicht zu
kritisieren. Sie ist unzerstörbar – wie Wasser. Nur der Gang in die
Wirklichkeit löst die Verblendung. (478)
Faktisch wird
im Radio und Fernsehen der Begriff »live« nicht richtig verwendet und
erzeugt falsches Bewusstsein, denn es handelt sich um eine
Direktübertragung, an der ich eben nicht »live« teilnehme: Zwischen einer
Tonkonserve und einer Live-Übertragung besteht prinzipiell für den Hörer
kein Unterschied, für ihn sind beide vollkommen identisch. Es handelt sich
in der Vermittlung um einen durch und durch technischen Vorgang – und das
ist genau die Differenz zum Leben, zu lebendigen Prozessen. Im Konzertsaal,
auf der Straße oder in der Bar hört man unmittelbar Menschen singen oder den
Klang von Musikinstrumenten. Wenn die Differenz zwischen technisch
vermittelter und ganzheitlich-natürlicher Hörsituation als unwichtig
aufgefasst und sprachlich nicht ausgedrückt wird, geht ein Stück Humanität –
und das ist nicht wenig – verloren. (479)
»Mechanisierung
des Schauens: ein Absehen von der Teilhabe, eine Hinwendung zum technischen
Aspekt seiner Verdoppelung. Dass die Erste Natur, dass der unmittelbare
Augenblick den Tod der Abstraktion sterben muss, hat damit zu tun, dass in
der Transformationsgrammatik des Trompe l’œil jene Zauberlosung gegeben ist,
die den vernichteten Augenblick wieder auferstehen lässt, und dies in noch
größerem Glanz als je zuvor, ist er doch nunmehr fixiert, von seiner
Flüchtigkeit erlöst: strahlende Zweite Natur.«[76]
Das erklärt das ewige Faszinosum des Bildes und die unaufhaltbare Hinwendung
zum Bild. Das ist aber nur dann sinnvoll, wenn der Betrachter im Bild
verbleibt und nicht in Bilderfluten ertrinkt. (480)
Kennzeichen der Moderne ist die Vertauschung von
Gegenstand und Zeichen. Heute ist das Zeichen das Originale, das Primäre und
der Gegenstand sind das Abgeleitete. Die Primärbedeutung springt vom
Gegenstand auf sein Zeichen, das als Selbstgenügsames bzw.
Selbstreferenzielles konsumiert wird. Das Zeichen ist zur wirklichen
Wirklichkeit geworden. Beim Gehen und Wandern sieht man dagegen immer noch
mehr Dinge als Zeichen. (481)
Wenn die Moderne die Abweichung von den Dingen
und Hinwendung zu den Zeichen, ja Ersetzung der ersteren durch die letzteren
ist, dann wird auch der menschliche Körper selbst zum Zeichen, nimmt dessen
Eigenschaften an: Tätowierung, Piercing, Markenzeichen usw. sind die
auffallenden Produkte dieser Tendenz. Der reine Körper oder der funktional
angezogene Körper werden nicht mehr wahrgenommen, allerdings sind die
Übergänge kontinuierlich und situationsabhängig. Ein »Zeichen« wandert nicht
im Wald, denn dort fällt es nicht auf. (482)
In der
Fremdbewegung werden Dinge zu Bildern. Die Wahrnehmungen während der
Fremdbewegung führen zu gleichen Prozessen und Resultaten wie bei einer
Bildwahrnehmung. (483)
Ein
wesentliches Wahrnehmungsproblem in der heutigen Medienwelt besteht darin,
dass die meisten Fiktionen ohne Rahmen daherkommen. Man erkennt nicht ihre
Bildhaftigkeit und damit Fiktionalität, die früher eindeutig durch den
Rahmen definiert war. Wirklichkeit ist heute ein Bild, das keinen Rahmen
hat, d. h. es gibt keine Wirklichkeit mehr, sie ist nicht auszumachen. (484)
Bezüglich der
Eigenbewegung gibt es beim Fernsehen keine Illusion: Man sitzt und bewegt
sich nicht – das ist eindeutig und damit unbestreitbar. Beim Auto dagegen,
das als Inbegriff von Mobilität gilt, liegt falsches Bewusstsein (auch
zementiert durch die Sprache) vor. Genau analysiert: Der Autofahrer sitzt,
das Auto fährt, die Welt steht. Der Fernsehnutzer sitzt, der Fernsehapparat
steht, die Welt steht, bewegt sich aber im Apparat im Scheine. (485)
Es gibt keine
einzige wissenschaftliche Studie, die den Wert des Baby-Fernsehens stützt ―
behauptet eine amerikanische Studie. Es sind Bewegungen ohne Bewegung und
wohl auch für das Baby Bewegungen ohne Sinn, vor allem ohne seinen Sinn.
Große Schäden sind zu befürchten. (486)
Das Bild ist schlechte Abstraktion, das
Auto erzeugt schlechte Abstraktion. (487)
Auto und
Fernsehen bedingen einander. Das Fernsehen vermittelt die ganze Welt im
Scheine, das Auto ersetzt den Schein durch minimale Realwelt. Zusammen
suggerieren sie Welthaftigkeit in ihrer Ganzheit. (488)
Die Welt im
Medium des fahrenden Autos wird zur Zeichenwelt. Die materiellen Gegenstände
sind schnell durch-schaut und zudem besteht die Tendenz, das Gemeinte durch
sein Zeichen zu ersetzen. Die Schilder »Lüneburger Heide« oder die
»Glücksburg« sind eben nicht die Lüneburger Heide oder die Stadt Glücksburg.
(489)
Der
Zusammenhalt der Olympischen Winterspiele in Turin wird nicht mehr vor Ort
durch den »Geist«, hergestellt, sondern durch das Fernsehen.[77]
30.000 direkte Zuschauer und ca. eine halbe Milliarde Fernsehzuschauer
bewirken, dass die Spiele, also die Wirklichkeit, nach den Erfordernissen
der Medien ausgerichtet werden, so dass die Wirklichkeit selbst zu einem
Bild wird. Fernsehen ist dann ein Bild vom Bild. Bilder sind aber keine
Wirklichkeit, sondern etwas anderes, nämlich Bilder. Faszination entsteht
wohl dadurch, dass der Fernsehschauer meint, ubiquitär zu sein, d. h. im
Prinzip zu jeder Zeit überall anwesend sein zu können. (490)
Die häufigste
Art von Atlanten sind Straßenkarten. In ihnen werden nur noch Straßen als
Strukturen und Orte als Punkte repräsentiert. Der »Rest« erscheint nicht und
bekommt diesen Reststatus auch im Bewusstsein. (491)
Körper werden
(im Bewusstsein) zu Bildern ― die Welt wird zweidimensional und virtuell.
Nur noch der visuelle Sinn wird gebraucht, die Muskeln könnten verschwinden
(und verschwinden auch). Man kann das als Verbilderung der Welt auffassen.
(492)
Der Mensch will
Bilder und seine (allerdings unbewusste) höchste Erfüllung ist, selbst zum
Bild zu werden. (493)
Zur Bewertung
von Fernsehen und Computer: Entscheidend ist, welche Ansprüche an das Medium
gestellt werden: Spaß, Zerstreuung, Unterhaltung oder Konstruieren,
Informationen, eine WEB-Seite oder eine Power-Point-Präsentation entwickeln
oder gar ein Programm schreiben. (494)
Viele Menschen versuchen, sich gegen die mediale
Flimmerwelt mit Traditionen zu wehren, die selbst aber nur noch als mediale
Produkte existieren: Menschen haben keine Wurzeln mehr, sondern
Fernsehantennen. (495)
Das Fernsehen entwertet die realen Dinge:
Menschen, Kultur und Natur. (496)
Fernsehprogramme sind voller Gewalt. Der
Zuschauer ist gewissermaßen hüllenlos und schutzlos den visuellen und
akustischen Reizen ausgesetzt. (497)
Täglicher dreistündiger Fernsehkonsum bedeutet:
Die Fähigkeit zur Reflexion wird zugunsten der Fähigkeit zur Identifikation
geopfert. (498)
Fernsehen verhindert die Mehrperspektivität des
Zuschauers: Aus der einen Perspektive des Produzenten kommt man nicht
heraus, ihr kann man nicht entfliehen, es sei denn, man drückt auf den
Ausstellknopf, wählt ein anderes Programm oder schafft den Fernsehapparat
ganz ab. (499)
Man sehe beim Abendspaziergang ― dezent natürlich
― in die Wohnzimmer, wo Menschen mit ausdruckslosen Gesichtern stundenlang
in immergleicher Haltung vor dem Fernseher sitzen. Wo sind Stolz und Würde
geblieben? Warum kommen sie nicht mit? (500)
Wir sehen offensichtlich unseren Körper und
unsere Bewegung nur noch aus der Außenperspektive, unsere Wahrnehmung ist
zunehmend medial vermittelt. In diesem Phänomen liegt auch eine Ursache für
die Vermeidung von Eigenbewegung, falls nicht eine Kamera auf sie gerichtet
ist. (501)
Sinnlich begegnet man während des Fernsehens dem
Sofa, der Inneneinrichtung und eventuellen »Mitsehern«, aber alles das sieht
man nicht, da der Blick starr auf den Bildschirm gerichtet ist. Die Welt,
die dort vermeintlich aufgenommen wird, ist Schein, eine technische
Konstruktion. (502)
Zuerst wird das
Gleichgewicht zwischen Eigenbewegung und Fremdbewegung zugunsten des
letzteren zerstört. Dann wird die letzte Schlacht zwischen Auto und
Fernsehen geschlagen, die mit dem Sieg des Fernsehens endet. (503)
Fremdbewegung – Bestimmung, Funktion:
Tod ist
Bewegungslosigkeit und Stillstand. (504)
Das passive
Bewegt-Werden, die Fremdbewegung, ist eine sekundäre Bewegung, die im großen
Umfang ohne den funktionalen Einsatz des eigenen Körpers abläuft.
Fremdbewegung und Eigenbewegung haben wesentlich mehr Trennendes als
Gemeinsames, so dass es – gegen das herrschende Bewusstsein – Sinn macht,
beide Bewegungsarten in der Welt kategorial zu trennen. (505)
Sich nicht
bewegen ist negierte Eigenbewegung. (506)
Verzicht auf
Eigenbewegung heißt Verzicht auf Menschlichkeit, die immer nur eine eigene
sein kann, ein »Selbstwerk«. (507)
Wenn
Eigenbewegung Leben ist – und Du bewegst Dich nicht. Was passiert dann mit
Dir, was wird aus Dir, was machst Du mit Dir? (508)
Das »Falsche«
ist das Gegenteil der Eigenbewegung. (509)
Mit der
Fremdenergie stirbt die Neugierde, denn Bewegen mit Fremdenergie ist ein
Minimum an Kontakt mit dem Grund. Es ist ein subjektloses Bewegen, es ist
kein Inter-esse (Dazwischen-Sein) vorhanden. (510)
Die
Wirklichkeitsbewältigung im Modus der Fremdbewegung hat universellen
Charakter angenommen. Es wirkt die normative Kraft des Faktischen. (511)
Immer weniger
Menschen befinden sich in Situationen, die man hinlänglich als wirklich
bezeichnen kann. Wirklichkeit ist aber immer unerreichbar und nur in der
Annäherung möglich.(512)
Externe Energie (Fremdenergie) ist immer
unspezifisch im Einsatz und deswegen unaufhebbar aggressiv, auch wenn
Bohrmaschinen und andere Maschinen mit der Hand geführt bzw. gesteuert
werden. Zugespitzt: Fremdenergie ist eo ipso unmoralisch, unsensibel,
kommunikationsunfähig. Eine Hand ist ambivalent, empathisch – oder
aggressiv. (513)
Auto und
Fernsehen bilden strukturell und funktionell eine Einheit. (514)
Das Andere
gewährt Nähe, beim Autofahren wendet es sich von uns ab. (515)
Fremdbewegung
tötet die individuelle Zeit, da sie nicht mehr mit Inhalten gefüllt ist.
Autoradios und Autofernseher füllen dieses Vakuum im Scheine. (516)
»Wer das
Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste.« Wenn es stimmt, dass Konsum primär
ein Oberflächenphänomen ist, dann liebt man heute das Tote – und dazu gehört
auch die Fremdbewegung. (517)
Die Nutzung von
Motorrad, Motorrasenmäher und Auto kann ohne Verluste eingeschränkt werden.
Die Eigenbewegung nicht, sie ist nicht verhandelbar. (518)
Ein
»Sport«-Boot namens Riva verbraucht 180 Liter je Stunde und Maschine. Es hat
übrigens zwei Maschinen. »Trotz leichten Wellengangs dringt nur ein leises
Rumpeln an den Kommandostand, die Riva pflügt daher, als wären Unebenheiten
nicht vorhanden.«[78]
Die Umweltbelastung und die Energieverschwendung werden in dem Artikel wie
selbstverständlich ausgeblendet. (519)
Bewegungslosigkeit ist Ohnmacht, d. h. ohne Macht. Autofahrer sind daher
real machtlos, bestenfalls verfügen sie über geliehene bzw. gekaufte Macht.
(520)
Geschichte:
Die Geschichte
der Fremdbewegung wäre auch eine Technik-Geschichte. Hegels
Herr-Knecht-Verhältnis kann man auch als Mensch-Technik-Verhältnis
auffassen. Sind wir noch die Herren? (521)
Der Prozess der
Dominanz der Fremdbewegung über die Eigenbewegung beginnt erst nach dem
Zweiten Weltkrieg und ist wohl noch nicht zum Abschluss gekommen. (522)
Semantisch wird
das Wort »Arbeit« universalisiert. Bei den Griechen arbeiteten allein die
Sklaven im Schweiße ihres Angesichts (ergazesthai), die Handwerker stellten
her (poiein) und die Oberschicht handelte zum Wohle (wenigstens offiziell)
der Polis und des Guten (prattein). Heute hat sich der Begriff »Arbeit«
universalisiert. Tiere, Motoren »arbeiten«. Selbst Kriege zu führen, ist
negative Arbeit. Die Maschinen ersetzen weitgehendst die materielle Arbeit.
Eigenbewegung ist von dieser Welle der Ersetzung ebenfalls erfasst worden.
(523)
Bis in die 50er
Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein mussten Menschen unterer und mittlerer
Schichten (auch der westlichen Industrieländer) hart körperlich
arbeiten. Das könnte ein Grund dafür sein, dass die Eigenbewegung heute
gemieden wird. (524)
Gesellschaft
– Kultur:
Das Wesen der
herrschenden Gegenwartskultur ist, keine Kultur im höheren Sinne zu wollen.
(525)
Real sind wir
keine Bewegungsgesellschaft, sondern eine Sitzgesellschaft. Alles bewegt
sich, nur nicht der Mensch: Er sitzt im Auto oder vor dem Fernsehapparat
oder er liest. (526)
Solidarität,
Verantwortung, Gerechtigkeit, Öffentlichkeit usw. werden zurückgedrängt.
(527)
Einige
Nachteile der Globalisierung: schnellere und umfangreichere Ausbeutung der
Ressourcen der Welt, Erhöhung der Emissionen und Zurückdrängung der Natur,
Technisierung der Welt. Einige Vorteile der Globalisierung: (hoffentlich)
weniger Kriege, materielle Verbesserungen und Steigerung der Einsicht, dass
alle Menschen und Kulturen grundsätzlich gleichwertig sind. (528)
Populistische
Politik besteht darin, den gegenwärtig durch Waren vermittelten Konsum
quantitativ und qualitativ, nun aber gerecht verteilt, aufrecht erhalten zu
wollen und das auch zu können, ohne die Produktionsstrukturen zu ändern.
(529)
Autoabstinenz
ist notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für Demokratie.
Warum? Autos zerstören Öffentlichkeit. Wenn die Beteiligten nach einer
Demonstration mit dem Auto wegfahren, atomisieren sie sich. Gehen sie aber
gemeinsam ein Stück des Weges, sprechen sie miteinander und erfahren
nebenbei, wo der jeweils andere lebt. (530)
In den Vorstädten Frankreichs brennen Anfang 2006
die Autos. Warum gerade Autos? Sie sind vielleicht eine wesentliche Ursache
der Probleme – und nicht nur dort. Die Massivität der vielen fahrenden und
stehenden Autos macht traurig. Sie machen aus jedem Ort einen Un-Ort, den
man verlassen muss, und auch verlässt. Jeder der menschenleeren Vororte und
Dörfer belegt das. Menschen im Plural findet man erst dort wieder, wo wenige
bis keine Autos sind. Erahnt ein Teil der Randalierer diesen Zusammenhang?
Die Aufstände sind vielleicht aus der Sicht der Jugendlichen die einzige
Möglichkeit, spontan gemeinsam etwas zu machen, zu unternehmen, weil
ansonsten die Menschen atomisiert leben und sich nur unter großem
physischen, psychischen und finanziellen Aufwand begegnen können. (531)
Es gibt heute
keine Gesellschaft oder gar Gemeinschaft mehr, sondern nur noch Aggregate.
Die Funktionsabläufe sind parallelisiert. (532)
Auto und
Fremd-Identität gehören in das Feld der Außensteuerung. (533)
Autos,
Motorräder, Popmusik, Talkshows können und dürfen Kultur nicht ersetzen.
Autofetischismus und oberflächliche Spaßunkultur bedingen einander. (534)
Auto und TV
vermitteln Welt in starker Verdünnung. (535)
Kommunikation:
Der Autofahrer
wird auch in sozialer Hinsicht passiviert. Grüßen und Sprechen sind nicht
mehr wahrnehmbar und damit überflüssig. Welt zieht unbeeinflussbar am Fahrer
reduziert und distanziert vorbei. (536)
Technische
Strukturen haben real Heimat zerstört. Heimat wird nicht mehr begangen. Sie
existiert nur noch in Symbolen. (537)
Die
Kommunikationslosigkeit nimmt zu. Die Möglichkeiten, uns in lebendigen und
spontanen Spiegelungen zu finden, werden weniger. (538)
Die Zahl der
Begegnungen wird geringer. (539)
Der heutigen
Kommunikations- und Verkehrstechnologie ist es gelungen, Allgegenwart zu
ermöglichen. Es muss aber deutlich gemacht werden, dass diese Omnipräsenz
nur Schein- bzw. Schattencharakter besitzt. (540)
Lebendige
Öffentlichkeit verschwindet, d. h. informelle Netze, die
zwischen den Häusern der Nachbarschaft, auf Plätzen, in den Straßen, in Bus
und Bahn, durch direkte Kommunikation und Interaktion entstehen. Ein Grund
besteht darin, dass keine Eigenbewegung mehr vorliegt. Auto und Fernsehen
haben die von unten sich bildende, nicht gelenkte, spontane Öffentlichkeit
aufgelöst. Die materiale Basis ist nicht mehr gegeben. Jetzt führen alle
Bewegungen, die sich auf Fremdbewegungen reduzieren, prinzipiell aneinander
vorbei, um zielgenau an einem Ort anzukommen. Hinzu kommt, dass die spontane
Gesprächs- und Diskursfähigkeit nicht mehr erlernt bzw. verlernt wird. Nur
noch die Warenzirkulation ist einziger realer vergesellschafteter Prozess.
Der Mensch im Plural tritt fast nur noch in additiver Form auf ―
Sprachlosigkeit in Großevents. (541)
Autofahren
bedeutet, Kommunikation reduzieren, Zufälle eliminieren, auf Eigenbewegung
verzichten, mentale Konzentration auf andere Autos, Verkehrszeichen, Asphalt
richten. Übrigens ein interessanter Gegenstand für Selbstbeobachtung. (542)
Das
Verschwinden der Nachbarschaft. Warum? (543)
Autos und
Fernseher realisieren ein Leben in dem die Menschen wie Elementarteilchen
auf ihren Umlaufbahnen isoliert sind – ein Leben ohne Kontakt. (544)
Ich kann und
will mir nicht die Typen, Farben oder gar die Nummern der Autos meiner
Nachbarn merken, nur weil ich ihre Gesichter hinter den getönten Scheiben
nicht erkenne. (545)
Aggressives
Verhalten will Kommunikation »Nehmt mich wahr« und »Bin ich nicht toll?«
(546)
Heute ersetzt
der Autoverkehr den direkten Verkehr der Menschen untereinander. (547)
Das Auto ist
eine Art Monade, allerdings mit semipermeablen Fenstern, die nur Elemente
des Verkehrs, also andere Autos, Ampeln, Verkehrszeichen, Straßenbelag
durchlassen. Mit dem fortentwickelten Navigator können die Fenster ganz
verschwinden. (548)
Im Auto gibt es
keine Originalbegegnung – wenn man das Steuer, das Gaspedal und die Bremse
nicht als Originalbegegnung auffasst. (549)
Der Autofahrer
erfährt nur das von der Umwelt, was er als Fahrer wissen muss:
Verkehrsschilder, Fahrzeuge in seiner Umgebung, die Straße. Der Bus- oder
Zugreisende kann mehr wahrnehmen, weil er sich nicht auf den Verkehr
konzentrieren muss. Auch hier gibt es nur den flüchtigen, unscharfen,
panoramischen Blick. Aber er hat wesentlich mehr »interne« Möglichkeiten:
Lesen, das Gespräch, den Augenkontakt, das voyeuristische Beobachten. (550)
Auto und
Fernsehen trennen uns vom Universum. (551)
Autofahrer und
Fernseher suchen Menschen und entfernen sich immer mehr von ihnen, je
intensiver, desto mehr. (552)
Kommunikation
reduziert sich auf Lichthupe. (553)
Je höher die
Geschwindigkeit, desto weniger Kommunikation. (554)
Krankheit
– Bedingungen, Entstehung:
50% der Kinder
sind nicht gesund. Bewegungsmangel ist eine wesentliche Ursache für diesen
Zustand. Moderne Kindheit besteht aus einem Minimum an Eigenbewegung, aber
einem Maximum an flüchtiger direkter oder bildscharfer indirekter
Weltbegegnung. (555)
Wer
überproportional und unnötig viel sitzt, ist gegen sich selbst aggressiv.
(556)
Beim Arbeiten –
und sei es beim Bügeln – den Fernseher laufen zu lassen, verletzt die
Wahrnehmungsfähigkeit, weil sie nicht sinn- und sinnenvoll eingesetzt wird.
(557)
Tagtägliches
Autofahren und Fernsehen schwächen den Willen. (558)
Die negativen Folgen der Eigenbewegungslosigkeit
wie Rückenprobleme treten oft zeitlich verspätet ein.
Bewegungslosigkeit und Fettleibigkeit bedingen einander: »Supersizing« ist
normal geworden. (559)
Wellness ist Reduktion bzw. Abwesenheit von
Eigenbewegung. Wellness-Räume sind Vorboten zukünftiger gebauter Raumwelten,
die unabhängig von Klimakatastrophen und Umweltzerstörung sind. (560)
Wo die Kontinuität des Bewusstseins weitgehendst
von eigener Erfahrungslosigkeit geprägt ist und durch technische und
ikonische Versatzstücke aufgefüllt wird, entstehen Probleme und Gefahren für
den Menschen. (561)
Der psychisch und physisch kranke Mensch ist auf
Fremdenergie angewiesen, die diese Defizite oft noch verstärkt. (562)
Nach 24 Stunden Bettruhe baut der Körper ab, das
Blutvolumen verringert sich, das Atmen fällt schwerer und die Gelenke werden
steif. Auch die kognitive Leistung nimmt ab[79].
Leben wir nicht in einer Zivilisation der Bettlägerigkeit? (563)
Diabetes beruht
auch auf dem Mangel an Bewegung und falscher Ernährung.[80]
(564)
Inzwischen ist
nahezu die gesamte Bevölkerung, unabhängig vom Alter, körperlich vergreist,
wenn man davon ausgeht, dass Leben Sich-Bewegen ist. (565)
Es ist zu
fragen, ob die negativen Folgen des Mangels an Eigenbewegung auf die
Gesundheit nicht viel größer sind, als die vereinzelten Krankenberichte
vermuten lassen. (566)
Im Tal wütet
der Wahnsinn (Nietzsche), aber heute selbst in den Bergen. Kein schöner oder
einsamer Platz auf Erden, der nicht von Autos erschlossen und damit
zerstört wird. (567)
Auto und
Fernsehen erzeugen Sucht, aber die Wirtschaft braucht den süchtigen und
nicht den gesunden Menschen. (568)
Heterokinesis
(Fremdbewegung), die neue Krankheit? (569)
Zwischen
Fremdbewegung und Osteoporose besteht ein Zusammenhang. (570)
Das Auto als
Statussymbol erzeugt Prothesenbewusstsein. Das Kapital will den schwachen
Körper, der dann wieder Hilfen braucht, die das Kapital anbietet (z. B.
Rückenschulen usw.). (571)
Auto und
Autismus haben mehr als eine gemeinsame etymologische Wurzel. (572)
Wenn Neurose im
Kern Kontaktvermeidung ist, dann sind exzessive Autofahrer und
Fernsehbenutzer Neurotiker. (573)
Bewusstsein
(bewusstes und gefühltes Sein) ist im ganzen Körper (Plotin). Das bemerkt
man beim Autofahren, wenn man nach längerer Fahrt mit steifen Gliedern
aussteigt. Wie anders dagegen ist die körperliche Befindlichkeit nach einem
Tanzabend oder nach einer Wanderung: Hier stellt sich später eine ganz
andere Steifheit und Müdigkeit ein. (574)
Bewegungslosigkeit, Krankheit und Tod gehören derselben Kategorie an. (575)
Lernen
– Misslingen, Störungen:
Je mehr die
Menschen Auto fahren und fernsehen, desto unfähiger werden sie, ihre
Situation zu bedenken, schon allein deswegen, weil ihnen die Zeit dazu
fehlt. (576)
»In Manchester
kann man die Kinder und Jugendlichen nicht mehr allein zur Schule oder in
die Stadt fahren lassen, sondern man muss sie mit dem Auto dorthin bringen«
– sagte eine Großmutter, deren Tochter, Schwiegersohn und Kind dort wohnen.
Die Folge ist, dass diese Kinder und Jugendlichen erschwert soziale
Kompetenz und Ich-Stärke entwickeln können. (577)
Welt und Ich
sind unaufhebbar über Konzepte, Bilder und Erfahrungen vermittelt. Neu
hinzugekommen sind materielle Apparate wie Fernglas, Mikroskop,
experimentelle Anordnungen, aber auch Fernseher und Auto – letztere wirken
am nachhaltigsten als geistige Konstruktionen und Filter. Der apparate-lose
Mensch ist antiquiert. (578)
Ergebnisse der
Neurologie zeigen, dass während des Beobachtens einer Handlung einer Person
beim Beobachter die gleichen Hirnareale aktiviert werden wie beim
Handelnden. Es entsteht Handlungsdruck. So machen auch Kinder die Bewegungen
der Erwachsenen nach. Heute gibt es nur noch wenige originale Vorbilder für
Alltagsbewegungen wie die Bewegungen der Handwerker, das Aufhängen der
Wäsche, das Reparieren eines Fahrrads, das Beladen des Wagens, das
Einsteigen in Züge. (579)
Autofahren und
Fernsehen sind grundsätzlich schlechte Abstraktionen, Lesen ist
grundsätzlich eine gute Abstraktion. Auto, Fernseher und Schrift sind
Hauptverhinderer von Eigenbewegung. Nur das Lesen von guten Schriften
rechtfertigt aktuelle Bewegungslosigkeit. (580)
Bildung verengt
sich heute tendenziell auf ein Preis-Leistungswissen: »Wo kann ich am
billigsten einkaufen?«. Dann ist es nicht verwunderlich, wenn unsere eigenen
relativ teuren Arbeitsplätze nicht mehr gefragt sind. Neben
Managementfehlern resultieren die relativ hohen Preise daraus. Dieses
abstrakte Denken in seiner schlechten Form wird auch auf Bewegungen
ausgedehnt: Wie komme ich am schnellsten von A nach B? Vom Weg und von den
negativen Folgen der Nutzung von Fremdenergie wird abstrahiert. (581)
Ein Kennzeichen
der Moderne ist die Beschleunigung. Die Zeit und der Raum für Erinnern und
damit Gedächtnis werden zurückgedrängt und auch nicht mehr gewollt. Freie
und potenziell universelle Erinnerung ist heute störend. Damit kann sich das
Gesamt der Wahrnehmungen nicht mehr im Bewusstsein entwickeln,
ausdifferenzieren, mit anderen Dingen verbinden und neue Wertigkeiten und
Kritikcharakter annehmen. Ein Tag-zu-Tag-Gedächtnis, das rein funktional
sich auf die Botschaften der Werbung und der Erledigung des Alltags
beschränkt, ist heute gefragt. Eventuelle Leerstellen werden mit Events
ausgefüllt. (582)
Mit dem Auto
durch Frankreich zu fahren, heißt, Frankreich nicht kennen zu lernen. (583)
Je komplexer
eine Situation ist, desto mehr Intelligenz ist gefordert. Wer letztere
fördern will, ersetzt das Einkaufszentrum durch die Innenstadt, das Auto
durch den Bus, das Rad oder das Gehen. (584)
Das Auto ist
unbewusst erlernte und praktizierte Xenophobie. (585)
»Erziehung«
findet ständig statt, z. B. durch die überdimensionierten, oft mehrseitigen
Anzeigen der Autokonzerne. Diese Art von Erziehung wird aber nicht als
solche interpretiert. (586)
Im
Individualverkehr gibt es höchstens im Stau und an der Ampel Augen-blicke.
(587)
Je weniger
Urbanität eine Stadt hat, desto größer sind die kognitiv-emotionalen
Defizite ihrer Bewohner. (588)
Durch die
ausschließliche Nutzung des Autos durch die Eltern werden Kinder aufs
Autofahren geprägt. (589)
Wie viel klüger
könnten die Menschen sein, wenn sie mit dem Zug führen und läsen, statt
nahezu bewusstlos Auto zu fahren. (590)
Wir erfahren
den Anderen nicht mehr in seiner Ganzheit. (591)
Die Erziehung
(wortwörtlich) zum und ins Auto beginnt gleich nach der Geburt: Sie werden
in den Babysitz gelegt, auf den Hintersitz verstaut, mit dem 18. (bald 17.)
Lebensjahr mit einem Auto beschenkt. »Auto« ist nach »Mama« das zweite Wort,
das ein Kind beherrscht. Vor dem Elternhaus stehen zwei und mehr Autos. Das
Auto ist das liebste Kind des Vaters. Auto ist das einzige
Fortbewegungsmittel, das das Kind kennen lernt. (592)
Mensch als
Gefährdeter:
Das Aufgeben von Eigenbewegung ist Ausdruck
existenzieller Resignation. Der menschliche Körper und seine Bewegungen
sind, gemessen an realen und in der Zukunft noch zu erwartenden technisch
vermittelten Bewegungen, hoffnungslos antiquiert (G. Anders). Wenn er noch
läuft, ist es kein stolzer, aufrechter Gang, sondern nur noch Schwundformen
des Gehens – und der Mensch weiß dies. (593)
Eine simple
Erklärung für die Präferenz von Fremdbewegung: Der Mensch ist im Kern faul
und bequem. Dieses Bedürfnis wird nun völlig befriedigt. Die Logik der
Faulheit und Bequemlichkeit ist aber eine Logik des Todes, denn dieser ist
totale Bewegungslosigkeit. (594)
Autoidentität
hat offensichtlich nichts mit Klugheit zu tun. Aber ein kluger Mensch wäre
noch klüger, hätte er diese Identität nicht. (595)
Unbewusste
Steuerung ist ein unsichtbares Gefängnis. (596)
Man gewinnt
durch den Konsum von Auto und Fernsehen kein Vertrauen zu anderen und zu
sich selbst. Vertrauen gewinnt das Kind, wenn es sicher auf der Schulter des
Vaters getragen wird. (597)
In unserer
Straßen parkt einer dieser hypergroßen Geländewagen mit der Autonummer »xx T
34«. Ich frage mich, ob der Besitzer damit Identifikation mit dem
sowjetischen Weltkriegs-Panzer T 34 ausdrücken will. Wäre ehrlich. (598)
Das fahrende
Subjekt ist ein in seinen Möglichkeiten drastisch reduziertes. (599)
Die Bewegung
des Autos ersetzt die Bewegung des Leibes, weil es bequem ist – so die
Begründung. (600)
Das meistvorgebrachte Argument für das Auto ist
die Bequemlichkeit – und das ist gerade seine Achilles-Ferse. (601)
Was wird wohl
aus Menschen werden, die alle Ortsveränderungen mit dem Auto
durchführen? (602)
Beim Autofahren
wird die Würde des Körpers missachtet: Ich kann es mir einfach nicht
vorstellen, dass die Fahrenden es gut finden, stundenlang angeschnallt und
eingeknickt vor dem Lenkrad zu sitzen. (603)
Die versklavten
Autofahrer wehren sich nicht gegen diejenigen, die diesen Zustand
verursachen, sondern gegen jene, die von ihrem Sklavensein sprechen. Diese
Struktur wurde bereits von Platon offengelegt. (604)
Eine notwendige
Erfindung steht noch aus: Zwei oder gar drei Autos informationstechnisch zu
einer hintereinander gekoppelten Einheit zu verknüpfen, so dass alle drei
Autos von einem einzigen Fahrer gleichzeitig bewegt werden können.
Das gäbe vielen Mehrfachbesitzern endlich die ersehnte Möglichkeit, seinen
ganzen Autoreichtum auch außerhalb seines Hauses zeigen zu können. (605)
Im Auto kann
zumindest der Fahrer nicht lesen. (606)
Insbesondere
Fahrer von großen Autos fahren nicht mit dem Zug, weil sie dort ihren Wagen
nicht zeigen können. Eine Lösung dieser Problematik wäre: Bildsticker zeigen
ihr Auto oder eine Art Zeremonienmeister im Zug kündet von ihrem Besitz.
(607)
Ein Vorschlag
mit großen Realisationschancen: Es wird ein Schienennetz in der Wohnung
einschließlich der Garage installiert. Mit Hilfe eines kleinen Krans wird
der Autositz auf die Schiene gesetzt, so dass der Benutzer direkt vor den
Fernseher oder vor das Bett fahren kann (ob am Bett ein zweiter Kran steht,
ist eine Sache der Geldbörse, aber natürlich wäre das perfekt). (608)
Inzwischen ist
die körperliche und psychische Abhängigkeit vom Auto auch eine
Notwendigkeit, weil eigene und fremde Ressourcen nicht mehr vorhanden sind.
Das Auto, nicht der eigene Körper, ist heute zuständig für Bewegung. (609)
Autodominanz
bedingt verinselte Kindheit. (610)
Viele
zerstörerische Folgen der einseitigen Autoorientierung kann man nur erahnen,
denn sie dringen bis in die feinsten Verästelungen der Physis und Psyche.
(611)
Autofahrer nehmen Nahbereiche nicht wahr. Das
konzentrische Erkenntnismodell gilt nicht mehr. (612)
Dass Mädchen so vehement ins Fernsehen und Jungen
in die Bundesliga wollen (oder umgekehrt) liegt auch daran, dass sie ihre
Identität immer weniger in konkreten sozialen Räumen ausbilden können, so
dass es an direkten Rückmeldungen mangelt. So gesehen ist Schule auch in
dieser Hinsicht unverzichtbar. (613)
Soziale
Kompetenz ist, die Absichten der Anderen zu antizipieren und angemessen auf
sie zu reagieren. Wie sollen Autofahrer differenzierte Ausdrucksformen
erlernen? (614)
Der Autofahrer
ist in seinen körperlichen, geistigen und seelischen Funktionen
unterfordert. (615)
Die Autofahrer
beschweren sich, wenn sie nicht direkt bis vor ihr Haus oder Geschäft fahren
können. 200 Meter zu Fuß gehen gilt als Schmerzgrenze. (616)
Das Auto wirkt objektiv wie eine dynamisierte
Gefängniszelle, wird subjektiv aber als Freiheit und Geborgenheit
interpretiert. (617)
Rilkes Panther
entspricht der Situation des Autofahrers oder des Fernsehzuschauers: vom
wahren Leben ausgeschlossen. (618)
Wo Konsum herrscht, wird viel Auto gefahren und
viel ferngesehen ― der Geist zieht sich zurück. Der Kinderbuchmarkt
expandiert durch die Nachfrage der Erwachsenen. (619)
Welch eine ungeheure Reduktion an sinnlichen
Erfahrungen und Eigenerfahrungen, wenn mit dem Auto statt mit dem Rad zu dem
zehn Kilometer entfernten Dorf gefahren wird. Das Problem besteht darin,
dass man die Radalternative fast nicht mehr denken kann und damit auch
keinen Verlust empfindet. Es ist jedes Mal eine Ermordung von Raum und Zeit.
(620)
Das Auto
bewirkt die Eliminierung der Eigenbewegung. (621)
Autofahrer unterdrücken ihre Neugierde gegenüber
der jeweiligen Umwelt. Sie (die Neugierde) wird erst am Ziel wieder aktiv,
falls sie nicht schon abgestorben ist. (622)
Autofetischismus ― einem Fetisch werden
übernatürliche Kräfte zugesprochen. (623)
Autofahrer kennen keine »burning feet« (Chris
Rear), höchstens die Schmerzen, die durch Bewegungslosigkeit entstehen.
(624)
Im Auto ist man
wie in einem Panzer von der Umwelt hermetisch abgeschirmt und
ausgeschlossen: Der Einbruch von Zufällen, Unberechenbarem und Fremdem
(insbesondere der drei As: Arme, Ausländer, Arbeitslose) findet nicht statt.
Es entsteht wie in der Fernsehsituation die Illusion, einerseits keinerlei
Gefahren und Zumutungen ausgesetzt zu sein, andererseits »dabei« zu sein.
Warum diese Illusionssüchtigkeit? Ich vermute, dass Ich-Schwäche dahinter
steht. (625)
Was entgeht dem
Autofahrer alles: Gerüche, visuelle Details – und die Selbsterfahrung seines
Leibes. (626)
In Analogie zum
cogito ergo sum: Ich fahre Auto, also bin ich. (627)
Der Autofahrer
wird vom System gelenkt, denkt aber, er sei der Lenker. (628)
Das Auto
befriedigt niedrige Bedürfnisse: mit fremden Federn schmücken, mit gekauften
Energien agieren, sich der Faulheit und Bequemlichkeit unterwerfen, Rückzug
aus öffentlichen Beziehungsfeldern. (629)
Für viele
Menschen ist das Auto materieller und geistiger Mittelpunkt ihres Lebens,
sie definieren ihre Identität über ihr Auto: »Ich liebe meinen Benz«. (630)
Auto und
Machtkompensation spielen einander zu. (631)
Der
fremdbewegte Mensch kann seine Ganzheitlichkeit nicht mehr ausleben. (632)
Fernsehen und
Auto bilden einen »herunterziehenden« Zirkel: Mangel an Welterfahrung löst
Süchte wie Sehnsucht nach Welt aus, die das Fernsehen im Scheine befriedigt.
(633)
Wie kaputt
müssen die Menschen sein, dass sie kein Inter-esse (dazwischen sein) haben,
nicht neugierig auf wirkliche Wirklichkeit sind? (634)
Progressive
Forderung: Führerschein für Zehnjährige. (635)
Innovative
Stadtplanung: Abschaffung der Bürgersteige. (636)
Autofahren hat viel mit Selbstdarstellung zu tun.
Es gewährt der Männlichkeit sein letztes Asyl. Bei Tempo 220 km/h auf der
Autobahn tritt man in Kontakt mit den archaischen Schichten des eigenen
Seins (Norbert Bolz). (637)
Das Auto-Ich
ist ein stark reduziertes Ich. Nur am Ziel angekommenen hat es noch Kontakt
mit der Welt. (638)
Wenn immer sich
Möglichkeiten zum Gehen anbieten, ist ein Leben ohne Gehen
selbstverschuldetes schlechtes Leben. (639)
Modernes
Leben – Zwänge, Warengesellschaft:
Um Zwängen
verschiedenster Art zu entgehen, bietet sich die indirekte Selbsterziehung
an. Man schafft sich selbst eine Umwelt, in der mögliche »Verführer« ―
Zigaretten, Alkoholvorräte, Zeitungen, Fernseher, Auto ― nicht mehr zur
Verfügung stehen. Diese Strategie ist sicherlich nicht optimal, aber oft
effektiv (641)
Eigenbewegung
kann immer instrumentalisiert werden. Sport und Marschieren in totalitären
Regimen wären Beispiele. Es besteht offensichtlich eine Faszination darin,
in einer gemeinschaftlichen Bewegungsstruktur aufzugehen. Das muss nicht
grundsätzlich schlecht sein, denn der Orchestermusiker ist ebenfalls in eine
Struktur eingepasst. (642)
Waren haben die
negative Kraft, Eigenbewegungen zu verhindern. (643)
Dass die
Beschränkung auf Eigenbewegungen kein Abstrich an Lebensqualität sein muss,
sei an einem Beispiel verdeutlicht: Nach meinem Wissen und Beobachten gibt
es unzählige Möglichkeiten, am Strand mit und durch Eigenbewegungen aktiv zu
sein, das müsste doch genügen – es bedarf also nicht der Wasserskijets oder
Motorboote.[81]
(644)
Wer die
gegenwärtige qualitative und quantitative Dimension des Konsums ohne
Änderungen aufrechterhalten will, darf und kann nicht mehr Mittel für Kunst,
Gesundheit, Bildung, Arbeitszeitverkürzung fordern. Die Stärkung der
Eigenbewegung ermöglicht größere Autonomie gegenüber Konsumzwängen, wodurch
Mittel für die genannten Felder frei werden. (645)
Wenn ich ein
Boulevardblatt lese, bin ich während der Zeit des Lesens diese Zeitung. Die
Umgebung prägt. Das gilt auch für die Umwelt beim Gehen. Diese
Blätter regelmäßig zu lesen und unnötig Auto zu fahren, ist Verrat an den
menschlichen Möglichkeiten. (646)
Ende des 19.
Jahrhunderts breitete sich eine große Angst vor der Ermüdung aus, so dass
die großen Anforderungen der Moderne an Geist und Körper als zu groß
empfunden wurden.[82]
Ich denke, heute ermüdet, entfremdet und verwirrt uns der Konsum durch eine
physische Unterforderung. Durch den Verlust der Eigenbewegung entstehen
psychische und physische Krankheitssymptome wie bei einer Überforderung.
(647)
Es gibt die
bedenkenswerte erkenntnistheoretische Position, dass Gedanken sich aus der
Sprache (genauer: aus deren Semantik) »ernähren«. Das würde dann auch für
die Autopräferenzen gelten, die sich vom Sprechen über das Auto ernähren.
Woher erhält die Sprache ihre Wortinhalte in diesem Fall? Einerseits
bestimmt und füllt die direkte und indirekte Werbung die Wörter mit
Bedeutungen, andererseits – und hier am effektivsten ― wirkt die normative
Kraft des Faktischen, das heißt, das Haben und die Nutzung des Autos werden
von allen Menschen gewünscht und von vielen artikuliert, so dass dieser
Prozess inzwischen einen naturwüchsigen und damit kritikresistenten
Charakter angenommen hat. Dieser Charakter wird in der Sprache gespiegelt,
wenn z. B. mit größter Selbstverständlichkeit erzählt wird, ohne einen
Einwand überhaupt zu erwarten, dass man in einer Woche allein viertausend
Kilometer gefahren sei, um an drei Festlichkeiten teilzunehmen. (648)
Das Leben ist die entscheidende Differenz.
Leben ist Freiheit. Wer Leben und damit Freiheit nicht mehr hat, nicht mehr
fühlt, ist verloren. (649)
Umfang und
Vielfalt der Dinge verschwinden aus unserem Leben: Was fassen wir noch an,
was be-greifen wir? Zeitungen, Schaltknöpfe vom Fernseher, Handys,
Küchengeräte, Tastaturen, Staubsauger, Autotüren, Messer, Gabel, Löffel,
Schreibwerkzeuge, Waren aus den Regalen, Einkaufswagen. Generell werden die
Dinge immer leichter. Die Hand im Sinne eines Werkzeugs, mit deren Hilfe
komplizierte Aufgaben gelöst werden, wird überflüssig, so dass sie verdummt.
Auch der Fuß, der weder Schwierigkeiten überwinden noch Ausdauer haben muss,
verkümmert mit der Zeit. (650)
Die Logik der
Moderne[83]
besteht für den Konsumenten in der Abschaffung oder größtmöglichen
Verringerung materiellen (und geistigen) Widerstandes. Alle Bewegungen
werden aneinander vorbeigeregelt, damit keine Reibungen entstehen, die aus
anderer Perspektive als Begegnungen aufgefasst werden. (651)
In der modernen Industrie- und
Informationsgesellschaft wird jede Bewegung, also auch die Eigenbewegung,
als Arbeit definiert. Arbeit muss nach traditioneller Auffassung zumindest
reduziert, wenn nicht eliminiert werden. Das gilt für körperliche als auch
für geistige Arbeit. Diese Bewertung darf aber nicht generell abgelehnt
werden, denn repetitive Arbeit, die einen wiederholend-mechanischen
Charakter hat, kann in der Tat herunterziehen, muss es aber nicht. (652)
Die Moderne favorisiert das Einfache und fördert
damit die Unterforderung. (653)
Körperliche Nähe mit Fremden wird bewusst und
unbewusst gemieden. Vielleicht ist das der tiefere Grund dafür, dass viele
Menschen nicht mit dem Zug fahren mögen. (654)
Eine Momentaufnahme: Vier Schachteln Zigaretten,
drei Coladosen und eine Auto-Bild liegen, eingerahmt von zwei
Begrenzungshölzern, auf dem Laufband der Kasse. (655)
Das Schnäppchen-Argument hat heute universelle
Bedeutung angenommen und ist eine wesentliche Ursache für die
Verschlechterung und Zerstörung der Welt. Billig einkaufen ist eine
handlungsbestimmende Kategorie. (656)
In einer
Zeitungsanzeige wird Heldentum wie folgt definiert: »Sei ein Held, spar dein
Geld«. (657)
Es wäre schon
viel gewonnen, wenn der Anspruch, faktisch überall präsent zu sein, ja
präsent sein zu müssen, zurückgedrängt würde. (658)
Eine notwendige
Modernisierung des Osterspaziergangs, weil sonst unzeitgemäß:
…
Vom Eise
befreit sind Strom und Bäche,
...
Überall regt
sich Bildung und Streben,
Alles will sie
mit Farben beleben;
doch an Blumen
fehlt’s im Revier,
Sie nimmt
farbenfrohe Autos dafür.
(659)
Die
Benzinpreise klettern und klettern und die Autos fahren und fahren – und der
15-Jährige bekommt ein Kleinstmotorrad geschenkt. (660)
Es wird viel
zerstört, viel vergessen (Geschichte, Menschen, Sprachen) und viel Dummes
gelernt. (661)
Das uneigentliche Leben im Auto und vor dem
Fernseher verlangt kategorisch nach Ersatzleben (Plural), die im Scheine der
Waren, die wirkliches Leben versprechen, befriedigt werden. (662)
Wenn wir so
weitermachen in Bezug auf Energieverschwendung, haben wir zwei
Möglichkeiten: Krieg zu führen oder aufzugeben – beides sind keine
Möglichkeiten der Politik. Das wäre ihr Ende. (663)
Bei e-bay
verschwindet die soziale Dimension. Selbst die rasant sich vermehrenden
Paketdienste hinterlegen in der Regel die Pakete an vorher festgelegten
Plätzen. Die ökologische Dimension wird durch e-bay aber gestärkt, weil
Mehrfachgebrauch ermöglicht wird. (664)
Es gibt drei Möglichkeiten der Konsumaneignung in
der Reihenfolge abnehmender sozialer Kontakte: a) bei seinem Kaufmann um die
Ecke oder in der Innenstadt, b) in monofunktionalen Einkaufszentren an der
Stadtperipherie und c) Waren ins Haus kommen zu lassen auf Basis von
Internetkäufen. (665)
Der Mehrheit
der Bevölkerung geht es sehr gut, gut oder befriedigend. Eine besondere Art
von Wohlstand kann in psychische, soziale, kulturelle, ästhetische und
ökologische Armut führen. (666)
Immer mehr
Menschen richten sich in der Konsumwelt ein. Es gibt keine Werte, die außer
ihr liegen. Bildung (nicht im Sinne von Ratespielen) hat es deswegen sehr
schwer. (667)
»Wir haben fast
die Sprache in der Fremde verloren.« (Hölderlin). Wir reden fast nur noch
von Waren und deren Preisen. Wir sind ständig in der Fremde. (668)
Drang zur
Veredelung – heute nur noch indirekt über Waren. Das muss scheitern. (669)
Die Lebensräume
riechen nicht mehr nach Brot, nach Vergorenem, nach Blütenduft, nach Kuchen,
nach Werkzeugen und Materialien wie in einer Schusterei, auch hört man
wenige lebendige Geräusche, sondern überwiegend mechanisch-motorische. (670)
Immer das
Billigste zu kaufen führt notwendigerweise zu Qualitätsverlusten und Lügen.
(671)
Wir leben
zunehmend in Oberflächen, die wir als entscheidend und wesentlich
betrachten. Ein Oberflächen-Leben ist ein Zweidimensionales. (672)
Die große
kulturelle Bedeutungswelt ist auf Konsumbedeutung geschrumpft. (673)
Bei der
heutigen Art des Einkaufens bleibt Menschliches und Lebendiges auf der
Strecke. Ausnahmen: Der Bäcker mit seinem Brotwagen und der Fischhändler mit
seinem Stand. Sie arbeiten in einer Struktur, die auch spontane
Kommunikation erlaubt – und alle haben Spaß daran. (674)
»Autokauf
oft wichtiger als Altersvorsorge. Der durchschnittliche Bundesbürger denkt
über die Anschaffung eines neuen Fahrzeugs fast doppelt so lange nach wie
über die finanzielle Absicherung im Alter«.[84]
(675)
Das
Einkaufszentrum auf der grünen Wiese bietet den Joghurt etwas billiger an,
deswegen »muss man« dort hin fahren und nicht zum Kaufmann um die Ecke
gehen. Allerdings muss man tatsächlich einen Baumarkt aufsuchen, wenn man
ein banales Türschloss erwerben will, denn das gibt es in der Stadt nicht
mehr zu kaufen. Wie viele Geschäfte, Ärzte, Einrichtungen haben ihren
Betrieb aufgegeben, weil sie nicht genügend Parkplätze zur Verfügung stellen
konnten bzw. gar nicht mit dem Auto erreichbar waren? (676)
»Fernseh-Kindheit«, »verinselte Kindheit« – Ausdrücke, die implizit die
(relative) Bewegungslosigkeit der Kinder ausdrücken. (677)
Die zukünftigen
Aufstände werden Benzin-Aufstände sein. Man braucht sich nur den
zukünftigen globalen Energieverbrauch anzuschauen. (678)
Was passiert,
wenn Kinder nahezu ohne Eigenbewegung aufwachsen werden? Ein Student kann
wegen massiven Schneefalls nicht zur Prüfung kommen, weil Autos nicht fahren
können. Er wohnt ca. zwei Kilometer vom Prüfungsort entfernt. (679)
Der blinde
Fleck der individuellen und gesellschaftlichen Selbstreflexion ist die
Vernichtung der Eigenbewegung im Alltag. (680)
Die dominierende indirekte Berührung mit der Welt
hat zur Folge, dass Welt uns fremd wird. Aus natürlichen Rhythmen werden
mechanische Abläufe, in deren Nischen noch ein Restleben verbleibt, primär
als Phantasien. (681)
Urlaubserinnerung an eine Landschaft: »Dann sind wir über den schönen Pass
gefahren«. (682)
In den großen
Einkaufszentren an den Peripherien oder auf grünen Wiesen ist jede Spur von
Geschichte, Heimat, Kultur getilgt. Sie sind nur noch mit dem Auto
erreichbar. Fahrradständer findet man in der Regel dort nicht. (683)
Wir bleiben auf
der Waren-Ebene und stoßen, obwohl wir es zumindest unbewusst wollen,
nicht auf die Seinsebene durch, allein schon deswegen nicht, weil Waren und
Fernsehprogramme inflationär auftreten. (684)
Bei Jane Austen
ist zu lesen, dass Laufen in größerem Ausmaße in bestimmten
Schichten als unschicklich galt. Sind wir wieder bei dieser Norm angelangt –
jetzt aber gesellschaftsübergreifend? (685)
Auto, Fernsehen
und konsumorientierte Lebensweise bedingen einander und werden zu einem
autonomen System. (686)
Eine
Schneekatastrophe ist keine Naturkatastrophe, sondern eine
Verkehrskatastrophe. Wenn ich bei Frost und Schnee nur mit einer Unterhose
bekleidet draußen friere, ist das ebenso keine Klimakatastrophe, sondern ein
Kleidungsproblem bzw. ein Denkfehler. (687)
Wenn alle Autos und Motorräder der Familie vor dem Haus stehen, ist es
ein sicheres Zeichen für die Anwesenheit aller Familienmitglieder. (689)
Meine Nachbarn
sehe ich nicht und höre auch nicht ihr Lachen, ihre Gespräche, ihr
Schimpfen, sondern ich höre die Motoren ihrer Autos, Rasenmäher, das
Autoradio, das dumpfe Zuschlagen der Autotüren. (690)
Beim Autoerwerb
werden lange, schwarze leichenwagenähnliche Limousinen, hohe oder
großräumige Farmerwagen oder etwas kleinere Busse bevorzugt. (691)
Ein junges
Mädchen an der Kasse fragt ihren Kollegen nach mehr Arbeitsstunden, denn sie
hatte mit ihrem Auto, das sie zum Geburtstag bekommen hat, einen
Totalschaden. (692)
Das Auto in der
Fortbewegung und das Fernsehen in der Informationsaneignung haben eine
Monopolstellung. (693)
Zwei Artikel
auf derselben Seite einer Tageszeitung: a) Meteorologe warnt vor
Klimakatastrophe und b) Pastor hält Motorradgottesdienst. (694)
Der Autofahrer
sieht keine Menschen, nur Autos, Straßenbelag und große Schilder ― das ist
die neue Welt in Reinform. (695)
Die Schülerin
fährt mit dem Auto 70 Kilometer zur Schule und zurück, in der Freizeit fährt
sie Motorrad. (696)
Motorradfahrer
verbreiten durch ihre martialische Ausrüstung und durch ohrenbetäubenden
Krach Angst. (697)
Das Auto
erweckt Sehnsüchte, die es nicht befriedigen kann. (698)
Ein Schüler mit
Bewegungsdefiziten und Übergewicht wird von den Eltern im Auto vom
Therapiezentrum bis vor die Schule gefahren, obwohl der Junge nur einen
Kilometer von der Schule entfernt wohnt. (699)
Die Widerstände
der Welt werden nicht mehr erfahren. (700)
Wenn ein Bauer
im Alten Land begeistert Formel-1 sieht, aber die Erweiterung der Startbahn
für den Airbus ablehnt, lebt er in einem Widerspruch. (701)
Sinngebung des
Sinnlosen: Von Hamburg nach Oberhausen wegen der großen Auswahl an Waren zu
fahren. (702)
Aus einem
Bewertungstest für Strände: »Parkplätze sind ausreichend vorhanden, aber 200
Meter vom Deichbad entfernt«. (703)
In Wolfsburg
gibt es eine »Auto-Universität«. (704)
Es gibt
inzwischen dressierte oder gezüchtet Hunde, die viel lieber Auto fahren als
laufen. (705)
»Den Gipfel
kann man zu Fuß oder mit dem Auto erklimmen«. Dieser Satz aus einer
Reisezeitschrift belegt die Konfusion bereits in der Sprache. (706)
Spaltung
– Isolierung:
Den homo
clausus definiert Norbert Elias als abgeschnitten von seinen Mitmenschen und
von sich selbst – und von der Umwelt und Natur (füge ich hinzu). Das Gehen
wäre ein Gegenmittel. (707)
Immer weniger
direkte zwischenmenschliche Beziehungen finden statt und wenn, dann in
höchster Konzentration in Form von Massenveranstaltungen und in
Einkaufszentren. Ansonsten sind Straßen und Plätze menschenleer, aber
autovoll. (708)
Die absolute
Einheit vom Subjekt und seiner (materiellen) Umwelt ist nur im Tod möglich.
Auto, Zug, Flugzeug und Fernsehen minimieren die Begegnung und bilden damit
das andere Extrem, die Trennung von der Welt, was eine andere Art des Todes
ist. (709)
Reisen ist
primär Akkommodation. Uneigentliches Reisen und unterforderndes
Fernsehen sind eine niedrige Form der Assimilation, also reines
Wiedererkennen. (710)
Materielle
Waren befriedigen keine tieferen Bedürfnisse: Anerkennung, Liebe geben und
erhalten, klug und weise sein, ... (711)
Bewegungslosigkeit entfremdet uns von Natur, Kultur, von den Menschen und
von uns selbst. (712)
Im Urlaub – und
anderswo – in lebendige Verhältnisse treten. Mit dem Auto in den Urlaub zu
fahren, heißt, Entfremdung mitzunehmen. (713)
In Auto, Bahn
und Flugzeug ist die Umwelt bis auf gelegentliche panoramische Ausblicke
ausgesperrt. Räume sollen so schnell wie möglich ohne Kontakt im wahrsten
Sinne des Wortes überwunden werden. Übrigens verstehe ich nicht, wie man
selbst am Ferienort tägliche »Autotouren« unternehmen muss. (714)
Fremdbewegung
ist Entfremdung von der Welt: In der Fremdbewegung spiegelt man sich nicht
in einem anderen Menschen, sondern nur das eigene Auto spiegelt sich im
Fahrer eines anderen Wagens. Fremdbewegung ist hermetische Abschottung von
der Umwelt. (715)
Autofahren
heißt, von Natur und Menschen getrennt zu sein. Darüber wird nicht
nachgedacht, sondern riesige individuelle und kollektive Verdrängungen
finden statt. (716)
Stadt und
Land:
Die Schönheit
ist inzwischen in der Regel so zerstört, dass nur noch arrangierte Bilder
eine Ahnung von ihr wiedergeben können. Die Kirche wird am frühesten Morgen
fotografiert, weil sie später permanent vom Verkehr umbrandet ist. (717)
Wenn ich mit
dem Auto – wie Tausende anderer Autofahrer auch – in die Ferienregion fahre,
zerstöre ich diese. (718)
Je weniger ein
Urlauber von der bereisten Region weiß, desto ausgedehnter fällt seine Reise
aus. Denn er sucht und wird per definitionem nichts finden. Ein wahrer
Reisender ist immer auch ein Wissender. (719)
Global gesehen
gibt es inzwischen in jeder Stadt einen sehr hohen Prozentsatz an Bewohnern,
die absolut nicht willens sind, ihre Autofahrten einzuschränken oder gar auf
das Auto zu verzichten. Deswegen ist jede Stadt zur Vernichtung verurteilt ―
bezogen auf Stadt, wie sie auf uns in einer fünf Jahrtausende dauernden
Entwicklung zugekommen ist. (720)
Die Stadt, das
Dorf, die Landschaft haben bewusstseinsmäßig keinen dinglichen oder
geographischen Ort mehr, sondern Wirklichkeit und Wahrheit werden immer
häufiger durch Zeichen ersetzt. Gelebte Kommunikation und Interaktion sind
verschwunden. Die Menschen sind voneinander getrennt und nur noch in den
gemeinsamen Zeichen vereint. (721)
Die Er-fahrung
ist keine Erfahrung mehr. Die Wege sind menschen-, kultur- und naturleer,
aber voller Autos. (722)
Die gewachsene
Stadt löst sich in eine Menge von Vorstädten auf. Die Struktur der Vorstadt
wird universell »Stadt«. Die Frage ist, ob wir das noch als Stadt bezeichnen
wollen. (723)
Die Zerstörung
der Stadt sieht man insbesondere deutlich an der Veränderung alter
Stadtteile. (724)
In Stadtteilen,
Vorstädten und Dörfern gibt es faktisch keine Radfahrer und Fußgänger mehr.
Morgens und mittags sind höchstens noch Schulkinder zu sehen, insofern sie
nicht von den Eltern mit dem Auto abgeholt werden, was übrigens mit Liebe
und Zuwendung verwechselt wird. Diese »Leere« wird besonders deutlich, wenn
man sich nicht auskennt und nach einem Weg fragen will. (725)
Die Beschreibung und Analyse des Zerfalls von
Altstadtkernen gilt generell. Der Grund liegt primär nicht in den
demographischen Veränderungen, sondern in der zunehmenden Unwirtlichkeit der
Städte, bedingt durch den Individualverkehr. Die Folgen kann jeder erkennen,
falls er überhaupt noch wahrnimmt: Lärm, schlechte Luft und Verhässlichung.
Wer mutet sich das und gar seinen Kindern zu? Es gibt nur eine wirkende
Lösung, die zweierlei verlangt: den Individualverkehr aus der Stadt zu
verbannen und die Bewohner einsichtig zu machen, dass es viel besser ohne
das Auto geht, dass Lebensqualität erst durch dessen Abwesenheit entsteht.
Das zu denken, heißt, das dominierende Tabu der Gegenwart zu brechen. (726)
Früher gingen
große Häuser mit großen Grundstücken und großen Autos zusammen, heute werden
die Häuser und die Grundstücke immer kleiner, während die Autos immer noch
größer werden. Man gehe einmal durch eine Vorstadtsiedlung. (727)
Was hat man
eigentlich für ein merkwürdiges, ja mulmiges Gefühl, wenn man sich zusammen
mit Hunderten anderer Autos durch das Dorf quält? Schwingen da nicht auch
Schuldgefühle mit? (728)
In Madrid tobt ein »Parkuhren-Krieg«[85]
in Form von Großdemonstrationen, Zerstörung von Parkuhren und Gewalt gegen
Politessen, da Einschränkungen gegen wildes Parken vorgenommen wurden.
Einschränkungen gegen destruktive Auswirkungen des Autoverkehrs werden als
Anschlag auf die persönliche Freiheit interpretiert. Zukünftige Revolten
werden Freiheit-für-das-Auto-Aufstände sein. (729)
Szene aus dem Film »Cinema Paradiso«: Ein
Trauerzug mit Sarg windet sich durch parkende Autos hindurch, wird
auseinandergerissen und verliert damit die Form einer traditionellen
Prozession. (730)
Neue Funktion
für das Rosenbeet eines Vorgartens: Es ist zum Stellplatz für einen
Wohnwagen geworden. Das scheint das Schicksal aller Vorgärten zu werden.
(731)
Auf allen Straßen und Plätzen der Stadt stehen
oder fahren Autos. Die Gebäude erscheinen nur noch als Inseln im Meer der
Autos. (732)
Man beobachte einmal das Verhalten einer Mutter
mit ihren zwei Kindern auf dem Großparkplatz eines Discounters: Kaum
ausgestiegen, preschen links und rechts Autofahrer auf der Suche nach einem
Parkplatz vorbei. Krampfhaft hält die Mutter die Kinder fest, diese gucken
erschreckt nach allen Seiten, laufen und bleiben stehen. Es gibt keine
Aus-wege für Fußgänger. Die kleine Gruppe findet schließlich in
schlängelnden Bewegungen den autofreien Haupteingang. Dieser Bereich muss
ihnen zwangsläufig wie ein Stück des Paradieses erscheinen. (733)
Es wäre schon
etwas gewonnen, wenn das Auto nicht unmittelbar am Haus stehen
müsste. (734)
Ich bin heute um 18 Uhr bei durchschnittlichem
Märzwetter durch drei Stadtteile gelaufen und habe lediglich eine
Hundehalterin getroffen. (735)
Für
Landschaften und Städte ist der Autobefall eine Krankheit von pestartigem
Charakter. Eine Pest, die nicht mehr wahrgenommen, sondern als
unverzichtbarer Teil der Natur angesehen wird. (736)
Auto und Stadt
sind inkompatibel. Die Stadt wird durch die Autos zerstört. (737)
Ein Wohnhaus
liegt 13 Meter von der Straße zurück. Besucherautos fahren mit großen
Schwierigkeiten die schmale Seiteneinfahrt hinein, um direkt vor die Haustür
zu fahren. Es dauert Minuten, bis die Auspuffschwaden verflogen sind. Auf
der Straße sind genügend Parkmöglichkeiten vorhanden. (738)
Am Stadtrand
hat eine Billigbäckerei aufgemacht und floriert. Das Motiv der dafür quer
durch die Stadt fahrenden Autos kann nicht der geringfügig günstigere Preis
sein. Welches dann? (739)
Jeder aufgegebene Laden im Nahbereich ist ein
Verlust für die Eigenbewegung. (740)
Stadt und
Landschaft werden autogerecht gemacht und nehmen somit selbst sinnenarme
Strukturen und Eigenschaften an, die den Bedürfnissen des Autos entsprechen.
(741)
Autogerechte Autobahnen und Straßen entleeren die
Landschaften, Dörfer und Städte. (742)
Großzügiger Straßenbau wie Stadtautobahnen und
breite Ausfallstraßen kann für die Stadt selbst sehr unterschiedliche Folgen
haben: Entweder ziehen Straßen Menschen in die Stadt oder ermöglichen die
Flucht aus ihr. (743)
Eine sinnenarme Stadt unterfordert ihre Bewohner,
die wiederum ihre Stadt noch sinnenärmer gemacht haben wollen. (744)
Die Untergeschosse von Reihenhaussiedlungen sind
durch eine lückenlose Mauer von parkenden Autos nicht mehr einsehbar. (745)
Richard
Sennett untersucht in seinem Buch »Fleisch und Stein« das Verhältnis von
Mensch und Stadt. Ich untersuche das Verhältnis von Fleisch und Blech. Nicht
die Stadt, sondern das Auto ist die Umwelt des modernen Menschen. Während
das Verhältnis von Blech und Stein ein anderes Thema ist. (746)
Als eine Logik der Geschichte kann man den Drang
des Menschen auffassen, sich frei zu bewegen. Im übertragenen Sinne:
Stadtluft macht frei. Eine sinnvolle und berechtigte Forderung, die erst mit
der Anbindung an das Auto katastrophal wird, weil die Körper sich von der
Stadt und allem, was Stadt ausmacht, lösen: Wenn ich mit dem Auto durch
Hamburg fahre, bin ich nicht in Hamburg – auch nicht für die Hamburger.
(747)
»Meine
Heimatstadt hat die Zukunft verpennt: keine modernen Einkaufszentren, keine
Großtankstellen, keine Großdiskotheken« sagt der neue Nachbar. (748)
Nach der Größe
der Autos in unserem Stadtteil zu schließen, wohnen in unserer Straße
entweder kinderreiche Großfamilien oder Kleinsttaxiunternehmer oder Farmer.
(749)
Autos haben Städte und Landschaften zum
Schlechten hin verändert. (750)
In unserer
Stadt gibt es eine große Sporthalle. Die »sportlichen« Besucher der
Sportveranstaltungen verlangen nach mehr und näher gelegenen Parkplätzen.
(751)
Der Städter,
obwohl kurze Wege und öffentliche Verkehrsmittel vorhanden sind, fährt genau
so viel Auto wie der Landbewohner. (752)
Autogerecht heißt: Vor jedem öffentlichen Gebäude
befindet sich ein breiter, kreisförmiger Gürtel von Parkplätzen. Das ist
sinnvoll, weil diese Struktur für Autofahrer das Gehen auf ein Minimum
beschränkt, und ist gerecht, weil alle Autofahrer die gleiche Strecke laufen
müssen. Die Struktur der modernen Stadt ist dann wie folgt: Massive und
kompakte Baukörper in runder Form, von Parkplätzen umgeben, bilden viele
Inseln, die durch breite Autostraßen miteinander verbunden sind. Die Räume
zwischen den Inseln sind unwirtlich, weil allein autofunktional
verunstaltet. Im eigentlichen Sinne sind es keine Räume mehr. (753)
Das Auto ermöglicht und erzwingt einen Großteil
gegenwärtiger städtischer und ländlicher Infrastrukturen mit entsprechendem
Wissen und Wollen der Einwohner. Für Fußgänger und Radfahrer bleiben nur
noch Nischen. (754)
Nur wo
Menschen stark verdichtet auftreten wie in Fußgängerzonen, Konzertsälen,
Stadien und eingeschränkt auf Friedhöfen muss das Auto noch draußen bleiben.
(755)
Das moderne
Einfamilienhaus: Autos stehen vor und an beiden Seiten des Hauses. Vorgärten
verschwinden oder sind in der Breite nur noch eine Andeutung. Das Haus ist
das Zentrum einer dreiseitigen Wagenburg ― und erstickt. Die Straßen werden
so zu unendlich langen, gewissermaßen linearisierten Ausstellungshallen für
Autos. (756)
Die Automassen
sind wie Sturmfluten, die mit Gewalt ihre Wege durch die Städte und
Landschaften erzwingen, so dass nur noch Häuser und Bäume aus dem Automeer
herausragen. (757)
Die gegenwärtigen Wahrnehmungs-, Stadt- und
Landschaftsstrukturen sind bereits so tief in Richtung »autogerecht«
verändert worden, dass eine Umkehr oder Alternativentwicklung auch bei allem
Gewinn schmerzhafte Phasen hätte. (758)
Vorstädte sind keine »richtigen« Städte und auch
keine »richtigen« Dörfer. Sie haben keine Öffentlichkeit. (759)
Achtundsechzig
Prozent der abstimmenden Dresdener sprechen sich für eine vierspurige Brücke
über die Elbe aus, auch wenn damit die Einzigartigkeit des Ensembles und der
Status des Weltkulturerbes verloren geht. (760)
Die Vernunft gebietet, dass das Auto sich der
Stadt anpasst und nicht die Stadt dem Auto. (761)
Es gehen keine Menschen mehr an unseren Fenstern
vorbei oder bleiben plaudernd stehen, sondern man sieht nur noch fahrende
und parkende Autos. (762)
Der Autoverkehr hält die Stadt gewissermaßen in
einem permanenten Kriegszustand und destruiert die Straße als sozialen Raum.
(763)
Autos werden nur dann verdrängt, wenn es dem
Konsum dient. (764)
Warum
eigentlich nicht den autofreien Stadtteil? (765)
Beschreibung
eines Stadtteils aus der Gründerzeit: verlassene Geschäfte,
Industriebrachen, partielle Verwahrlosung, Trostlosigkeit, vollgeparkte
Straßen. (766)
Stadt und Auto sind inkompatibel. Das wird
deutlicher, wenn man erkennt, dass das Auto viel mehr Platz verlangt als
sein Größenvolumen ausmacht. Zum Auto gehört die Summe aller Straßen und
Parkflächen einschließlich ihrer zu erwartenden Erweiterungen. Deswegen
werden ― von den wenigen Fußgängerzonen abgesehen ― ganzheitlich
wahrnehmbare Menschen im Stadtbild zunehmend eine Rarität. Dieses Phänomen
ergreift alle Städte der Welt. (767)
Die Autofahrt
geht von der durch die Küche erreichbaren Garage zum überdachten
Einkaufszentrum und zur Tiefgarage im Bürohaus – und die Fahrenden bemerken
die angenehme Wärme der Sonnenstrahlen und die wenigen spielenden Kinder
nicht. (768)
Die Menge der
Autos erzeugt einen ungeheuren Druck auf bestehende Strukturen, diese im
Sinne ihrer Logik zu verändern. (769)
Aus einem
Prospekt: »Das Seeufer ist für den Autoverkehr sehr gut erschlossen.« (770)
Ein
autogerechter Stadtteil muss soweit von Häusern »befreit« werden, bis alle
Verkehrsströme ungehindert sich entfalten können und jedes Auto zu jeder
Zeit am selben Ort parken kann. (771)
Das
Individuelle von Orten wird immer weiter zurückgedrängt zugunsten des
Allgemeinen, das heißt konkret, zugunsten technologischer Infrastrukturen:
Straßen mit Parkplätzen, Tankstellen, fahrende und stehende Autos.
»Unangepasste« Häuser werden abgerissen und, falls Platz vorhanden ist,
durch autofunktionale ersetzt. (772)
Alle Städte
sind als lebendige Organismen zerstört. Autos verhindern Begegnung, Natur,
Zufälle, .... (773)
Überall, wo Autos massiv vertreten sind, halten
sich Menschen nicht auf Dauer auf. (774)
Global läuft der gleiche Film ab: In jeder Stadt,
in jeder Region, in jedem Dorf dominieren Autos und schaffen soziale Leere
und damit den Verlust interagierender, direkt kommunizierender
Öffentlichkeit. (775)
Warum die
globale Einheitlichkeit der Städte und ihrer Vororte mit ihren
Autostrukturen und damit Hässlichkeit? Warum nicht eine einzige Stadt, ein
Viertel, ein Vorort, die das nicht mitmachen? (776)
Landschaft reduziert sich im Bewusstsein des
Autofahrers zu Entfernungen, zur reinen Strecke, die in Kilometer
ausgedrückt wird. 20 Kilometer in Schleswig-Holstein, im Harz oder in China
sind 20 Kilometer. (777)
Die
Eigenbewegung durch Fremdbewegung zu ersetzen, ist die Ursache für die Leere
der Städte. Das gilt nicht für Fußgängerbereiche während der Öffnungszeiten
und für Ereignisse mit Event-Charakter. Man gehe abends durch die Innenstadt
oder durch eine Vorstadtsiedlung: als ob eine Neutronenbombe eingeschlagen
hätte, die alles Lebendige tötet und nur das Materielle bestehen lässt ―
menschenleer. (778)
Die historische Stadt ist nicht für den
Autoverkehr geschaffen: Deswegen ist sie auch nicht konkurrenzfähig mit den
Einkaufsmärkten. (779)
Eine vielbefahrene Straße ist viel »ausladender« als ihre materielle
Breite. Akustisch und visuell ist sie um das zigfache ausgedehnter. (780)
Vielbefahrene Straßen sind insbesondere in der Landschaft
unüberquerbar, so dass Fußwege unterbrochen werden, der Umweg führt wieder
nach kurzer Zeit an eine entsprechende Straße. Diese Parzellierung der
Landschaft erfährt man oft schmerzhaft bei größeren Wanderungen. (781)
Jede Stadt, ob Bad Bramstedt in Schleswig-Holstein, Hainburg in
Österreich, Athen, Hamburg, die wunderschönen Städte Italiens, selbst kleine
Inseln sind von der »Autokrankheit« lebensgefährlich befallen. (782)
Der Umbau der multifunktionalen Stadt in ein
Gebilde, das Existenzberechtigung nur noch als Funktion des fließenden
Autoverkehrs hat, heißt Entmenschlichung im buchstäblichen Sinne des Wortes:
Dramatische Reduzierung direkter Begegnungen, monotone und reizarme
Strukturen. (783)
Entleerte Städte schaffen leere Köpfe, entleerte
Köpfe fordern und schaffen leere Städte – das ist die Dialektik von
materieller Umgebung und Bewusstsein. (784)
Urbane
Strukturen werden durch die autogerechte Stadt ersetzt mit der Folge, dass
soziale Strukturen und öffentliche Räume sich auflösen, dass Vereinzelung,
Sprach- und Kommunikationslosigkeit vorherrschen und dass der Mensch die
Bedingungen seiner Subjekthaftigkeit im Geistigen, Seelischen und
insbesondere im Körperlichen verliert. (785)
Moderne
Inversion: Nicht Haus mit Garage, sondern Garage mit Haus. (786)
Man fahre mit
dem Rad oder gehe zu Fuß durch vielbefahrene Straßen: Hässlichkeit,
Benzingeschmack auf der Zunge, keine Fußgänger. Hier wohnen keine
Autolobbyisten. (787)
Urbanität
ermöglicht soziales Aufeinandertreffen und nicht Durchfahrt im Sinne von
»freie Fahrt«. (788)
Kann man die
autogerechte Stadt noch als Stadt bezeichnen? Wie soll man dieses
Konglomerat nennen? (789)
Stadt ist auch
eine geistige Haltung (wie Schlüssel und Schloss): Neugierde auf andere
Menschen, Freude an Zufälligem, historisches Bewusstsein. (790)
Zwischen
Abfahrtsort und Zielort der Autofahrt liegt ein soziales und ästhetisches
Vakuum, ein Niemandsland: vom Leben »gereinigte« Stadtteile, Gebiete, die
man schnell durchfährt. (791)
Viele ehemals
wunderschöne Villen verfallen, weil sie jetzt an Hauptverkehrsstraßen
liegen. (792)
Das Auto-Ich
fordert die Auto-Stadt (Max Bense). (793)
Das Auto
schafft die »Placeless Society«. (794)
Die Bürger
versagen: Der Innenstadt geht es nicht gut, immer mehr Bürger meiden sie.
Das Spektrum der möglichen Ursachen wird breit diskutiert: zu wenige und
teure Parkmöglichkeiten und weite Fußwege sind das häufigste Argument, aber
auch die Breite und Qualität der Angebote, die Sauberkeit der Straßen bis
hin zur Anwesenheit von Menschen aus sozialen Randgruppen werden u. a.
bemängelt. Diese Argumente spiegeln Bedürfnisse, Werte und ein Bewusstsein
eines neuen Typus von Lebewesen, der sein Verhalten und seine Entscheidungen
fast ausschließlich nach den Prinzipien Bequemlichkeit, Schnelligkeit,
Schnäppchen und neueste Mode ausrichtet. Auf der Strecke bleiben Schönheit,
Begegnung (auch mit dem Störenden und Irritierenden), Augenblicke,
Zufälligkeit, Überraschungen, Zweckfreiheit, Unübersichtlichkeit,
Vielfältigkeit, Tradition, das Miteinanderreden, Öffentlichkeit, Vernunft
und Ethik – also Erfahrungen, die eine Stadt viel umfangreicher und
intensiver ermöglicht. Gegen diese Tendenzen zu leben, setzt aber den
neugierigen, selbständigen, verantwortungsvollen und sozial-kulturell
interessierten Bürger voraus. (795)
Technik
– Maschinen, Mechanik:
Die mechanische
Erkenntnistheorie ist in jedem Geldstück verkörpert. Was heißt das? Der
abstrakte Raum und die abstrakte Zeit der Physik werden zum Vorbild und Maß
aller Erkenntnis, so dass von allen Qualitäten abstrahiert wird, und es nur
noch um die reine Zahl geht, die im Alltag zum Preis mutiert. Diese
Perspektive bestimmt die Dinge, sie entscheidet über ihre Existenz bzw.
Nichtexistenz und über ihre Relationen. Mechanische Bewegungen wie die des
Zuges und Autos fordern fast naturwüchsig zum Messen auf, während die
Eigenbewegung sich gegen das Messen merkwürdig sperrig verhält. (796)
Maschinen, auch
Computer, sind immer noch geschlossene Systeme. Sie kennen nur Kausalität,
keine Freiheit. Wenn der Mensch seine Freiheit aufgibt, wird er zur
Maschine. Das merke ich – als Tendenz ― besonders beim Autofahren. (797)
Das Ideal der von Menschen geschaffenen absoluten
Bewegung ist das perpetuum mobile. Das Motorrad und das Auto stellen dieses
in Selbsttäuschung – zumindest innerhalb einer Tankfüllung – schon her. Auf
diesem Tausch in der Täuschung beruht vielleicht die Faszination der
Technik. (798)
Die Dominanz der mechanischen Räderwerk-Logik erzwingt die Ausblendung
lebendigen und philosophischen Denkens aus der Alltagswelt. Die Technik gibt
vor, normenlos zu sein. Aber sie hat eine Norm – ihre Logik. Nebenbei: Das
Auto entspricht idealiter der Räderwerk-Logik. (799)
Die Antwort auf
die Frage nach dem Wesen der dominanten Logik liegt nicht nur im Bedenken
des Denkens, sondern auch im Bedenken von menschlichen Artefakten, wozu auch
die habitualisierten Bewegungen gehören. Erich Fromm hat zumindest dann
Recht, wenn man seinen Begriff der nekrophilen Kultur auf die Bewegungen des
modernen Menschen bezieht. Hier sind überwiegend nur Verluste zu
konstatieren. (800)
Wir müssen
dankbar zur Kenntnis nehmen, dass die Technik uns von Schwerst- und schwerer
Arbeit befreien kann und soll. Wir machen aber einen kardinalen Fehler, alle
Eigenbewegungen möglichst durch technische Apparaturen zu ersetzen. (801)
Wer Technik nutzt, kann sich ihr gegenüber nur
schwer kritisch verhalten. Es erfordert umfassende theoretische und
praktische Anstrengungen, diese Bindung rational zu beschreiben und
gegebenenfalls zu lösen. (802)
Die Maschine, sei es Auto, Fernsehapparat oder
Waschmaschine, ist immer da, immer bereit und verlangt, möglichst oft
benutzt zu werden. Es ist schwer, diesem »Befehl« nicht zu folgen. (803)
In jeder Maschine waltet ein Code, der allein von
Menschen geschaffen wurde. Die Maschine ist ausschließlich aus Gedanken
entsprungen, sie ist materialisierter menschlicher Geist. Es besteht also
ein habitueller, vielleicht sogar ein ontologischer bzw. logischer Zwang,
einem früheren Gedanken, der jetzt eine Maschine ist, folgen zu müssen.
(804)
Eine Maschine
übt nur dann Herrschaft aus, wenn wir ihr (und damit uns) gegenüber nicht
»Nein« sagen können. (805)
Die Frage nach
dem »Wozu« des Werkzeugs (hier das Auto) ist vielleicht die entscheidende
Frage. Welche Probleme löst es, welche nicht? Welche neuen Probleme werden
für das Individuum und für die Gesellschaft geschaffen? Die Antwort umfasst
Ideologiekritik, Gründe, Alternativen. (806)
Es gibt
entweder die Ordnung des Kosmos oder die Ordnung der Mechanik, innere
Harmonie oder Fremdbestimmung. Musik wäre dann eine Ordnung des Kosmos. Dass
der laufende Motor, die Parade oder das Massenturnen schön seien, ist
zweifelhaft, denn bei erster dominieren die giftigen Emissionen und Krach,
bei zweiter die Aggression und bei dritter das Kollektiv. (807)
Gehen ist ein
Mittel gegen die Verflüssigung und Auflösung der Welt und gegen die
mechanisierte Welterfahrung. (808)
Selbstbestimmte
Eigenbewegung ermöglicht Unabhängigkeit von mannigfachen Apparaturen, die in
der Regel zudem viel Geld kosten. (809)
Gegen Mechanik
in der Welt ist nichts einzuwenden, gegen eine Mechanisierung der
Welt alles. (810)
Die Moderne ist
primär technisch vermittelt. Moderne heißt, auf dem Höhepunkt der
technischen Entwicklung zu sein. (811)
Die zunehmende
Kälte in der Gesellschaft ist wesentlich auch durch die Ersetzung des
Lebendigen durch Technik verursacht. (812)
Es ist wohl so:
Die Anwender von Motoren leiden nicht unter den entstehenden Destruktionen.
So habe ich nicht gelitten, als ich kürzlich mit dem Dampfdruckstrahler
arbeitete. Ich vermute, dass dieses Ausblenden viel mit der Befriedigung
durch Macht zu tun hat. Leiden basiert auf Urteilen, das heißt Denken. (813)
Der weiße,
ideologische Fleck des Marxismus (gilt bedingt auch für Walter Benjamin)
ist, die Technik als bloßes neutrales Mittel zu sehen. (814)
Viele Stimmen,
natürliche und technisch reproduzierte, wirken als Durcheinander auf mich
ein. Ich bin verstimmt. (815)
Man sagt, Rom
wäre am Luxus zugrunde gegangen. Besteht dann nicht zur Gegenwart eine
Analogie, wenn man den Blick primär auf das Subjekt richtet? Luxus
wird heute oft als Bequemlichkeit definiert, und so lässt man eben tausend
mechanische Roboter für sich arbeiten. (816)
Novalis
begreift die Hegemonie der Maschine, die mit der radikalen Anamnese
des Grundes (= Sein, Tradition, Erinnerung, Zeit, Tod) einhergeht,
gewissermaßen als ein steuerloses perpetuum mobile, das an die Stelle des
Göttlichen getreten ist. Die Denaturierung der Natur ist ein Grund für die
Seinsvergessenheit. Er setzt die Hoffnung auf das Organische, das in der
entseelten und entsinnlichten Natur neu erblüht.[86]
(817)
Nach Hans-Georg
Gadamer sind wir Sklaven der eigenen Schöpfung geworden. Die Maschine drängt
uns auf eine Bahn, auf der es keinen Stillstand und keinen Schritt rückwärts
gibt. (818)
Nach dem
Konstruktionsakt der Maschine hat der Mensch außer An- und Abstellen keinen
Einfluss mehr. Die Maschine kennt kein Mitleid, keine nicht
einprogrammierten Modifikationen. (819)
Motoren und
Maschinen sind reine Bewegung: Jedes ihrer Elemente dient allein dieser
Funktion. Tommaso Marinetti sagt bereits vor dem Ersten Weltkrieg in seinem
futuristischen Manifest, dass die reine Bewegung der Maschine das Prinzip
der neuen Welt sei, dass Geschwindigkeit Schönheit und Gottheit spiegele.
Der ideale Mensch habe die Effizienz und Skrupellosigkeit einer Maschine.
Technik überböte an Kraft alles Dagewesene. Diese Gedanken wurden von Ernst
Jünger in Deutschland popularisiert und dann vom Faschismus ― mit einem
mythologischen Überbau versehen – als Menschenbild durchgesetzt. (820)
Die Maschine täuscht (in »mechane« ist
»Täuschung« enthalten). Es stimmt: Maschinen erweitern die Möglichkeiten –
aber nur in einem bestimmten Rahmen. Sind 1.000 Fernsehprogramme und
viertelstündliche Abflüge nach Stockholm vom nahgelegenen Flugplatz
Fortschritt – oder doch eine Täuschung? Nicht, weil die vielen Alternativen
in Wirklichkeit keine sind, sondern verdecken, dass sie alle strukturell
gleich sind. Sie täuschen Vielfalt vor – die allein in den Zeichen
existieren. (821)
Die heutigen Maschinen – so die These – sind
nicht Folge des Denkens, sondern Ursache für ein Denken, das sich auf
Maschinen-Denken reduziert. Das Leben hat keinen Platz mehr. Gehen und
Maschine sind inkompatibel. (822)
Vacuum
cleaner, das englische Wort für Staubsauger, drückt deutlich die Verbindung
von innerer Leere und Aggressivität nach außen aus. Die in sich leer
laufende Technik macht die Erde sich selbst gleich, reinigt sie leer ― auch
das Innere des Menschen bis auf das Wissen, das notwendig ist, dieses System
aufrecht zu erhalten. (823)
Faschismus ist
eine Megamaschine, zusammengeschlossen aus entfremdeter Arbeit. Die
Endgestalt der entfremdeten Arbeit ist die faschistische
Vernichtungsmaschine.[87]
(824)
Es wäre zu
einfach und verkürzend zu meinen, dass nur der falsche Gebrauch oder gar nur
der Einsatz in kapitalistischen Gesellschaften Maschinen destruktiv mache.
(825)
Die Technik
setzt ihre Herrschaft nahezu zwanglos durch. Alle sind dafür, nur dann
nicht, wenn man direkt von negativen Folgen massiv betroffen ist.
Grundsätzlich herrscht aber ein regelrechtes Kritiktabu denen gegenüber, die
aggressiv mit Hilfe von technischen Apparaturen ihre »Freizeitgestaltungen«
austoben. Motorradaufheulen, die ganze Stadtteile oder Landschaften
beschallen, Rennboote auf dem See und eine Rennstrecke entlang von
Gräberfeldern in der Sahara. Das ist eine Gefahr, weil eine falsche Idee von
Freiheit und Toleranz die Alltagsvernunft und die Alltagswelt zerstört.
(826)
Der Wunsch nach
Schnelligkeit, Bequemlichkeit, Abschirmung ist Rationalisierung, denn
dahinter steckt die Angst vor dem Anderen, dem Fremden, dem Lebendigen.
(827)
Die in der
Werbung wirkende Täuschung richtet sich beim Autokauf[88]
nicht so sehr gegen die Konkurrenz, sondern – so meine Vermutung ― gegen
lebendige Bedürfnisse, die im Auto nicht nur nicht befriedigt, sondern
verhindert werden. (828)
Es besteht die
Aufgabe in der Feinanalyse, die Auswirkungen der Mechanisierung unserer
Alltagsfunktionen auf unseren Körper und unsere Seele empirisch zu
bestimmen. (829)
Die Technik hat
den Menschen so zugerichtet, dass er diese Zurichtung nicht mehr bemerkt und
nicht reflektiert. Selbstverschuldete Unmündigkeit scheint also nicht der
Selbstreflexion zugänglich zu sein. Der Mensch ist (nicht »hat«) tendenziell
Technik. Identisches kann sich nicht selbst reflektieren, weil kein
Unterschied mehr vorhanden ist und damit nicht wahrgenommen werden kann.
Deswegen gilt zuallererst, die Kritik (krinein = unterscheiden) zu stärken.
(830)
Der Körper wird
der Maschine unterworfen und wird somit selbst zur Maschine. Es entsteht ein
geregelter Körper. Die Regeln stellt das Kapital bzw. die Logik der Waren
auf. (831)
Es ist ein
Irrtum zu glauben, wir beherrschen die Maschine bzw. das Auto. (832)
Theorie der
Moderne:
»Menschen, die einander nicht ins Gesicht sehen
können, verkörpern die nächste, überlegene Stufe der Evolution« – das
behauptet der Philologe Gary Westfahl[89].
Eine kluge Behauptung, die die Dominanz und Kraft abstrakten »Lebens« und
damit den Abschied vom Menschen plausibel macht. (833)
Die generelle Grundlosigkeit der Moderne liegt
auch im Verwertungsinteresse des Kapitals: Alles muss möglich sein, es gibt
keine vertikalen noch horizontalen Grenzen. In diesem Zusammenhang ist
übrigens zu fragen, ob die Kulturrevolution der 68er paradoxerweise auch
nicht viele neue Möglichkeiten für das Kapital eröffnet hat. (834)
Den Kaufrausch
kann man sich folgendermaßen erklären: Gebrauchsdinge bestehen aus
vorliegender Materie und inneren Bedürfnissen. Beim Kaufrausch (wie beim
Autofahren) dominieren Materie und Bedürfnisse, während das autonome,
geistige Ich zurückgedrängt wird. Materie ist, weil äußerlich, im Gegensatz
zum geistigen Besitz, grenzenlos. Im grenzenlosen Kaufrausch ist man daher
(fast) im Zustand der Geistlosigkeit. (835)
Fremdbewegung
in Form von technischen Systemen vermittelt Omnipotenz. Vielleicht verbirgt
sich dahinter die Hybris des Menschen, gottähnlich werden zu wollen. (836)
In der Warengesellschaft können alle Dinge,
Zustände und Situationen jeden guten und schlechten Wert annehmen. Sie
werden aber auf höherer Ebene prinzipiell gleichwertig: Der lebende Baum ist
nicht wertvoller als der Plastikbaum. (837)
Toleranz hat
sich verengt auf Waren. Waren sind nicht kritisierbar. Umweltzerstörende
Waren infrage zu stellen, wird als spießig und lächerlich interpretiert.
Aber die Ausblendung von Produktion und Konsum aus dem kritischen Diskurs
ist undemokratisch bzw. liegt einem Missverständnis von Demokratie zugrunde.
Marcuses Begriff der repressiven Toleranz ist aktueller denn je. (838)
Die Dominanz
des Autos und Fernsehens im Alltag kann auch mit Hegels
Herr-Knecht-Verhältnis beschrieben werden: Der Knecht wird zum Herrscher.
(839)
Die Moderne legt ihren Akzent auf Wirkungen (=
Rhetorik), nicht auf Verstehen von Wahrheit (= Hermeneutik). (840)
Die Moderne ist nicht an Subtanz, sondern an
Funktion interessiert. Das entspricht dem Verhältnis von Eigenbewegung zur
Fremdbewegung. (841)
Nach Hegel ist in der bürgerlichen Epoche die
Wirklichkeit bereits Prosa. Heute verengt sich diese Prosa nochmals auf
Arbeits-, Auto-, Fernseh- und Konsumwelt. Poesie kann man wiederum poetisch
als Sprache des Herzens, zumindest des schwer Sagbaren verstehen. (842)
Bewegung ist
die Moderne ― aber eben Fremdbewegung. (843)
Nach Walter Benjamin ist die Revolution eine
Bremse, nicht eine Lokomotive. Wir brauchen beides. (844)
In der
Tauschgesellschaft wird der Mensch gegenüber den Dingen teilnahmslos. (845)
Nach Villem
Flusser droht die Gefahr, dass die Heutigen schwerhörig für die Sprache der
Feldwege werden und diese nicht mehr betreten. So wird der Mensch zerstreut
und weg-los Die Natur ist nur noch Energiequelle für die Technik. Rechnendes
Denken ist kein sinnliches Denken, das über den Sinn nachdenkt, der in
allem, was ist, waltet. (846)
Empirisch
gesehen gibt es für uns moderne Menschen nur zwei Möglichkeiten: Entweder
wir führen ein virtuelles Leben oder wir werden selbst zu Maschinen. (847)
Die
»Hauptleistung« der schleichenden Ökonomisierung unseres Alltagslebens ist
die Umwandlung von Gebrauchswerten in Tauschwerte: Werte werden zu Zahlen.
(848)
Die Utopie des
Kapitalismus ist in der Regel falsch: Das Kapital hat als telos nicht das
Gute, Wahre und Schöne, sondern Gewinnvermehrung. Sollten die ersten drei
Ziele in dem einen oder anderen Fall erreicht werden, ist das Zufall. Das
Kapital ist eine Maßeinheit für Tauschwert und Besitz. (849)
Die
Informationsflut lässt die Frage nach der Bedenklichkeit (Heidegger)
unvermeidlich werden – wenn man nicht verblöden will. In Anbetracht der
ökologischen Katastrophe und des Verschwindens des Menschlichen ist
Heideggers Frage, ob wir nicht zu viel gehandelt und zu wenig gedacht haben,
bedenkenswert. (850)
In der Praxis,
im Alltagshandeln, sind wir Kartesianer: Natur ist lediglich res extensa, d.
h. reine, seelenlose Materie. Wir handeln neutral wie eine Maschine. (851)
Trend: Von der
Substanz zur Funktion, von Inhalten zu Formen. (852)
Bitterste Lehre
der Evolution, wenn man denn dafür ein Organ hat: Es gibt keinen Ort für
Verluste. Es bedarf deshalb eines Lexikons für das Verlorengegangene.
Kapital und Naturwissenschaften stehen für Vergessen, sie stehen für den
Lethe-Strom. (853)
Der Fehler der
Moderne besteht darin, die Welt als Struktur zu begreifen und Leben durch
die materielle Realisation dieser Strukturen zu ersetzen. (854)
Das Auto und
das Fernsehen sind die zwei großen Kontaktvernichter in der Moderne – ohne
dass dieses Opfer sich lohnte. Die damit zusammenhängenden Deprivationen
behindern die Entwicklung einer ganzheitlichen Intelligenz und
Emotionalität. (855)
Es bestehen drei Beschleunigungsfelder:
1. Beschleunigung in technischen Prozessen:
Transport, Kommunikation und Produktionsvorgänge. Transportgeschwindigkeiten
erhöhten sich um den Faktor 102,
Datenverarbeitungsgeschwindigkeit um 106 und
Kommunikationsgeschwindigkeiten um 107.
2. Verkürzung und Verdichtung von
Handlungsepisoden: Beseitigung von Pausen und Wartezeiten, exakte zeitliche
Planung, Multitasking (=Parallelverarbeitung verschiedener Aufgaben),
Arbeitsorganisation.
3. Beschleunigung des sozialen Wandels: Moden,
Wissen, Nachbarschaften, Intimbeziehungen, Berufe, Normen.
Diese
Beschleunigungen erzeugen eine Gegenwartsschrumpfung, d. h. das Heute
schrumpft, das Gestern und Morgen rücken immer näher heran.[90]
(856)
Eventuelle
Einwände werden oft mit der Erklärung wegrationalisiert, dass der Wandel nur
die Benutzeroberfläche beträfe, das darunter liegende Wesentliche ändere
sich nicht. (857)
Die
strukturellen Bewegungen des Kapitals erklären – zumindest teilweise – viele
der destruktiven »alltäglichen«, gewissermaßen bürgerlichen Verhaltensweisen
gegenüber der Umwelt und sich selbst: Dreistündiger täglicher Fernsehkonsum,
mehrmals am Tag mit dem Auto in weit entfernte Einkaufszentren fahren, mit
dem Rasenmäher alle 14 Tage sich und den Nachbarn möglichst bei Sonnenschein
ohrenbetäubendem Lärm aussetzen, mit Billigstfliegern zum Einkauf nach
London, an Silvester trotz Arbeitslosigkeit für 80 Euro Feuerwerkskörper
verpulvern. Wie kann man sonst dieses Handeln beschreiben und erklären?
(858)
»Je schneller
sich das Kapital bewegt, desto weniger Eigenbewegung« ist wahrscheinlich das
wirksamste Gesetz unserer Beschleunigungs-Gesellschaft. In der Wahrnehmung
und im Bewusstsein werden die Dinge entsubstanzialisiert, ein Prozess, der
uns auch selbst ergreift. Für den anderen Menschen wird man immer weniger
eine »Raum- und Zeitkonstante«, sondern zu etwas Flüchtigem, was wiederum
Rückwirkungen auf dessen Selbstbild hat. Wie in der Geschichte das Geld
zunehmend seinen konkreten Wert (Goldmünze) verlor und zur reinen Zahl
wurde, so auch die Dinge und Menschen in Raum und Zeit. (859)
Gebrauchswert
und Tauschwert sind kategorial verschieden. Der Tauschwert »frisst«
gegenwärtig jeden Gebrauchswert, aber der umgekehrte Prozess ist möglich –
das ist die Hoffnung, wenn auch gegen große Widerstände und mit großen
Anstrengungen verbunden. Daraus aber den Schluss zu ziehen, den Tauschwert
abzuschaffen (wie viele sozialistische Utopien es wollten), hieße, das Kind
mit dem Bade auszuschütten, denn eine komplexe Gesellschaft ohne Tauschwert
funktioniert schlicht nicht. Es geht also nicht um Abschaffung, sondern um
Grenzziehung und Modifikationen. (860)
Der
Verdinglichungsbegriff von Lukacs und Honneth ist fruchtbar für die
Eigenbewegung. (861)
Konsum gehört heute zum Reich der Arbeit. Jeden
Tag mehrmals mit dem Auto in die weitentfernten Großmärkte mit ihren
riesigen Parkplätzen zu fahren – vielleicht noch mit Kindern – ist Arbeit.
Gemeinsame Kriterien von Berufs- und Konsumarbeit sind: Zeitplan,
Mechanik, algorithmisierter Ablauf, Eliminierung von Zufällen,
Monofunktionalität, Berechenbarkeit. In beiden Arbeitsbereichen fehlen
tendenziell Zufälle, zweckfreie Gespräche, Spontaneität, Kreativität, die
Möglichkeit des Verlassens der vorgegebenen Ordnung, die Begegnung mit
sozialen Randgruppen. In beiden Bereichen werden immer mehr Menschen
berechenbar. Beleg: Wenn ein bestimmter Discounter etwas billiger anbietet
als die anderen, hat er neue Kunden gewonnen, unabhängig von der
Einkommensschicht. Ein »Befehl«, der nur noch mit Hilfe von Autos befolgt
werden kann. Die Preise steuern das Verhalten. (862)
Warum merken wir nicht, dass das, was die meisten
von uns lieben ― Auto, TV, Konsum ― Inhumanität und Unterforderung nach sich
zieht? Eine mögliche Erklärung wäre, dass wir keine Freiheit mehr aufgrund
eines (negativen) Zirkels haben: Es bleibt weder Zeit noch Raum für
Reflexion. Der homo consumentus hat seine Subjektivität, die auf Freiheit
beruht, verloren bzw. gar nicht erst erlangt. (863)
Wo die zweckrationale Zweite Natur herrscht,
verstummt die lebendige Erste Natur. Wer in der Zweiten Natur körperlich und
mental zu Hause ist, bemerkt nicht mehr den Krach der Rasenmäher, die
Verhässlichung der Städte oder das Verschwinden spontaner Kommunikation.
(864)
Das Wasser und die Luft sind eher Metaphern für Fremdbewegung, das
Land eher eine Metapher für Eigenbewegung. Strukturen aus dem Wasser sind
keine festen Objekte, die man klassifizieren kann, sondern es sind
flüchtige, vorüberstreifende Phänomene. Der Blick, der an den Dingen
vorübergleitet, notiert nicht mehr die Einzelheiten, er notiert
Wiederholungen, Rhythmen, Strukturen, Muster, Funktionen, Differenzen. Es
ist so, als ob man Wolkenbilder während eines Sturms betrachtet. Dinge auf
dem Land (der Baum, das Reh, das Haus) haben feste Konturen, für die
Wahrnehmung unveränderliche, eindeutige Grenzen. Wir haben es offensichtlich
mit zwei Wahrheiten zu tun: mit Offenem und Geschlossenem. (865)
Die geringe Wertschätzung der Eigenbewegung hat
vielfache Ursachen. Eine schwer zu erkennende, aber nicht weniger wirksame
Ursache liegt im erkenntnistheoretischen Bereich. Dabei geht es um die
Revolution des Ich-Begriffs, der mit der Moderne einsetzt. Der
Künstler legt die Fundamente für die erkenntnistheoretische Dominanz der
Ersten Person. Er vermag, sein zufälliges individuelles Sein abzustreifen
und sich in Allgemeines, Überpersönliches zu überhöhen. Das Leben wird zum
bildsamen Material, wird bio-graphisch, zu einem Kunstwerk selbst. Nicht das
Ideal der Individualität, sondern Dividualität ist das, was das Selbst
ermöglicht. Ein Ich-Begriff, der sich in seiner Dekomposition, in seiner
Form und Wandelbarkeit erhält. Das Ich wird zu einem randlosen Fluss, d. h.
die Kohäsion des Selbst löst sich auf. Eine Folge ist, dass die
Zentralperspektive überflüssig wird, sie verschwindet und damit auch Raum
und Zeit. Das kann man sehr deutlich in der Malerei Turners erkennen: Die
Natur ist nichts Festes, womit die Logik des Augenscheins ihre
Überzeugungskraft verliert.[91]
Die Herrschaft der Zeichen beginnt. Wenn es kein Land, keine Dinge an sich
mehr zu entdecken gibt, ist Extrovertiertheit funktionslos. Warum also noch
gehen? (866)
Der Warenmensch
ist ein codierter Kodierer, der allerdings die eigene Kodierung nicht
bemerkt. (867)
An die Stelle
der ontologischen Kategorien wie Sein, Realität, Wirklichkeit, Beständigkeit
treten jetzt ästhetische Zustandskategorien wie Schein, Beweglichkeit,
Funktion, Bodenlosigkeit und Schweben. Zum Menschsein gehört beides: das
Besondere (Sinnlichkeit, Konkretion) und das Allgemeine (Geist, Begriff,
Abstraktion), also Eigenbewegung und Begriffslernen. (868)
Die große
Mehrheit der Bevölkerung hat sich in der Auto- und Fernsehwelt eingerichtet
und darin ihren Frieden, ja subjektives Glück gefunden. Wünsche bestehen nur
noch in einem »Mehr« innerhalb dieser Konsumsphäre. (869)
Bewegung
ist wesentlich ein zeit-räumliches Phänomen. Das Kontinuum der Bewegungen
kann als Abfolge aufeinanderfolgender Bewegungszustände zerlegt werden, so
dass die Zeit in der Bewegung gewissermaßen räumlich und damit sichtbar
wird. Diese wohl auf Zenon zurückgehende Dekonstruktion der Bewegung führte
zur Entdeckung der verräumlichten Zeit. In der filmisch festgehaltenen
Bewegung kann so der Raum über die Zeit beispielsweise als Verlangsamung
oder Beschleunigung manipuliert werden. Damit ist prinzipiell eine
Entwertung des Raumes verbunden, wie sie sich in der hohen Wertschätzung der
Zeit als knappes Gut ausdrückt. (870)
In der
warenorientierten Gesellschaft dominiert der flache Sinn, tiefere Gedanken
haben keinen Platz und keine Zeit. Diese Flachheit ist eine notwendige
Ursache dafür, ständig Auto fahren zu müssen. (871)
Sogenannte
Naturkatastrophen sind, genau besehen, heute oft von Menschen verursacht
wie das Bauen in Flußauen oder an lawinengefährdeten Abhängen oder eben der
Klimawandel. (872)
Im Auto
verdichten sich strukturell und inhaltlich gesehen die negativen Momente der
Moderne: Egoismus, Grund-, Geschichts- und Traditionslosigkeit,
Verabsolutierung des Neuen, Rückbildung gelebter Menschlichkeit,
Bewegungsmangel, Aufgabe der Verantwortung gegen sich selbst und Welt,
schlechte Abstraktion, Destruktion und Aggression, großer Raum- und
Energieverbrauch, Kommunikationslosigkeit, hermetische Abgeschlossenheit,
Bequemlichkeit, aber auch positive Momente wie Vergrößerung der
Möglichkeiten zum Helfen mit Kranken- und Feuerwehrwagen oder um größere
Distanzen zurückzulegen, die nur allein mit dem Auto bewältigt werden
können. (873)
Stimmt leider
nicht mehr: Amerika steht für Autofahren, Europa für Gehen und öffentliche
Verkehrsmittel. (874)
Das Auto mit
seinen entsprechenden Infrastrukturen und Regeln ist Teil der Gesellschaft,
normativ bereits ihr Paralleluniversum. (875)
Das Ich wird
zunehmend in Begriffen des Autos gedacht: Geschwindigkeit, Preis, Glanz des
Äußeren, Erreichbarkeit wären einige gemeinsame Merkmale, so dass, wer diese
am Auto kritisiert und negiert, gleichzeitig Menschen kritisiert. Das könnte
der tiefste Grund der Abwehr von Kritik am Auto sein. (876)
Dass der Raum
ein Sonderfall der Zeit ist, ist die oft verschwiegene Grundüberzeugung der
Moderne. Deswegen verliert der Raum auch in der Praxis seinen Selbstwert und
seine Existenz. (877)
Auto und Fernsehen vergrößern ständig die
Oberflächenwahrnehmung auf Kosten der Tiefe. (878)
Auto und
Fernsehen ermorden (im Sinne Heines) den Raum, indem sie ihn
desubstanzialisieren, ihm seine Wirklichkeit nehmen und ihn zum Schein
machen. (879)
Das Auto steht
im Mittelpunkt der Gesellschaft und Wirtschaft, weil es auf materieller
Ebene die wirkungsmächtigste Variable ist. (880)
Die Moderne
will Zufälle ausmerzen, so dass geschlossene Systeme entstehen. (881)
Es geht um
zweierlei Zerstörung: a) die des Körpers, Geistes und der Seele und b) um
die Zerstörung von Erfahrungsräumen. (882)
»Alle schnellen
Dinge sind Verrat« (Jean Gebser). (883)
Das Kapital ist
der einzig übriggebliebene Wertegenerator, was nicht bemerkt wird, so wie
wir die Schwere der Luftsäule nicht wahrnehmen. (884)
In der
Warenwelt sind die Menschen atomisiert, so dass das Kapital sich in diesem
sozialen Vakuum mit seinen Produkten einnisten kann, ja muss. (885)
Sieg der
rationalen Lebensführung, die vom Kapital definiert wird. Das ergibt den
Fachmenschen ohne Geist, den Genussmenschen ohne Herz (Max Weber). (886)
Wir leben in
einer eindimensionalen Gesellschaft, Konsum ist heute eine ontologische
Kategorie. (887)
Die Geschichte
der Moderne ist ein Prozess fortschreitender Mobilisierung, die einen
»rasenden Stillstand« erzeugt (Paul Virilio). (888)
Durch Bewegung
entsteht Verflüssigung. Es gibt nichts Festes mehr, aber die Muster bzw. die
Ideen sind fix. Beide Zustände werden durch die Zeichen repräsentiert: Sie
sind absolut beweglich und gegenseitig austauschbar, aber als System nicht
aufhebbar und damit in ihrer Herrschaftsfunktion unangreifbar.[92]
In der Moderne wird tendenziell alles zum Zeichen und damit zum Mittel: das
Auto, die Stadt, die Landschaft, tendenziell auch die Menschen. Dinge
interessieren nicht mehr an sich, sondern nur noch als Zeichen. Man verlernt
das Wahrnehmen im eigentlichen Sinne, denn das Wahrnehmen von Zeichen ist
sehr einfach. Gehen ist ein Zustand, in dem die Zeichen ein Stück an Macht
verlieren und die Wirklichkeit (mehr) zu ihrem Recht kommt. (889)
Verhässlichung der Welt:
Es muss eine
Ästhetik (im Sinne von aisthesis) für das Hören von Alltagsgeräuschen
und für die anderen Sinne entwickelt werden, damit ein Bewusstsein für die
Wunden und Beleidigungen des Ohres, der Augen und der Nase entsteht. Man
würde dann das Motorrad stehen lassen, ja vielleicht verschrotten –
verkaufen wäre kein Fortschritt. (890)
In
Eigenbewegung ist Schönheit. Diese Art der Schönheit verschwindet aus dem
Alltag und überlebt als Schattendasein und Inszenierung wirkungsmächtig in
den Bildern des Fernsehens und der Werbung. (891)
Ästhetisierung
bedeutet grundsätzlich, dass Nichtästhetisches ästhetisch gemacht oder als
ästhetisch begriffen wird. Wenn traditionelle Ästhetik auf alle Gebiete
ausgedehnt wird, entsteht schlechter Geschmack. Entwirklichungsprozess und
Ästhetisierung verlaufen fast notwendig parallel. Ohne Ästhetisierung werden
aus der entwirklichten Wirklichkeit nach Auffassung von immer mehr Menschen
unwirtliche Orte. Wie will Recklinghausen gegen die Hochglanzfotos von
Recklinghausen ankommen? (892)
Mit Wörtern ist
der gegenwärtigen Gesellschaft nicht beizukommen. Man bewirkt nichts, wenn
man nicht primär Bilder einsetzt. Wirklichkeit und das Bewusstsein werden
zunehmend ästhetisch. Ästhetik (Lifestyle) ersetzt Ethik und Logik (im Sinne
von logos). (893)
Materiell gesehen wandert die Schönheit aus den Städten und
Dörfern in die Autos. Erstere werden immer hässlicher, letztere immer
schöner (und damit teurer). Das Auto ist einerseits eine Art Staubsauger,
der Schönheit in sich aufsaugt, andererseits eine Art Ventilator, der
Schmutz ausstößt. Dagegen steht die Schönheit von autofreien Zonen, wo
Menschen in Eigenbewegung die öffentlichen Räume füllen. Hier gibt es noch
Augen-blicke, das heißt zwei Menschen sehen sich zufällig in
Wechselseitigkeit in die Augen (und von dort in die Seele?). Erst jetzt
kommt der Andere als ganzer Mensch in das innere Blickfeld. Was geschieht
mit Kindern, die ohne diese Augenblicke aufwachsen müssen? (894)
Autos, zumindest im inflationären Plural,
erzeugen Hässlichkeit. Auch der in kauernder Haltung gefesselt sitzende
Mensch verliert an Schönheit, denn diese offenbart sich primär in der
Eigenbewegung. (895)
Die
Verhässlichung der Welt und größtmögliche Mobilität unter Aufgabe der
Eigenbewegung sind zwei Seiten desselben Prozesses. Je stärker diese
Destruktion wird, desto ästhetischer werden die Autos und die entsprechende
Werbung. (896)
Herrschaft wird
häufig durch Ästhetik gefestigt und legitimiert. Eigenbewegung zerstört von
der Möglichkeit her am ehesten den Schein, zumal sie sich nicht auf eine
bestimmte Perspektive festlegen lässt, so dass eine eigene, subjektive Welt
entsteht. (897)
Vernunft hat
viel mit Ästhetik und Ethik zu tun. Hässlichkeit ist das Falsche und das
Unvollständige. Vernunft heilt. Wenn die inhaltliche Vernunft wirksam wäre,
gäbe es weder Hässliches noch Böses. Der Individualverkehr und seine
Strukturen sind unästhetisch und unethisch gegenüber Umwelt, Mitmenschen und
Fahrer. (898)
Autobahn- und
Straßenbau bewirken immer Verhässlichung, während Häuserbau beide
Möglichkeiten, Verschönerung oder eben Verhässlichung, nach sich ziehen
kann. (899)
Die Autos
saugen die Ästhetik der Umwelt auf. Als Bild: das glanzvolle, teure Auto auf
der Ausfallstraße mit ihren heruntergekommenen Häusern. (900)
Es wäre eine
Aufgabe, die Bedeutung des Autos in moderner Literatur und in Filmen
empirisch zu untersuchen. (901)
Vermessung
– Zahl, Logik, Kausalität:
Beispiele für die Dominanz der Zahl: der
Rangplatz seines Clubs, in der Auseinandersetzung die Reduzierung auf Sieg
oder Niederlage, bei Motoren Geschwindigkeit, Drehzahl. Die Zahl ersetzt den
Gegenstand oder das Ereignis. (902)
Wenn Handeln sich nach Zahlen ausrichtet,
verliert es ein Stück an Freiheit. (903)
Die Seele und
die Freiheit kann man nicht messen; tut man es trotzdem, entsteht
Verdinglichung. Einen Spaziergang zu messen, wäre solch ein Widerspruch.
(904)
Wir vermessen
zunehmend die Welt, vermessen im weitesten Sinne verstanden. Ein Bekannter
erzählt uns von seiner Reise in die Vereinigten Staaten, die Hinfahrt mit
der »Queen Mary 2«und zurück mit dem Flugzeug für 1.000 Euro. Jede
Einzelheit bringt er mit diesem Preis in Verbindung, so dass offensichtlich
der Preis, nicht die Reise selbst und das Erlebte das eigentlich Wertvolle
sind. Ein anderes Beispiel: Ich (BM) versuche für die Musical-Menschen (als
Metapher für Verlust von Hochkultur) Daniel Kehlmanns Buch »Die Vermessung
der Welt« interessant zu machen und verweise dabei auf die
Spiegel-Bestsellerliste, weiche also auch auf die Zahl aus. (905)
Auch das Messen
ist eine Konstruktion, weil der Maßstab (ein Meter, ein Minute, ein Gramm
usw.) eine absolute Setzung ist. Der Urmeter hat den gleichen ontologischen
Status wie Elle, Fuß usw. Deswegen gibt es keinen notwendigen Grund für die
subjektive Zeit des Gehens, sich der objektiven Zeit der Uhr zu unterwerfen.
(906)
Wenn man misst,
interessieren einen die Sachen nicht mehr. Ich polemisiere hier nicht
gegen das Maß an sich, da es mehr als eine Äußerlichkeit ist, nämlich
Konstituierendes. Polemisiert wird hier gegen die Zahl. Das Maß ist
innerlich, die Zahl äußerlich. (907)
Das Wort und
erst recht die Zahl überwinden die Fremdheit und Wildheit der Natur – Wort
und Zahl sind scheinbare Wahrheiten. Sie ermöglichen eindeutige Erklärungen
und Prognosen. Aber es gibt auch Bereiche, in denen die Zahl keine
wirklichen, essentiellen Informationen enthält. Die Zahl dominiert in
unserem Denken, Fühlen und Handeln, ohne dass wir es merken. Zahlen sind die
wirklichen Herrscher. Wenn das erst einmal erkannt wird, verlieren sie ihre
Macht und werden, wenn selektiert, zu sinnvollen und notwendigen
Orientierungen. (908)
Falsch
verstandene Wissenschaft denkt nicht, sondern rechnet nur. Falsch
verstandenes Leben bewegt sich nicht, sondern sieht nur auf den Tachometer.
(909)
Um zu messen,
musste etwas erfunden werden, was es (empirisch) nicht gibt, nämlich die
Maßeinheiten »Meter« und »Stunde«. So auch die Einheiten der rationalen
Mathematik. Maschinen haben den gleichen ontologischen Status wie das
Metermaß. Sie sind vollkommene Neukonstruktionen ohne jegliche äußere
Entsprechung. Maß, Zahl, Gewicht, Begriff sind Konstrukte, die wie ein Netz
(das so, aber auch anders hätte ausfallen können) über die Welt gelegt
wurden. Wenn diese Konstruktionen als Natur genommen werden, fängt das große
Missverständnis an. Kunst und Poesie sowie Eigenbewegung haben eine größere
Chance, Natur zu erahnen. (910)
Naturwissenschaften in Vulgärform und große Bereiche gesellschaftlicher
Praxis verabsolutieren Kants »Kritik der reinen Vernunft«, die ja die
Leistungen und Grenzen des Verstandes, nicht der Vernunft thematisiert. Hier
werden den von der Materie stammenden Sinnesreizen abstrakte Strukturen
unterlegt, die Kant im Wesentlichen der Physik Newtons entnommen hat. Die
Welt wird daher zwangsläufig, gewissermaßen als Zirkelschluss mathematisch.
Nach diesem Zahlenbild wird Technik realisiert. Für das Leben gibt es in
diesem System keine Kategorien. In der gesellschaftlichen Praxis findet
entsprechend eine Reduzierung der Welt auf Preise hin statt. (911)
Die Kausalität
bietet Vorteile wie Berechenbarkeit und Verlässlichkeit (idealiter wie
Naturgesetze) und Nachteile wie prinzipielle Abwesenheit von Liebe, Mitleid,
Ausnahmen, Freiheit. Kurz: die Kausalität hat keine Werte außerhalb ihrer
selbst. (912)
»Wahre« Werte
existieren nur noch als Ordnungszahlen in Form von Charts, Tabellen,
Rangplätzen, Bestsellerlisten ― oft in greller Ausprägung. Der Unterschied
ist hier das Entscheidende, nicht die Substanz der einzelnen Einheiten.
(913)
Wenn Preise
sich verabsolutieren, verschwinden die Dinge. (914)
Vermessung der
Welt ist eine besondere Bestimmung von Welt. Preise sind eine Sonderform des
Messens. Wirklichkeit löst sich in Zahlen auf. Man verfolge nur Gespräche im
Alltag und im Urlaub. Zahlen beziehen sich aber (fast) immer auf Inhalte.
Deswegen hat diese Art von Aussagen den Charakter von Vexierspielen: Der
eine hört den Inhalt, der andere die Zahl. (915)
Aus
Gebrauchswerten werden Tauschwerte, die in Geld ausgedrückt werden, wobei im
Geld alle Qualitäten der Dinge getilgt sind. Es gilt nur noch die reine
Zahl. So verhält es sich auch mit Eigen- und Fremdbewegung. Wandere ich, ist
der Weg das Interessante, fahre ich mit dem Auto, ist der Weg nur ein zu
überwindender. Der Raum zwischen Hamburg und Hannover wird zur reinen
Kilometerzahl (150 km) oder Zeitangabe (80 Minuten). Wenn immer mehr Dinge
einen warenmäßigen Tauschwert, der von der Zahl dominiert wird, annehmen,
hat das Folgen für unser Bewegungsverhalten: Wir bestimmen unsere Bewegungen
aus der Perspektive der Waren, so dass wir in dieser Beziehung identisch mit
ihnen werden. (916)
Schlechter
Geist : die Ver-Preisung der Welt. (917)
Autobahnen
verkörpern Homogenität und damit Verlust der Besonderheiten: Diese
Homogenität greift auch auf die Wahrnehmung und die Bewusstseine über. (918)
Wo
materialisierte Kausalität, also Technik, dominiert, verschwindet die
Freiheit. (919)
Täglich erfuhr
man aus den Medien die genaue Anzahl von Autos, die in den Banlieues
Frankreichs angezündet wurden. Zahlen ersetzten zunehmend die Inhalte und
die realen Prozesse. Die Vermessung der Welt definiert die Probleme und
führt sie einer entsprechenden Lösung entgegen. (920)
Es müssen die
realen gesellschaftlichen Kräfte analysiert werden. Wer ist auf der Seite
der Fahrradbenutzer und der Fußgänger, wer auf der Seite der Autofahrer und
Autoindustrie? (921)
Widerstand:
Der Übergang
von Eigenbewegung zur Fremdbewegung hat die ganze Erde erfasst (China wird
gerade automobilisiert). Alle Kulturen werden tendenziell auf das Modell der
westlichen Industriegesellschaft hin ausgerichtet – und die traditionellen
Kulturen überleben nur noch als Folklore für Touristen. Ich denke, die
einzige realistische Widerstandsform ist ein globalisierter Widerstand, der
alle nicht notwendige Technik ablehnt. Das setzt natürlich wieder Technik
voraus und bildet grundsätzlich ein Paradoxon. Isolierter nationaler oder
regionaler Widerstand ist schwierig, wenn nicht unmöglich, auf längere Zeit
durchzusetzen, da offensichtlich die Majorität der Bevölkerung diese
technikkritische Position ablehnt. Sie ist der Faszination der Warenwelt
unterlegen. Diese Position richtet sich nicht gegen die Globalisation,
sondern gegen ihre destruktiven Anteile. (922)
Die
gegenwärtige Dominanz der Fremdbewegung insbesondere durch das Auto hat
sicherlich sehr viel mit Warenbewusstsein zu tun. Klugheit, Aufklärung,
utopisches Vermögen, Modell, List sind nötig, um diese zementierte
Herrschaft zu brechen. (923)
Autokritiker
müssen internationale Netzwerke gründen. (924)
Autowahn ist
kollektiver Wahn, der momentan in höchster Intensität die Gesellschaft
erfasst hat. Es wäre naiv zu glauben, das relativ schnell ändern zu können.
Der lange Atem ist gefragt. (925)
Ideologien im Sinne von falschem Bewusstsein
(insbesondere Werbung) sollte man gegen den Strich lesen. (926)
Zwischen 1970
und 1985 hatte Autokritik eine Chance, gehört zu werden. (927)
Ich bin zu egoistisch, um ohne Notwendigkeit Auto
zu fahren, d. h. mich festschnallen und täuschen zu lassen. (928)
Zwei Drittel
der Großstadtbewohner fühlen sich vom Straßenverkehr und Verkehrslärm
genervt und 64% der Stadtbewohner würden auf Autofahrten in der Innenstadt
verzichten. (929)
Freies Wendland
war eine der letzten Gegenwehren. (930)
Der Missbrauch
von Auto und TV ist der Knackpunkt. Ihn abzustellen ist vorrangig eine
individuelle und politische Aufgabe. (931)
Im Autofahren
und in den vom Autoverkehr geschaffenen Strukturen ist eine ungeheuer große
Zerstörungsgewalt enthalten, die bei weitem nicht angemessen analysiert und
auf den Begriff gebracht worden ist. Nicht Erkennen, sondern Verdrängen und
falsches Bewusstsein sind hier dominant. Daraus ergeben sich folgende
Aufgaben: Deutlich machen, dass das Auto nicht naturwüchsig und
schicksalhaft auf uns gekommen ist, sondern auch anders genutzt bis negiert
werden kann. Es gilt, Freiräume für konstruktiv-humanes Denken in diesem
Bereich zu eröffnen. (932)
Mein Beitrag
soll helfen, das Nicht-Seiende, das Utopische zu denken und eventuell zu
wollen ― den Individualverkehr aus seiner scheinbaren Naturwüchsigkeit zu
befreien. (933)
Ziel: Dem
Bürger Entscheidungen in Freiheit zu ermöglichen. (934)
Verhindern,
dass das Leben durch Totes, insbesondere durch Waren ersetzt wird. (935)
Ich bin
kritischer gegen TV und Auto als die meisten Bildungsbürger oder als die
»punktuelle Kritik«, die nicht den Schritt zu einer generellen Kritik wagen.
Diese fürchten, als konservative Kulturkritiker diffamiert zu werden. (936)
»Ich will nur
dann mit dem Auto fahren, wenn es unvermeidbar ist«. (937)
4. Begründung für das Fehlen eines normativen
Vermittlungskapitels
Problematik der Zukunftsbestimmung
Konkrete und umfassende Entwürfe für eine
zukünftige Gesellschaft sind wegen der hohen Komplexität dieser Aufgabe
unmöglich. Genau das ist gemeint, wenn vom Abschied der großen Geschichten
gesprochen wird. Ein solches Vorhaben ist aber auch unethisch, weil in
diesen Bestimmungen auch immer massive Momente der Fremdbestimmung enthalten
sind. Diese Tatsache genügt schon, um von einem solchen Vorhaben abzusehen,
heißt aber nicht, auf die Gestaltung von Zukünften zu verzichten.
Die strikte Trennung von Gegenwart und Zukunft
ist nicht möglich. Zukunftspotenziale, gute und schlechte, liegen in der
Gegenwart der jeweiligen Gesellschaft. Da die gesellschaftliche Entwicklung
nicht naturwüchsig abläuft, müssen diese Potenziale als Werte bewusst
gemacht, demokratisch diskutiert und die wünschenswerten realisiert werden.
Ich denke, dass wir unter politischen und wirtschaftlichen Bedingungen
leben, die viel mehr Möglichkeiten der Humanität und der Umsetzung zulassen,
als realisiert werden.
Ich bin für ein evolutionäres, nicht für ein revolutionäres Vorgehen:
Etwas verändern und schauen, was es in Menschen (und Strukturen) bewirkt.
Wenn als förderlich bewertet, dann den nächsten Schritt tun. Aber notwendige
Schritte müssen gemacht werden.
Dahinter steht die Überzeugung, dass die Summe dieser Schritte, wenn
von immer mehr Menschen befolgt, zu positiven Entwicklungen in der
Gesellschaft führt. Wie diese im Einzelnen ausfallen sollen, darüber können
und dürfen keine Aussagen gemacht werden. Stattdessen mögen sich die Bürger
selbst auf den Weg machen. Grundsätzlich müssen die Betroffenen selbst, Du
und ich, ihre eigene Zukunft entwerfen und verwirklichen.
Die Utopie liegt im konkreten, jetzt lebenden Menschen – oder eben
nicht bzw. wird nicht aktiviert. Utopie als telos wird in der Gestaltung des
konkreten Lebens wirksam, das gegebenenfalls ein Stück den Mainstream
verlassen muss.
Die relative Abstinenz von konkreter Zukunft darf aber nicht die Werte
erfassen – im Gegenteil, sie sind das Ausgangsmaterial, das bedacht,
diskutiert und abgeleitet zu notwendigen Veränderungen führt. Aussagen wie
Region statt Nation, small statt big, selbst machen statt machen lassen,
direkte statt indirekte Kommunikation, Selbstbestimmung statt
Fremdbestimmung und eben auch Eigenbewegung statt Fremdbewegung. Dass dieses
»statt« kein absolutes ist, sondern nur eine Akzentuierung in der
gegenwärtigen Situation (und morgen bereits wieder eine andere sein kann),
ergibt sich allein aus dem Begriff des Lebens.
Alle diese Überlegungen gelten auch für einen
grundsätzlichen Wandel der Mobilität, denn diese hätte Auswirkungen auf
viele andere gesellschaftliche Felder, so dass man auch hier die
Gesellschaft als Ganze thematisieren müsste.
Voraussetzungen und Strategien zur Verwirklichung
der Zukunftspotenziale und Werte für Eigenbewegung
Das Bestehende, hier die gegenwärtige
Mobilitätsstruktur, hat es in der Regel leichter, sich zu erhalten bzw.
erhalten zu werden als Wünschenswertes zu realisieren. Dass also der oben
geforderte grundlegend notwendige Einstellungs-, Handlungs- und
Politikwechsel bei den gegenwärtigen individuellen und gesellschaftlichen
Bedingungen keine große Chance in der Umsetzung hat, ist unbestritten, aber
kein hinreichendes Argument, es nicht zu versuchen, und sei es nur im
eigenen Verhalten. Im schlimmsten Fall gehört man dann zu den wenigen, die
die positiven Möglichkeiten der Eigenbewegung nutzen.
Das Ensemble von Wahrnehmen, Denken, Fühlen,
Bewerten, Sprechen und Handeln eines Menschen nennt Pierre Bourdieu
»Habitus«. In ihm sind die Normen und gesellschaftlichen Bedingungen und
Anforderungen inkorporiert. Dieser Habitus erklärt auch, warum die
Beherrschten freiwillig zur Aufrechterhaltung von repressiven Verhältnissen
beitragen. Auch verfügt er über eine große Erklärungskraft gerade in Bezug
auf die Fremdbewegung und dort insbesondere auf den Gebrauch des Autos. Es
ist bekanntlich »das liebste Kind« der Deutschen. Ein berühmter Fußballer
hat sich gerade medienwirksam ein Auto für mehrere hunderttausend Euro
gekauft mit der Begründung, er habe ja sonst kein Hobby. Es bedarf wohl
keiner weiteren Aussagen und Beispiele, um die irrationale Verankerung des
Autos zu belegen. Ich vermute, dass rationale Aufklärungsstrategien allein
nicht weiterhelfen – ähnlich wie bei den Anti-Raucher-Kampagnen. Stattdessen
muss auch hier ein Habitus von den Menschen gefunden und realisiert werden,
der aber dann durch Präferenzen für Eigenbewegungen und Kritik gegenüber der
Fremdbewegung geprägt ist. Wie aber zu diesem Habitus gelangen? Sicherlich
gibt es auch hier keine Kausalität, deren Einhaltung mit Sicherheit zum
Gewünschten führt.
Neben
Aufklärung, finanziellen Anreizen, Vorbildern usw. scheinen mir
»Auswilderungsmaßnahmen« unverzichtbar zu sein. Was ist damit gemeint? In
Analogie zur Auswilderung von Greifvögeln, die in Gefangenschaft
aufgewachsen sind, muss der Autofahrer auch wieder an die Eigenbewegung
herangeführt werden: Eine Firmenabteilung lässt eine Woche das Auto stehen,
es bildet sich aus Nachbarschaften eine Selbsthilfegruppe, das gutgehende
Hotel nimmt nur Gäste auf, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen,
die Stadtverwaltung vergrößert autofreie Bereiche, Kinder werden zur Schule
nicht mit dem Auto gefahren. Begleitend werden »Nachhilfen« angeboten, die
über die Schönheit und Sinnhaftigkeit der Eigenbewegung informieren. Das
könnten Vorträge, Führungen zu Verkehrsbrennpunkten, aber auch
verkehrsberuhigte Stadtteile bis hin zu Werbetafeln und entsprechenden Fotos
und Informationen in Zeitungen sein. Die Vorträge könnten übrigens für Raser
zur Pflichtaufgabe gemacht werden. Last but not least ist natürlich das
Vorbild das wichtigste Medium.
Das Entscheidende besteht darin: Statt mit naturwüchsiger
Selbstverständlichkeit ins Auto zu steigen, mit gleicher
Selbstverständlichkeit zu Fuß zu gehen, das Rad zu benutzen oder mit
öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren und das Auto lediglich als letzte
Option offen zu halten mit der Folge, im Jahr unter 3.000 Kilometer gefahren
zu sein. Hat man erst einmal seinen Bewegungs-Habitus von Fremdbewegung auf
Eigenbewegung umgestellt, dann hat man auch gefühlsmäßig gelernt, dass
Autofahren keinen Spaß bringt, sondern eine Belastung ist.
Es geht um ein Leben, das Eigenbewegung und
Sinnlichkeit ermöglicht und damit Humanität und Natur fordert und fördert,
es geht um eine Bildung, die gegen innere und äußere Zwänge frei macht.
Bildung muss auch Metabildung einschließen, um die eigene Situation und
Gewordensein reflektieren zu können. Freiheit von den Trieben und
gesellschaftlichen Zwängen ist die Bedingung für autonomes Denken und
Handeln, auch utopisches.[93]
Das gilt im Allgemeinen und im Besonderen für die Freisetzung der
Eigenbewegung. Die alltägliche Praxis in der konkreten Lebenswelt ist
Fundament und Nährboden für gute Bildung, aber auch für schlechte
»Unbildung«. Gute Bildung ist vielfältigste Begegnung eines lebendigen und
wachen Leibes in der natürlichen Haltung der Neugierde, denn ein Mensch kann
nicht nicht lernen. Deswegen greifen alle Bemühungen zu kurz, die
Bildung isoliert nur mit schulartigen Institutionen und Medien in
Zusammenhang bringen. Es geht zuallererst um einen Einstellungswechsel, der
natürlich durch angemessene Strukturen unterstützt und gefördert wird. Hier
liegt übrigens ein großes Forschungsfeld vor, z. B. zu untersuchen, warum
der Fahrradtourismus expandiert.
Eine Werte-Graphik als Orientierungshilfe
Die folgende Graphik versucht, eine
Wertehierarchie von alltäglichen Tätigkeiten (als Beispiele) mit
unterschiedlichen muskulären und neuronalen Anteilen und
Mischungsverhältnissen aufzustellen, um eine erste wertende Groborientierung
zu ermöglichen, wohl wissend, dass bestimmte Ausprägungen einer Tätigkeit
diese Hierarchie problemlos unterlaufen können. Wenn ein Handwerker ein
schwieriges technisches Problem löst, nimmt er eine andere Position in
diesem Koordinatensystem ein, als wenn er eine Routineaufgabe durchführt. Es
geht also um Durchschnittswerte.
Auf der Y-Koordinate ist die neuronale Aktivität
von Wahrnehmung über Ahnen, Fühlen bis hin zu Verstand und Vernunft, auf der
X-Koordinate ist die Intensität der muskulären Tätigkeiten von Buchseiten
umblättern bis hin zum Leistungssport eingetragen. Immer liegen
Mischungsverhältnisse vor, allerdings in unterschiedlichen Anteilen. Obwohl
ich versuche, in der Resultante optimale Prozesse wie Museumsbesuche oder
reflektierte Praxis aufzuzeigen, vermute ich, dass »Spitzenleistungen« immer
einen Schwerpunkt in einem der zwei Systeme haben, wobei das andere System
aber auch »wach« ist. Das gilt für den Fußballspieler ebenso wie für den
Denkenden in entscheidenden Situationen. Umgekehrt sind Aktivitäten, die
sowohl im unteren muskulären als auch im unteren neuronalen Bereich
angeordnet sind, verdummend und abschlaffend. Wenn ich hier wiederum
Fernsehen und Autofahren nenne, dann sind diejenigen Sendungen und
Autofahrten gemeint, die in der täglichen Alltagsroutine ablaufen.
philosophieren
arbeiten mit Unbekanntem
intensiv
Sachbuch durcharbeiten
Praxis verwirklichen und reflektieren
gutes Gespräch führen ein Museum besuchen
N
E
in interessanter Umwelt spielen
U
R
aufmerksames Wandern
O
N
Handwerk
A
L
am Fließband arbeiten
»alltägliches« Fernsehen und Auto fahren
Fußball spielen
0
intensiv
MUSKULÄR
Kernaussagen
1. Es geht um die Stärkung des Lebens, der
vita activa, der Selbstkonstruktion, der Aneignung von »wirklicher
Wirklichkeit« – es geht um die Einheit von Mensch und Umwelt.
2. In der Eigenbewegung ist ein hohes
Potenzial an Freiheit enthalten
3. Nur in der Eigenbewegung entsteht und erhält sich Heimat
und Urbanität. Wer geht oder Rad fährt nimmt wahr und wird
wahrgenommen, d. h. ist sichtbares Teil des Ganzen.
4. Im Mittelpunkt soll Eigenbewegung in
natürlichen, sozialen und kulturellen Alltagswelten stehen und erst sekundär
Sport und Bewegung in pädagogisch gestalteten Situationen wie Spielplatz,
Schulhof oder Turnhalle.
5. Es geht nicht um Eigenbewegung an sich
wie im Sport, sondern um die Einheit von Eigenbewegung und jeweiliger
Umwelt, wobei die Umwelt ein Lernort im weitesten Sinne ist.
6. Eigenbewegung umfasst hier
Ortsveränderungen mit ausschließlicher Hilfe von Eigenenergie. Deswegen
gehört das Radfahren auch zur Eigenbewegung.
7. Fernsehen und Buch lesen sind wie das
Auto Kontaktvernichter – aber mit sehr verschiedenen Verlusten und Gewinnen.
8. Eigenbewegung fällt leichter, wenn sie
mit Sinnhaftigkeit und Bedeutungen verknüpft wird.
9. Zwei zentrale Metaphern: Der Augenblick
verbindet uns horizontal, der Grund vertikal mit der Welt.
10. Wirklichkeit und die vermessene Wirklichkeit
sind nicht identisch. Gleiches gilt für Eigenbewegung und Fremdbewegung.
11. Gehen ist nicht-aggressiv.
12. Gehen ist Willenserziehung.
13. Gehen stärkt die körperliche Kondition und
psychische Stabilität.
14. Gehen legt die Grundstrukturen für das
Denken.
15. Eigenbewegung stiftet Emotionalität.
16. Das Verschwinden der Eigenbewegung ist nicht
ohne Rekurs auf die warenproduzierende Gesellschaft zu erklären.
17. Leben ist immerwährende Aufgabe. Diese
Ambivalenz steckt auch im Gehen.
18. Ohne unterstützende »Auswilderungsprogramme«
wird die Transformation von Fremd- zur Eigenbewegung nicht gelingen.
So, liebe Leserin, lieber Leser – jetzt haben Sie
genug gelesen, der Wald (Natur), die Veranstaltung (Kultur), die Stadt
(Soziales) warten. Nichts wie hin, aber zu Fuß oder mit dem Rad! Wir treffen
uns vielleicht dort.
Literatur,
die nicht in
den Fußnoten angegeben ist, aber meine Gedanken beeinflusst hat:
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Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen. Reinbek 1976
Anders, G.:
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und Nicht-Orte. Frankfurt a. M. 1994
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Bausteine der kindlichen Entwicklung. Berlin 1992
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a.: Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen. Grundrisse einer sozialen
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Baudrillard,
J.: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin 1978
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Flüchtige Moderne. Frankfurt a. M. 2003
Berg, Chr.
(Hrsg.): Kinderwelten. Frankfurt a. M. 1991
Bode, P. M. /
Hamberger, S. / Zängl, W.: Alptraum Auto. München 1986
Bohrer, K. H.:
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Bollnow, O.
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Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung.
Frankfurt a.M.
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M.: Vom Geist der Maschine. Eine Geschichte kultureller Umbrüche.
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Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft.
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Grefe, Chr.:
Ende der Spielzeit. Wie wir unsere Kinder verplanen. Reinbek 1995
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Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne. Würzburg 2004
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Johann Gottfried Seume. Eine Biographie. Leipzig 2005
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[1]
Die ersten zwei Zitate sind der informativen Arbeit »Grenzgänge
Ästhetik« (1996) von Wolfgang Welsch entnommen; das dritte Zitat
drückt die Position aus, die in dieser Arbeit vertreten wird,
während der Inhalt des vierten Zitats als inhuman abgelehnt wird,
falls er universelle gelten soll.
[2]
Eigenbewegung kann und wird nur von jedem allein durchgeführt. Sitzt
man in einer Rikscha, nimmt man die Eigenbewegung des Rikschafahrers
in Anspruch, bewegt sich selbst aber im Modus der Fremdbewegung;
fährt man mit dem Auto, nutzt man die Fremdbewegung in Form eines
Motors. Beim Fahrradfahren wird das Rad in System und Ablauf der
Eigenbewegung einbezogen, bleibt aber Eigenbewegung. Beim Surfen
liegt ein substanzielles Mischungsverhältnis vor.
[3]
So in dem Artikel »Viele halten sich für ›Bewegungsmuffel‹« im
Flensburger Tageblatt vom 22.4.2006
[4]
Der Versuch, diese fragile Einheit, die nur eine auf Zeit sein kann,
zu bestimmen, durchzieht das ganze Buch.
[5]
Nach meiner Auffassung ist die Lektüre der Unterkapitel 1.1 bis 1.4
unverzichtbar, während das Unterkapitel 1.5 zum Kontext nicht
unbedingt für das Verständnis notwendig ist, also je nach Bedarf
übersprungen werden kann.
[6]
Deswegen ist es sinnvoll, den Blick des Autors und
dessen konstituierende Momente, insbesondere die der Biographie und
des Wissenschaftsverständnisses, kurz zu bestimmen. Mit 15 Jahren
Volksschulabschluss, anschließend Fleischerlehre, mit 25 Jahren
Abitur auf einem Staatlichen Abendgymnasium erworben, Lehrerstudium,
danach 18 Jahre als Grund- und Hauptschullehrer tätig. Ab dann
Hochschullehrer im Mittelbau. Dissertation über Naturerleben.
Zwischenzeitlich aktiv in mehreren Naturschutzvereinen und
substanzieller Mitbegründer der Grünen.
Das erste Wissenschaftsverständnis
durch die Frankfurter Schule erfahren einschließlich der von ihr
vertretenen Kritik positivistischer Auffassungen. Ich denke
inzwischen, dass hermeneutische Kritik und Empirismus sich nicht
ausschließen, dass aber der hermeneutische Blick der primäre ist,
womit auch das subjektive Moment der eigenen Erfahrungen und
Reflexionen legitim gestärkt wird.
Besonders erwähnenswert, weil auch
gedanklich fruchtbar, ist mein langjähriges Bemühen, die Theorie der
Eigenbewegung in interessanten natürlichen, kulturellen und sozialen
Umwelten im Alltag mit meiner Alltagspraxis zur Deckung zu bringen.
Ich fahre seit Jahren weniger als 3.000 km jährlich mit dem Auto,
alle anderen größeren Distanzen mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Vorherrschendes Fortbewegungsmittel im Alltag, sei es zur Arbeit
oder in der Freizeit, sind die Füße, das Fahrrad und öffentliche
Verkehrsmittel.
[7]
Nur das Ganze bewegt sich, Teile vom Ganzen werden bewegt. Letzteres
gilt auch für Autoinsassen.
[8]
Ich gehe von einem sehr engen Zusammenhang von Sprache, Denken und
Handeln aus.
[9]
Wort meint hier das materielle Zeichen, Begriff den Inhalt des
Wortes.
[10]
So der zunehmende Energieverbrauch.
[11]
Ich denke, dass es kein »muskuläres Gedächtnis« gibt, sondern dass
hierfür insbesondere der taktile und kinästhetische Sinn Ursache
ist. Kinästhetik setzt sich aus kinesis = Bewegung und aisthesis =
sinnliche Wahrnehmung zusammen, d. h., das neuronale System nimmt
muskuläre Bewegungen wahr und speichert sie. Das berühmte
Zecken-Beispiel v. Weizsäckers beruht auf Wärme-Wahrnehmung und
Bewegung, um erfolgreich zu sein.
[12]
Ein wesentlicher Teil der Bildung wäre dann, die Unterscheidungen in
der Umwelt zu erkennen. Eine Fähigkeit, um es noch einmal deutlich
zu betonen, die bereits auf Bewegung beruht.
[13]
Diese Einschränkung gilt nicht (mehr) für die materielle
Dimension dieses »Rätsels«. Neue und neueste Ergebnisse der
Gehirnforschung belegen den Zusammenhang von komplexer Umwelt und
Ausbildung komplexer Gehirnstrukturen – wenn denn die
Umweltkomplexität vom Menschen als Aufgabe angenommen und nicht
umgangen wird. Der Schlüsselbegriff ist hier die Neurogenese, d. h.
die Neubildung von Nervenzellen, die im Gegensatz zu früheren
Lehrmeinungen, bis ins hohe Alter stattfinden kann, nämlich dann,
wenn insbesondere Lernanreize, geistige Herausforderungen und
körperliche Betätigungen vorliegen (vgl. die Titelgeschichte »Hirn,
kuriere dich selbst« im SPIEGEL Nr. 20 vom 15.5.2006 und Kempermann,
G.: Adult Neurogenesis. New York 2006). Diese Ergebnisse sind sehr
wertvoll und unverzichtbar, aber nach meiner erkenntnistheoretischen
Position nicht die ganze Wirklichkeit oder gar Wahrheit, weil
geistige Konstruktionsanteile und die Freiheit des Menschen nicht
hinlänglich bedacht und berücksichtigt werden (siehe genauer 1.3).
[14]
»Wirklichkeit« ist ein hochtheoretischer Begriff, der die
unterschiedlichsten Interpretationen umfasst und wohl der Kern
philosophischen Denkens ist. Sicherlich gibt es nicht die
metatheoretische Position, die für sich zweifelsfrei beanspruchen
kann, den wahren Begriff der Wirklichkeit gefunden zu haben. Aber
relativ sicheren Grund erreicht man, wenn man von der Möglichkeit
der Annäherung ausgeht und komparative Aussagen macht.
[15]
Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart 1989, S. 49
[16]
Das gilt nicht für den Mannschaftssport, der sich auf eine bestimmte
soziale Umwelt bezieht, eben auf die Mannschaft und auf eventuell
anwesende Zuschauer.
[17]
Ob man von einer von Kausalität beherrschten Welt oder vom
lebendigen Kosmos ausgeht, lasse ich offen. Meine ursprüngliche
Meinung, den Dualismus von Determination und Freiheit mit dem von
Mechanik und Leben gleichzusetzen, halte ich inzwischen für falsch.
[18]
Ob man einen Menschen mit einem funktionslosen Körper, der sich nur
noch in rein virtuellen Welten aufhält, noch als Menschen bezeichnen
kann, halte ich für fragwürdig. Es entsteht eine neue Spezies, die
den Menschen ablöst.
[19]
Günther Anders Analyse ist aktueller denn je.
[20]
Wobei zu berücksichtigen ist, dass Inhalt und Wert immer in einem
gegenseitig sich bedingenden Wechselverhältnis stehen und somit
untrennbar sind.
[21]
Natürlich ist auch hier eine Haupttendenz gemeint, die durch
lobenswerte Ausnahmen nicht korrigiert wird. Auch wird die
berufliche Sphäre nicht berücksichtigt, die differenzierter
beschrieben werden muss. Im Übrigen ist es auch kein grundsätzliches
Plädoyer gegen das Triviale, Zerstreuende, gegen die Sünde
schlechthin, sondern es geht mir um ausgewogene Quantitäten im
Alltag. Das Jeden-Tag-mache-Ich, ...
[22]
Das erklärt auch, dass der schönste Weg nicht wahrgenommen und
geschätzt wird, weil eine angemessene innere Bewegung als
geistig-seelischer Vorgang nicht stattfindet.
[23]
Dieser empirische Standpunkt erlaubt empirische Beschreibungen,
sollte aber – so die hier vertretene Auffassung – nicht
verabsolutiert werden, denn Beziehungen zwischen materiellen
Einheiten haben auch immer eine geistige Dimension.
[24]
Natürlich gelten diese Aussagen cum grano salis für alle Lebewesen.
[25]
Aus diesem Grunde wäre der Ausdruck »materielle Beziehung« ein
Selbstwiderspruch.
[26]
So hängt z. B. die Erklärung des Schmelzens von Eis bei Sonnenschein
von der Atomtheorie ab, die bekanntlich noch lange nicht zum
endgültigen Abschluss gebracht worden ist, wenn es überhaupt jemals
dazu kommen wird.
[27]
Übrigens sind energielose Muskeln tote, materielle Abstraktionen.
[28]
Das wäre die aristotelische Auffassung des telos.
[29]
Dass in diesen Begriffen und Aussagen Unschärfen enthalten sind,
ergibt sich aus der bereits mehrfach erwähnten Tatsache, dass wir –
trotz gegenteiliger Behauptungen – noch wenig gesichertes Wissen
über den Übergang vom Sein zum Bewusstsein haben.
[30]
Und zwar eine doppelte: Eine im Subjekt stattfindende innere
Bewegung, die durch eine äußere Bewegung verursacht, aber nicht
bestimmt ist, und andererseits Veränderungen, denen die Dinge in den
Räumen unterworfen sind bzw. aus denen heraus sie sich entwickeln:
langsame Veränderungen wie das Wachsen der Blume im Laufe der
Jahreszeiten und schnelle wie die Bewegungen von vorbeilaufenden
Menschen und vorbeirasenden Fahrzeugen.
[31]
Es ist auch hier keine absolute Einheit, denn das wäre der Tod. Der
Unterschied zwischen Autofahren und Gehen ist bezüglich zur Umwelt
nur ein gradueller.
[32]
Nimmt man »Umwelt« wortwörtlich, ist das Innere des Autos die Umwelt
der Fahrenden. Aber die ist weder im Fachgespräch noch in der
Alltagssprache gemeint.
[33]
Zufälle müssen nicht immer erfreulich sein, was erklärt, dass sie
nicht geliebt werden, nicht als Chance begriffen werden.
[34]
Wenn es um Tabellen und Geld wie beim Berufssport geht, ist man im
Bereich der materiellen Selbsterhaltung, Sport ist dann kein
Selbstzweck mehr.
[35]
Wie es insbesondere von Nelson Goodman thematisiert wird.
[36]
Wesentliche Aussagen sind zwei von mir verfassten Aufsätzen
entnommen. Maaßen, B.: »… und bin der Meinung, dass alles besser
gehen würde, wenn man mehr ginge.« Einige Vorüberlegungen zum
Sich-Bewegen in pädagogischer Absicht. In: Schulze-Krüdener, J. /
Schulz, W. / Hünersdorf, B. (Hrsg.): Grenzen ziehen – Grenzen
überschreiten. Baltmannsweiler 2002; Maaßen, B.: Eigenbewegung und
Sinnlichkeit. Fundamente des Lernens. In: PÄDAGOGIK Heft 10/2005.
[37]
So machte eine Schule auf der Insel Föhr ein Stück Ernst mit
funktionalem Lernen durch Eigenbewegung: Vier Wochen lang
bewältigten Lehrer und Schüler den Schulweg in Eigenbewegung. Andere
Schulen folgten diesem Beispiel.
[38]
Münker, S.: Was heißt eigentlich: »Virtuelle Realität«? In: Münker,
S. / Roesler, A. (Hrsg.): »Mythos Internet«. Frankfurt a. M. 1997,
S. 111
[39]
Diese sinnlich-muskuläre Primärerfahrung muss natürlich bedacht und
weiter gedacht werden. Also kein Abschied von der Reflexion.
[40]
Auch an dieser ungewohnten Sprachwendung wird deutlich, wie schwer
es ist, den realen Sachverhalt der Passivität sprachlich noch
akzeptabel auszudrücken.
[41]
Gewissermaßen als Spätfolge kann und wird das reduzierte Bewusstsein
seine eigene Reduktion seiner Umwelt aufzwingen.
[42]
Jede Wahrnehmung der äußeren Welt verändert immer auch den
Wahrnehmenden selbst mehr oder weniger stark auf vielfache Weise.
Ein Beispiel: Unsere dreijährige Enkelin sieht, wie ihr
eineinhalbjähriger Bruder die Treppe runterfällt. In ihrer
Wahrnehmung erscheint allein nur dieser Vorgang. Sie selbst ist
phänomenologisch gänzlich abwesend. Aber sie ist es, die wahrnimmt.
In ihrem Bewusstsein ist diese »subjektlose« Wahrnehmung Inhalt und
in ihrem Gehirn eine neurobiologische Struktur. Beide haben
Auswirkungen auf ihr Gedächtnis, denn sie erinnert sich oft dieses
Vorfalls – wahrscheinlich auch mit Auswirkung auf ihre
Bewegungsmuster und ihre Identität, denn seitdem steigt sie
vorsichtig und etwas ängstlich Treppen hinunter. Dass sie dieses
Ereignis auf sich selbst bezieht, ist nur als denkerische Leistung
zu erklären.
Das individuelle System der interagierenden
Bewusstseinsinhalte ist uns in seinem ganzen Umfange nicht im
Entferntesten bekannt, da ein hinreichend komplexes System nach
Goedel sich nicht selbst vollständig darstellen kann. Der
entscheidende Grund liegt in der hier vorliegenden Zirkelstruktur,
die in der Identität von erkennendem Subjekt und zu erkennendem
Objekt liegt. Aber man sollte bezüglich der Möglichkeiten der
Innenschau und der Selbstreflexion nicht zu skeptisch sein. So kann
man über die Reflexion sehr wohl den subjektiven Anteil im
Wahrnehmungs- und Denkprozess partiell rekonstruieren.
[43]
Brooks, R.: »Intelligence without representation.
Artificial Intelligence«, New York 1991, p.
47; Dennett, D.: »Cognitive Wheels. The Frame
Problem«. In: Boden, M. (ed.): »The Philosophy of Artificial
Intelligence«,
[44]
Ich bin der Meinung, dass es eine Seele gibt, zwar nicht im
substanziellen, aber im funktionalen Sinn, die sich in rasantem
Tempo verändert in Richtung außengeleitet bei gleichzeitigem Verlust
an Innerlichkeit.
[45]
Safranski, R.: Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus.
München 2004, S. 70
[46]
Ich folge hier im Wesentlichen den Gedankengängen von Martin
Burckhardt, die er in »Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine
Geschichte der Wahrnehmung« (Frankfurt a. M. 1997) entwickelt hat.
[47]
Das scheint auf den ersten Blick widersprüchlich zu sein, da
die Uhr ausschließlich mit der Zeit und nicht mit dem Raum in
Verbindung gebracht wird. Eine genauere Analyse ergibt aber, dass
die Uhr aus sinnlicher Perspektive ein sich bewegender Körper ist,
der einen Raum einnimmt. Ob die Bewegung nun mit Zeit gleichgesetzt
werden kann, ist eine Setzung, die mit guten Gründen hinterfragt
werden kann. Die Uhr selbst ist Materie, keine Zeit – und vielleicht
nicht einmal Raum.
[48]
Finalität als Umkehrung der Kausalität verstanden.
[49]
Burckhardt, M., a.a.O., S. 217
[50]
Albrecht, W. / Kertscher, H.-J. (Hrsg.): Wanderzwang – Wanderlust.
Tübingen 1999
[51]
Trabant, J.: Artikulation. Historische Anthropologie der Sprache.
Frankfurt a. M. 1998, S. 70
[52]
Nietzsche nach Sloterdijk, P.: Der Denker auf der Bühne. Nietzsches
Materialismus. Frankfurt a. M. 1986, S. 143
[53]
Zimmer, R.: Handbuch der Bewegungserziehung. Freiburg 1993
[54]
So wohl am tiefsinnigsten von Fichte vertreten.
[55]
vgl. Bieri, P.: Das Handwerkzeug der Freiheit. Über die Entdeckung
des eigenen Willens. München 2001
[56]
vgl. Schiffer, E.: Warum Huckleyberry Finn nicht süchtig wurde.
Weinheim 1999
[57]
J. Pilatus (1880-1967)
[58]
So auch die ansonsten hervorragend recherchierte Titelgeschichte
»Heilkraft der Bewegung« im Spiegel Nr. 5 vom 30.1.2006
[59]
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.3.2006, S. V12
[60]
Rüdiger Bubner in Welsch, W.: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart
1996, S. 53
[61]
So fasst Julian Nida-Rümelin die Hauptthese Richard Sennetts aus
dessen »Fleisch und Stein« zusammen, in: Humanismus als Leitkultur.
Ein Perspektivenwechsel. München 2006 S. 108 f.
[62]
Vgl. Sartre, J.- P.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer
phänomenologischen Ontologie. Hamburg 2005, S. 1030
[63]
Flensburger Tageblatt vom 13.8.2005
[64]
Es handelt sich um einen Teil eines alternativen
Stadtkonzeptes, das anlässlich einer Veranstaltung mit Richard
Wester in Flensburg vorgestellt wurde.
[65]
Die Eigenbewegung hat keine Lobby. Aus diesem Grund werden Vorteile
der Fremdbewegung in dieser Arbeit nicht thematisiert, da dies
überwältigend von interessierten Produzenten, aber auch von Nutzern
in großem Ausmaße abgedeckt wird.
[66]
Zur sekundären Bewegung gehören auch Karussell, Gondel, Motorrad,
Rolltreppe, Motorschiff, Wasserskijet und früher Kutsche,
Sänfte usw. Reiten, Segeln, Surfen sind von der Energie her gesehen
Zwitter, aber wegen der hier vorliegenden natürlichen, gewissermaßen
sekundären metabolischen Energie kann man diese Fortbewegungsarten
der Eigenbewegung zuordnen. Diese Einteilung ist nicht
unproblematisch, weil es sich bei der Unterscheidung von
Eigenbewegung und Fremdbewegung immer um fließende Übergänge
handelt, denn die Eigenbewegung ist kein geschlossenes System.
[67]
Statistisch insgesamt fünf Stunden am Tag.
[68]
Obwohl 50 % der Autofahrten unter drei Kilometer liegen, wird trotz
gestiegener Benzinpreise selbst darauf nicht verzichtet.
[69]
Maier, A. / Büchner, C.: Bullau. Versuch über Natur. Frankfurt a. M.
2006, S. 28
[70]»Das
Auto kommt auf den Balkon. Kreuzberger Lofts mit Etagengarten und
Carloggia« in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. April 2006
(nicht vom 1. April, wie man eigentlich denken müsste).
[71]
Das kann ich während des Fahrens an mir selbst feststellen: Als
Autofahrer »lebe« ich in der Logik des Autosystems.
[72]
Flensburger Tageblatt vom 8.3.2006
[73]
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.2.2006, S. T 4
[74]
Pascal in Stoichita, V.I.: Das selbstbewusste Bild. Vom
Ursprung der Metamalerei. München 1998, S. 45
[75]
Dazu ein Beispiel: Als die Gäste auf einer Feier erfuhren, dass ein
Gast mit dem Rad gekommen war, wurde er zuerst ungläubig bestaunt,
dann bemitleidet.
[76]
Burckhardt, M., a. a. O., S. 151
[77]
So in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 2. 2006
[78]
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.3.2006
[79]
Spiegel 52/2004
[80]
»Archives of Disease in Childhood« Bd. 86, S. 207
[81]
Dass die Ersetzung der Eigenbewegung durch Fremdbewegung auch eine
Erlösung sein kann, sei durch eine frühe Erfahrung des Autors
illustriert: Jeden Donnerstag mussten Mettwürste mit einem Gewicht
von insgesamt 6.000 kg drei Stockwerke zu Fuß hochgeschleppt werden.
Dann wurde eine Art Fahrstuhl für Wurstspieße eingebaut. Könnt Ihr
die damalige Erleichterung und Freude nachempfinden?
[82]
Vgl. Rabinbach, A.: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge
der Moderne. Wien 2001, S. 31.
[83]
Jedes System hat Stärken und Schwächen. Das gilt auch für
Gesellschaftssysteme, die es gab, gibt und geben wird. Unsere
Gesellschaft hat gerade im politischen und wirtschaftlichen Bereich
Stärken, die erfahren zu haben, ich nur als Glück und Gnade
beschreiben kann. Andererseits sind in ihr Tendenzen wirksam, die
ich als Bedrohung menschlichen Seins auffasse. In diesen
Ausführungen thematisiere ich nur diese Bedrohungen.
[84]
Flensburger Tageblatt, 30.3.2006
[85]
Flensburger Tageblatt vom 26.3.2006
[86]
Dieser Gedanke ist dem bereits zitierten Werk von Martin Burckhardt
(S. 232) entnommen.
[87]
Vgl. Langenbach, J.: Selbstzerstörung. Zur Identität von abstrakter
Arbeit (Technik) und Faschismus. München 1982
[88]
Die direkte Werbung beträgt 300 Euro pro Auto, die indirekte Werbung
kann zumindest gegenwärtig nicht beziffert werden, da die wenigen
aufgedeckten Fälle der Schleichwerbung noch keine allgemeinen
Aussagen zulassen.
[89]
vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.3.2006
[90]
vgl. Rosa, H.: Zeitraffer und Fernsehparadoxon oder: Von der
Schwierigkeit, Zeitgewinne zu realisieren. In: Rosa, H. (Hrsg): fast
forward. Hamburg 2004
[91]
Dieser Abschnitt enthält einen Grundgedanken aus dem bereits
zitierten Werk von Martin Burckhardt.
[92]
Diese Überlegungen gehen auf Baudrillard zurück.
[93]
Diese hohe Begrifflichkeit kann, wenn allein auf dieser
Abstraktionsebene behandelt, sehr schnell fade, moralin, letztlich
leer, ideologisch, ja abgeschmackt werden. Sie ist einerseits
unverzichtbar, muss andererseits aber auf menschliches Denken und
Handeln heruntergebrochen und da vorrangig komparativ eingesetzt
werden.
I. ".....und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr
ginge." Einige Vorüberlegungen zum Sich-Bewegen in pädagogischer Absicht
Wenn im Folgenden von Bewegung gesprochen wird, ist die Eigenbewegung,
das Sich-Bewegen gemeint. Wenn in dieser Arbeit von Körper gesprochen
wird, ist der Leib, also der beseelte Körper gemeint. Mit dieser
zugegebenerweise etwas prosaischen Ausdrucksweise soll ausgesagt
werden, dass der Körper dann Leib ist, wenn Subjekt und Objekt, wenn Geist
und Körper identisch sind. Also nur aus der Binnenperspektive entstehen
Aussagen von und über den Leib, während die Fremdperspektive nur über Körper
zu reden vermag. Die äußerst schwierige und immer noch nicht entschiedene
erkenntnistheoretische Frage, was diese Binnenperspektive ausmache und
wie sie sich konstituiert, ob das Subjekt plural oder einheitlich
konstituiert, was das Bewusstsein überhaupt sei, wie sich beide
zueinander verhalten, lasse ich hier offen. Der „beseelte“ Körper ist immer
ein sich bewegender: Bewegung und Leib bzw. Körper bilden eine
unauflösbare Einheit.
Johann Gottfried Seume (1763 – 1810), der berühmte Spaziergänger nach
Syrakus, von dem dieses im Titel aufgeführte Zitat stammt, war kein
Naturschwärmer und auch nicht ein von romantisch-ziellosem Fernweh
Ergriffener, sondern beschrieb in seinen Reiseberichten die sozialen,
wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse der jeweiligen
Länder in durchgehender aufklärerisch-kritischer Perspektive. Er wanderte
nicht, sondern er ging. Gehen war für Seume die intensivste Form von
Wirklichkeitserfahrung (vgl. Kesting, 2001).
Dieses gewichtige Zitat gewinnt an Plausibilität, wenn man es im Kontext
liest. Die entscheidende Passage aus dem Reisebuch „Mein Sommer“ lautet:
„Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch (von Menschen
und der Welt, wäre meine Interpretation; BM) mehr, als wer fährt. Überfeine
und unfeine Leute mögen ihre Glossen darüber machen nach Belieben; es ist
mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und
Selbständigste in dem Mann (und natürlich auch in der Frau. Nach einigen
römischen Autoren wird übrigens im Gang (bestimmter) Frauen das
Göttliche offenbar, BM) und bin der Meinung, dass alles besser
gehen würde, wenn man mehr ginge ....Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr
schlecht, man sehe sich nur um! Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich
sogleich um einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt.“
Die Gedanken Seumes sind aktueller denn je, da das Gehen, das ausschließlich
auf Eigenenergie beruhende Sich-Fortbewegen, immer häufiger durch Formen des
passiven Transports ersetzt wird. Körperliche Betätigungen und
Bewegungsaktivitäten in der alltäglichen Lebenswelt sind signifikant
geringer geworden. Dass dieser in der Regel von Wirtschaft und
Konsumenten unisono als Fortschritt und Gewinn interpretierte und gelebte
Prozess Verluste impliziert, die weit über die gerade noch wahrgenommenen
Rückenschmerzen und Gewichtszunahmen hinausgehen, die, wie Seume meinte, die
Humanität und damit zentral Pädagogik tangieren, versucht vorliegender
Aufsatz bewusst zu machen. Es wird dabei kein Anspruch auf
Systematik oder gar Vollständigkeit erhoben, sondern auf einige wenige
Dimensionen in Tiefenstrukturen hingewiesen und für die
Pädagogik diskutierbar gemacht - Dimensionen, die meiner Ansicht nach
in der einschlägigen Literatur einschließlich der von Hans Günther
Homfeldt herausgegebenen, nur am Rande oder gar nicht thematisiert werden.
Inwieweit man im bereits erreichten Stadium der Entkörperlichung und
tendenziellen Bewegungslosigkeit überhaupt in der Lage ist,
diese Frage angemessen zu begreifen und umzusetzen, ist offen.
Denn es geht nicht primär um Sport, Fitnesstraining, Brain-Gym usw.,
sondern um die Stärkung des sich bewegenden Körpers im Alltag,
in alltäglichen Lebenszusammenhängen und auch in und als Lernsituationen. Es
geht um den Leib, mit dessen Hilfe man etwas realisiert, über sich selbst
und die Welt etwas erfährt und sich aneignet, mit anderen interagiert und
kommuniziert. Hier könnte man sicherlich auch von Kindern lernen. Wenn
wir dafür Möglichkeitsräume öffnen wollen, dann müssen wir
diesen Entkörperungsprozess (ein Stück) aufheben und in neue, fruchtbare
Bahnen lenken.
Vielleicht haben Sie als Leserin oder Leser inzwischen gedacht, dass
die Rede über das Verschwinden des menschlichen Leibes
(von den Körpern in der Welt ist hier nicht die Rede) und die
drastische Reduzierung seiner Eigenbewegung in der gegenwärtigen
Informationsgesellschaft sattsam bekannt und von daher gegenstandslos sei.
Handelt es sich hier nicht wieder um eine kulturkritische
Position, die über Rousseau, Reformpädagogik bis hin zur Erlebnispädagogik
auch in Theorie und Praxis der Erziehung eine immer wiederkehrende
Konstante darstellt? Ein solcher Einwand ist bedenkenswert: Skepsis und
Einspruch sind notwendig, wenn Ideologiebildung bis hin zu
Mystifizierungen im Spiele sind. In diesem Zusammenhang muss zumindest
Folgendes klar sein:
a) Der Blick in die Vergangenheit, zumindest in die geschichtliche, bringt
mehr Problematisches (Foucault, Elias, Rutschky mögen hierfür stehen)
als Wünschenswertes zum Vorschein.
b) Die Wiedereinsetzung des Körpers und der Bewegung sind keine
Garantie für die Entfaltung von mehr Humanität (so z. B. im Faschismus). Der
Körper ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Humanität.
c) Wie integriert das System "beseelter Körper" auch gedacht wird, zwischen
den einzelnen Elementen besteht keine Kausalität.
d) Auch der Körper ist nicht die letzte Grundlage, der Archimedische Punkt
für Erkenntnis, Moral und Glück. Denn er ist fragil, störanfällig, von
Sorge durchdrungen.
Dass aber der Körper überhöht, mit seinem Konzept Missbrauch getrieben
wurde, ist kein Grund, auf eine rationale Analyse seiner
Bedeutung zu verzichten. Vielmehr gilt es, genau hinzusehen, was da
eigentlich verschwindet und denkend einzuhalten, um eventuell andere Wege
einzuschlagen.
Es wäre technologisch-kausales Denken, umstandslos auf
Zukunft schließen zu wollen. Hölderlins vielzitiertes Wort "Wo aber
Gefahr ist, wächst das Rettende auch" trifft zu, weil der Mensch als
conditio sine qua non über Freiheit verfügt, die aus ihm unkontrollierbar
immer wieder hervorbrechen kann. Auch der gefesselte Körper kann
ein Speicher und ein Generator für Möglichkeiten sein, gesetzte
Grenzen zu überwinden. Wissend, dass eine solche Emanzipationsbewegung immer
auch auf Geist angewiesen ist, gilt es, neue Perspektiven
kennen zu lernen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und so seinen eigenen
körperlichen Stand- und Entwicklungspunkt zu gewinnen. Die folgenden
Abschnitte habe ich bewusst "Perspektiven" genannt, um ihre prinzipielle
Unabgeschlossenheit, Subjektivität und das Faktum der
unvermeidbaren Überschneidungen einzufangen. Auch versteht sich, dass
die jeweilige Perspektive nur in Teilbereichen ausgeleuchtet wird.
Im Folgenden werden sechs Perspektiven
thematisiert: die der künstlichen Intelligenzforschung (1), die
systematisch-erkenntnistheoretische (2), die kognitionswissenschaftliche
(3), die anthropologische (4), die kinästhetische (5) und
schließlich die gesellschaftliche (6).
1. Die Perspektive der künstlichen Intelligenzforschung: Der Leib als
Wertelieferant
Um deutlich zu machen, dass der Körper eine condition humaine
ist, folgender erster, wenn auch indirekter Beleg: Nach der Theorie
der sogenannten verkörperten und situierten Künstlichen Intelligenz
scheiterten bisher alle Versuche, autonome künstliche
Intelligenzsysteme zu realisieren auch daran, dass diese Systeme über keinen
Körper verfügen (Brooks 1991, S. 139 – 160), Dennett 1990, S. 147- 171),
Gold/Engel 1998). Warum ist das ein Problem? Nur über den Körper
kommen die notwendigen und unverzichtbaren Werte in das kognitive
System hinein. Diese Werte entscheiden über Setzungen, Selektionen,
Präferenzen aus der unendlichen Zahl aller kombinatorischen Möglichkeiten.
So ist selbst die Setzung, die Logik zur Richtschnur von wahren und falschen
Verknüpfungen zu machen, eine wertende. Ginge man nicht von
einem Leib aus, müsste man auf idealistische Konzepte zurückgreifen -
was ja im kognitivistischen Wissenschaftsverständnis nicht
zulässig wäre - oder emergenzphilosophische Konstrukte
heranziehen. Als reale Quelle und als Erklärung bleibt dann nur der sich
bewegende Körper übrig.
Das Paradoxon besteht also darin, dass eine der avanciertesten und
abstraktesten Wissenschaften wie die Kognitionswissenschaften
händeringend nach einem Körper sucht. Hier ist aber nicht der
"theoretische", isolierte Körper, sondern der in Gesellschaft und
Natur, in die jeweiligen Lebenswelten eingebettete gemeint.
Verzichten wir auf den Körper, so verzichten wir auf rationale
Bejahung, Kritik, Modifikation, Weiterbildung oder Negation. Es bliebe
ein einziger Wert bestehen: die einmal überkommene und
übernommene Aufgabe, alle intern-geistigen und äußerlich-materiellen
Hindernisse, die die technologisch eingeschlagene Entwicklungsrichtung
behindern, zu beseitigen.
Haupteinsicht aus der künstlichen Intelligenzforschung:
Es gibt keine leib-losen Werte
2. Die systematisch-erkenntnistheoretische Perspektive: Der Leib im
Erkenntnisprozess
Hier geht es im Wesentlichen um eine (a) systematische und b)
zeitliche Dimension.
a) Erkenntnistheoretische Systeme, die aus der Aufklärung kommen oder ihr
verpflichtet sind, haben große Schwierigkeiten, den Körper
systematisch-konstitutiv zu verorten. In der Einleitung zur
transzendentalen Logik schreibt Kant: "Wollen wir die Rezeptivität unseres
Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine Weise
affiziert wird, Sinnlichkeit nennen; so ist dagegen das Vermögen,
Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des
Erkenntnisses, der Verstand"(Kant 1966, S. 120). Sinnlichkeit und
Verstand sind also die zwei Quellen der Erkenntnis. Natürlich ist auch
hier die Sinnlichkeit an Sinnesorgane, insbesondere an die Augen
(und damit auch an den Körper) gebunden, aber es ist eine reduzierte
Sinnlichkeit, die, vom Verstande geleitet, dessen Vorgaben in der
Außenwelt lediglich bestätigt. Das erkennende Subjekt wird zu einem
punktförmigen, fast körperlosen Selbst. Der Körper wird aus
erkenntnistheoretischer Perspektive überflüssig.
Sinnlichkeit
Verstand
Erkenntnis
Die radikalste Kritik dieser Auffassung kulminiert sicherlich in
Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie. Um die große Bedeutung des
Körpers im Erkenntnisprozess möglichst tief zu fundieren,
halte ich es für sinnvoll, auf das Modell des
Gestaltkreises (V. von Weizsäcker) bzw. des
Funktionskreises (J. v. Uexküll) zurückzugreifen. Nach diesen Autoren
bilden Muskelsystem und Nervensystem die physiologische
Basis der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen.
Erweitert man Wahrnehmen um die höheren psychischen Funktionen wie
Fühlen, Behalten und Denken, dann kann man diese Einheit als verschiedene
Stufen von Erkenntnismöglichkeiten interpretieren. Die
psychischen Funktionen sind im Nervensystem, die Bewegungen im
Muskelsystem lokalisiert. Beide Systeme müssen intern und wechselseitig
interagieren, wenn Erkenntnis entstehen soll.
Nerven
Muskeln
Vernunft
Verstand
Gefühl
Bewegung
Wahrnehmung
vegetative Prozesse
An dieser Graphik ist deutlich erkennbar, dass das Modell der
Aufklärung (Sinnlichkeit und Verstand) zumindest begrifflich ausschließlich
im Nervensystem ruht, dass es gewissermaßen einen Sonderfall darstellt.
Aber man kann auch erkennen, dass das hier vorgestellte Modell nicht
ganzheitlich ist. So wird z. B. das Knochensystem nicht berücksichtigt,
obwohl es sicherlich auch eine funktionale Bedeutung im Erkenntnisprozess
hat ("der aufrechte Gang" als Metapher für charaktervolles Denken und
Handeln). Den Körper gibt es isoliert nur dann, wenn es sich um einen toten
handelt. Bewegung macht das Wesen des Körpers aus. Es gibt aber keine
vollkommen isolierte Körperbewegung: Bewegung findet immer in Räumen statt.
Von daher müssen Bewegung und Raum systemisch gesehen werden, wobei
der Raum auch den gesellschaftlichen Raum umfasst, der über Rollen und
Habitus wiederum den Körper modelliert: Eine Rolle wird verkörpert.
b) Im vorgestellten Modell wird allerdings die zeitliche
Beziehung zwischen gehirnphysiologischen und Bewusstseinsprozessen
nicht thematisiert. Empirisch geleitetes Denken lässt fast keinen anderen
Schluss zu , als vom zeitlichen Primat des Gehirns, also letztlich vom
Körper, auszugehen und das Bewusstsein als sekundär einzustufen.
Dazu unübertrefflich ein Gedicht von Robert Gerhardt "Noch einmal:
Mein Körper" (FAZ, 24. 11. 01):
Mein Körper rät mir:
Ruh dich aus!
Ich sage: Mach ich
altes Haus!
Denk aber: Ach, der
sieht`s ja nicht!
Und schreibe heimlich
dies Gedicht.
Da sagt mein Körper:
Na, na, na!
Mein guter Freund,
was tun wir da?
Ach gar nichts! sag ich
aufgeschreckt,
und denk: Wie hat er
das entdeckt?
Die Frage scheint recht
schlicht zu sein,
doch ihre Schlichtheit
ist nur Schein.
Sie läßt mir seither
keine Ruh:
Wie weiß mein Körper,
was ich tu?
Die Peripatetiker im antiken Athen wussten es, wenn sie diskutierend
in den Säulengängen wandelten. Der in der Abenddämmerung beginnende Flug der
Eule der Minerva ist die Metapher Hegels für das Verhältnis von Praxis und
Theorie. Der Mensch ist nicht Herr des Bewusstseins.
Das Ich-Denke ist dem Es-Denkt nachgeordnet, das wiederum von
gehirnphysiologischen und körperlichen Prozessen beeinflusst bzw. bestimmt
wird, die ihrerseits materiell-gesellschaftlich bedingt sind. Zu
fragen und zu problematisieren bleibt aus der Perspektive unseres Themas,
welche Qualität Erfahrungen und Erkenntnisse annehmen, wenn der Körper
marginalisiert wird.
Haupteinsichten aus der systematisch-erkenntnistheoretischen
Perspektive:
a) Den isolierten Körper gibt es in der Realität nicht. Er ist
immer ein in materiellen und gesellschaftlichen Räumen sich bewegender,
wobei Raum und Gesellschaft formend auf ihn einwirken und umgekehrt.
b) Durch die Leugnung des Primats des Bewusstseins wird die
theoretische Stellung des Körpers gestärkt.
3. Die kognitionstheoretische Perspektive: Die Bedeutung des enaktiven
Repräsentationsmodus im Prozess der Bedeutungsbildung
Nach Jerome S. Bruner repräsentieren wir auf Bewusstseinsebene Welt in
drei Systemen: im symbolischen, im ikonischen und im enaktiven
Repräsentationssystem. Vom Körperthema aus gesehen ist das
Verhältnis zwischen diesen Systemen besonders interessant. Es gibt gute
Gründe, das Symbolsystem als das dominierende zu bewerten. Analysiert
man den (allgemeinen) Begriff, d. h. keine Eigennamen, dann
stellt man fest, dass dieser Begriff zwar ein Gebiet begrenzt, d. h.
de-finiert, dieses Gebiet selbst aber inhaltlich leer ist. "Bevölkert" wird
es erst durch Aktivitäten, die ikonische und enaktive
Repräsentationen zur Folge haben . Dazu gehören auch anschließende
symbolische Repräsentationen, die aber nur dann bedeutungsvoll sind, wenn
sie bereits ikonisch und enaktiv "gefüllt" sind. Daraus ergeben sich
zumindest vier Aspekte:
a) Der Prozess der „Füllung“ kann minimal (ein einziges Foto vom Eifelturm)
oder optimal (vielfältige ikonische, enaktive und symbolische
Repräsentationen), jedoch nie vollkommen sein.
b) Die Befunde in den einzelnen Systemen sind unterschiedlich: Die
symbolischen und enaktiven Anteile haben abgenommen. Im
ikonischen Bereich fallen die Ergebnisse unterschiedlich aus: Der über
Bildmedien vermittelte Anteil hat stark zugenommen, während der
über Eigenwahrnehmungen erworbene zurückgegangen ist. Beeinträchtigend
kommt hinzu, dass die medialen Wahrnehmungen zunehmend kürzer
und flüchtiger werden. Realität wird mehr und mehr aus der Distanz , im
Auto-, Zug- oder Flugzeugsessel auf vorgeschriebenen Wegen,
panoramisch (Schievelbusch) visuell wahrgenommen. Zu hören sind
nur die Motoren des Fortbewegungsmittels, aber nicht das Lachen
der Kinder aus dem Vorgarten. Andere Sinnesqualitäten werden ausgeblendet.
c) Ein Minimum an Enaktivität ist unaufhebbar, weil
ein „Restkörper“ immer noch mit der Welt in Verbindung stehen muss. Die
Finger müssen noch kleinste Bewegungen auf der Tastatur machen, und auch der
Wagen mit Vollautomatik verlangt ein Geringes an Veränderung der materiellen
Welt mit Hilfe meines Körpers wie das Öffnen der Tür oder das Umdrehen des
Zündschlüssels. Geht man von einem ganzheitlichen Menschenbild aus, das ein
Anrecht auf die Entfaltung aller Fähigkeiten hat, ist dieser
Sachverhalt nicht akzeptabel. Aus der Sicht kognitivistischer
Entwicklungstheorien, in denen Denken als internalisiertes Tun
beschrieben wird, Welt erst im handelnden Umgang im Subjekt entsteht,
ist dieser Zustand weder für Kinder noch für Jugendliche
akzeptabel. Auch für Erwachsene gilt, dass dieser Prozess prinzipiell
unabgeschlossen ist und deshalb ständig bei jedem kognitiven Neuerwerb
fundierend stattfinden könnte und sollte. Sehr viel spricht dafür,
dass zwischen äußeren und inneren Bewegungen starke
Wechselbeziehungen bestehen.
d) Die Bedeutung (Begriff, Gedanken, Idee, Wesen, Natur, Information
u.s.w.) eines Gegenstandes bzw. Sachverhaltes entsteht nach meinen
Überlegungen durch die Synthese aller drei Repräsentationssysteme und durch
die Integration zusätzlicher Bedeutungen. Diese
(Gesamt-)Bedeutung ist im Gegensatz zu den einzelnen Repräsentationen
der Introspektion nicht zugänglich. Denn welche direkt erkennbaren
Qualitäten sollte die Synthese aus enaktiven, ikonischen und symbolischen
Anteilen annehmen? Schon Karl Bühler stellte fest, dass ein Gedanke
etwas wäre, das einen hohen Klarheits-, Sicherheits- und
Lebhaftigkeitsgrad hätte, aber keine sinnliche Qualität aufweise. Platon
spricht davon, dass Ideen gestalt- und farblos seien.
Zu vermuten ist, dass ein geringer Anteil von Handlungserfahrungen und
Eigenwahrnehmungen von Wirklichkeit Bedeutungen erzeugen, die
hochgradig anfällig für Heteronomien sind, wobei zu fragen bleibt, welchen
innerpsychischen Status solche wenig eigenfundierten Bedeutungen einnehmen.
Haupteinsicht aus der kognitiven Perspektive:
Die körperliche Aneignung und sinnliche Primärerfahrungen sind im
Erkenntnisprozess unverzichtbar. Selbst für einen so kognitiv-geistigen
Begriff wie Bedeutung sind Körper und Sinne konstitutiv. Ihr Anteil wird
aber in der dominanten Weltaneignung immer kleiner.
4. Die anthropologische Perspektive: Weltbezogenheit und Körper
Hier werden zwei Aspekte thematisiert: a) das existentielle Verhältnis des
Menschen zur Welt und b) die Bedeutung des Augen-blicks.
a)Wir sind in der Welt. Die Welt ist mit Sicherheit auch materiell.
Sie ist voller Gegen-stände, mit denen wir umzugehen haben. Wir sind zu
materiellen Beziehungen verurteilt. Mit Hilfe von Symbolen oder Maschinen
vermögen wir, einen Teil dieser Beziehungen zu indirekten zu machen -
aber nicht alle. Selbst wenn ich lese, ist immer noch Materielles
unaufhebbar im Spiel, nämlich die materiellen Zeichen und das Medium Buch –
von meiner eigenen Körperlichkeit ganz abgesehen. Die inzwischen
berühmt gewordene Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von Perry Barlow
"Endlich gewinnen die Kräfte des Geistes die Oberhand über die rohe Macht
der Dinge. Unsere Welt (des Cyberspace, BM) ist überall und nirgends;
und sie ist nicht dort, wo Körper leben. Es gibt im Cyberspace keine
Materie"(nach Münker 1997, S. 111) stimmt nicht und wird nicht
stimmen, zumindest solange Menschen einen Körper haben.
Der Mensch ist ein Wesen des Dazwischen: Einssein mit der materiellen
Welt ist für ihn schon deswegen existentiell unmöglich, weil
Erfahrungen, die prinzipiell auf Unterscheidungen beruhen, dann nicht
gemacht werden können. Aber auch die absolute körperliche Trennung von Welt
ist unmöglich, weil wir existentiell auf Welt verwiesen sind - ob wir
es wollen oder nicht, es gut finden oder nicht. Das prekäre
Dazwischen ist unsere eigentliche Lebenswelt, wir haben keine absolute
Heimat, sind aber auch nie absolut in der Ferne.
Auch wenn man die Einwände gegen eine absolut geistige
Welt des Menschen teilt, könnte man trotzdem dieses Manifest als
orientierendes Ideal für die Überwindung des Körpers nehmen. Es gibt dafür
einige Argumente: Ohne Zweifel hat sich die große Mehrzahl der
Bevölkerung noch vor fünfzig Jahren körperlich geschunden. Ein Bauer, der
mit sechzig Jahren nicht körperlich verschlissen war, galt als faul.
Befreiung von körperlicher Fron ist zweifelsfrei ein humanes Ziel.
Abzulehnen ist aber das explizit oder implizit bestehende
dominierende Ziel der "Befreiung" von jeglicher körperlicher
Betätigung im Alltag und die Verweisung der Bewegung in Reservate (Stichwort
Fitnesszentrum), eine Auffassung, in der körperliche Tätigkeiten im Alltag
obsolet, folgenlos und den Charakter des Sich-Lächerlich-Machens
annehmen. Der Kern der inneren Logik der Bequemlichkeit ist der Tod,
d. h. die absolute Bewegungslosigkeit.
b)Die phänomenologisch deutlichste Einheit von Geist und Körper ist
vielleicht der Augenblick, der, wenn es einer ist, immer der wechselseitige
Blick zweier lebendiger Menschen ist: Meine Augen sehen in die Augen
eines anderen Menschen, und der Andere und ich nehmen diese
Wechselseitigkeit wahr. Der Blick auf den Nachrichtensprecher
oder auf den hinter getönten Autoscheiben Sitzenden ist kein Augenblick,
sondern eine Wahrnehmung. Augenblicke, die an Häufigkeit abnehmen, sind von
höchster anthropologischer Bedeutsamkeit. Menschen als
Elementarteilchen (Houellebecq) sind in der Produktions- und
Konsumsphäre funktional nicht mehr auf Augenblicke angewiesen.
Hier liegen übrigens Wert, Chance und Stärke der Schule, denn man kann
Schule auch als einen Ort der Augenblicke interpretieren.
Haupteinsichten aus der anthropologischen Perspektive:
a)Es gibt ein jeweiliges Optimum von Kontakten zwischen menschlichem
Körper und den ihn umgebenden belebten und unbelebten Dingen und Körpern.
b) Der Augenblick ist immer einer zwischen zwei lebendigen Menschen. Seine
Bedeutung in der seelischen Entwicklung und für die sozialen Beziehungen
wird oft unterschätzt.
5. Die kinästhetische Perspektive: Die Eigenenergie in Lern- und
Bildungsprozessen
Aus der Lern- und Bildungsperspektive ist die Thematisierung der
Eigenbewegung bzw. des Sich-Bewegens mit metabolischer Energie (I. Illich)
im Gegensatz zur Fremdenergie, externer Energie oder zum
Transportiert-Werden deswegen so wichtig, weil hier auch die physiologische
Fundierung von Selbständigkeit und Weltabbildung stattfindet. Wie das? Die
den Menschen zur Verfügung stehende Energie kommt entweder
aus ihm selbst oder aus anderen lebenden Organismen oder wird
künstlich ge- bzw. entfesselt (von Wind über Brennmaterialien bis zum
Atom). Wenn der Mensch seine eigene Energie in innere oder äußere
Sinn-Formen gießt, schafft er selbst Voraussetzungen für Fertigkeiten
und Fähigkeiten, für effektives Handeln und für Bildung. Fremdenergie und
Fremdformung leisten das nicht. Aneignung ist immer ein aktiv-subjektiver
Vorgang des Suchens, der Unsicherheit, des Zweifels, des Scheiterns, aber
auch des Findens und Gelingens. Erst in dieser ganzheitlichen und riskanten
Auseinandersetzung mit Welt und mit sich selbst entsteht Vertrauen zu sich
und damit selbstsicheres, weil ausgewiesenes Können und Wissen. Auch Mühe
scheint ein integraler Bestandteil dieses Wachstums zu sein. Darin liegt
sicherlich auch der Reichtum und Intensität kindlicher Welten
begründet. Die Welt muss noch mit Eigenenergie erkundet
werden, nass und vollkommen erschöpft wird doch noch das
rettende Versteck erreicht. Ins Grundsätzliche gewendet: Woher kommt
bzw. wie entsteht Selbstsicherheit? Sicherlich aus Zuschreibungen,
Glauben oder Reflexionen, aber auch aus Beobachtungen und vor allem
aus dem eigenen Tun. Dieses Tun erzeugt eine Qualität von Sicherheit, über
die die anderen Erkenntnissysteme nicht verfügen: Denn nur im Tun
wird Welt direkt, wenn Unmittelbarkeit überhaupt möglich ist, abgebildet. Im
Medium der Eigenenergie als Eigenbewegung findet eine gestalthafte
Abbildung der jeweiligen Realität statt. Mit eigenen Händen bauen, zu Fuß
gehen, mit dem Fahrrad fahren, all das sind Tätigkeiten, die mit
Eigenenergie realisiert werden. Es macht einen Unterschied, ob der Schüler
das Arbeitsmittel selbst aus dem Regal holt oder es auf dem
"Stationstisch" vorfindet. Wenn ich mit dem Fahrrad über den Berg
fahre, also auf das Auto verzichte, werden bestimmte Muskeln aktiviert, die
genau die Struktur des eingeschlagenen Weges speichern. Zwischen
erfahrener Welt und aktiviertem Muskelsystem besteht ein Verhältnis
der genauen Entsprechung (der Isomorphie). Eine solche „muskuläre Abbildung“
ist die physiologische Aneignung von Welt, wobei viele Wiederholungen diese
Aneignung differenzieren und stärken. In der Literatur wird diese Fähigkeit
dem Bewegungs- und Stellungssinn zugeordnet. Das kinästhetische System hat
"kein eindeutig lokalisierbares Sinnesorgan, über das die entsprechenden
Reize aufgenommen werden können. Die für die Tiefensensibilität zuständigen
Rezeptoren liegen vielmehr über den ganzen Körper verstreut in den Muskeln,
Sehnen, Bändern und Gelenkkapseln" (Zimmer 1995, S. 115). Diese
breite Sensibilität ermöglicht eine relativ differenzierte körperliche
Abbildung. Übrigens liegt in diesem Modell die Fruchtbarkeit der von mir
oben vorgestellten fundamentalen Dualität von Muskeln und Nerven: Die
sinnliche Wahrnehmung des eigenen Muskelsystems, nicht der Welt, ist
die Quelle des kinästhetischen Systems. Weltaneignung über das
kinästhetische System ist tiefer fundiert, weil drei Systeme beteiligt sind:
Muskel-, Nerven- und Weltsystem. Während bei der Beobachtung nur zwei
Systeme, Nerven und Welt, und bei der logischen Analyse nur eins, nämlich
das Nervensystem allein beteiligt ist.
Wichtig in diesem Zusammenhang, weil oft ausgeblendet, ist auch
folgender Aspekt: Das kinästhetische System ist unverzichtbar für die
Weltaneignung nicht nur in der Kindheitsphase (wie es die
Entwicklungspsychologie mit Recht lehrt), sondern in allen
Lebensphasen. Mit der Reduzierung kinästhetischer Aktivitäten
werden gleichzeitig Ding- und Raumerfahrungen
reduziert und damit auch Sinn und Bedeutungen (bekanntlich besteht eine enge
Beziehung zwischen Sinne und Sinn).
Haupteinsicht aus der kinästhetischenPerspektive:
Die kinästhetische Fundierung schafft, neben Welterkenntnis,
Selbstvertrauen und Selbstsicherheit. Eigenschaften, die für Lern- und
Bildungsprozesse von größter Bedeutung sind.
Handlungs- und schülerorientierte Unterrichtskonzepte weisen in diese
Richtung.
6. Die gesellschaftliche Perspektive: Der vermittelte Körper im Alltag
„Da es dem König aber wenig gefiel,
dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend,
sich querfeldein herumtrieb,
um sich selbst ein Urteil über die
Welt zu bilden,
schenkte er ihm Wagen und Pferd.
"Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen",
waren seine Worte.
"Nun darfst du es nicht mehr",
war sein Sinn.
"Nun kannst du es nicht mehr",
deren Wirkung.“
Aus "Kindergeschichten" (Anders 1980,
S. 97)
In der bisherigen Behandlung der fünf Perspektiven hat sich
immer wieder implizit gezeigt, dass grundsätzlich von der
gesellschaftlichen Modellierung des Körpers nicht abstrahiert werden
kann und darf. Heute haben viele Körpernormierungen
ihren Ursprung in Jugendkulturen. An dem Beispiel erkennt man gut,
dass Normierungen heute nicht mehr primär durch äußere Regeln
(wie die Militarisierung in der Wilhelminischen Gesellschaft) oder durch
äußere Bedingungen (wie das Fließband) durchgesetzt werden, sondern die
Formierung und Reduzierung der Möglichkeiten des Körpers und seiner
Bewegungen aus einem Wechselspiel sich gegenseitig stärkender
Subkulturen und Wirtschaft entstanden sind.
Die Frage nach den gesellschaftlichen Bestimmungsfaktoren der Körper- und
Bewegungsmodellierungen ist sicherlich nur plural und systemisch zu
beantworten. Ich meine aber, dass die von Peter Sloterdijk in
Anschluss an Heidegger entwickelte anthropotechnische Perspektive als eine
Antwort besonders fruchtbar und geeignet ist: Der Mensch war und ist
zum Bauen von Behausungen und deren Weiterentwicklung gezwungen. Da er heute
ausschließlich auf durch Technik Gemachtes (Vico) stößt, werden
Anthropologie und die Rede von der Natur zu Ideologien, weil es
die reine Natur und den Menschen an sich nicht mehr gibt (wenn es ihn
überhaupt jemals gab). Die Trennung zwischen Subjekt und Objekt (Welt) wird
obsolet. Die ursprünglich vermittelnde Technik wird zur unabhängigen
Variablen des Gesamtprozesses. Der Mensch wird zu einer Funktion der
Technik. Nur im Scheine, als Täuschung meint er, Subjekt zu sein. Er kann
sich offensichtlich den jeweiligen technischen Ausformungen und
Anforderungen über einen längeren Zeitraum hinweg nicht
entziehen. Ihre Auswirkungen auf den Körper und seine
Bewegung sind – wie bereits gesagt – ambivalent: Entlastung und Belastung.
Um dies zu bewerten, bedarf es des genauen analytischen und
ideologiekritischen Blicks verbunden mit großer Selbstkompetenz, Ich-Stärke
und Eigenverantwortung. Ein wesentliches Problem hierbei besteht
darin, dass fast jede Entkörperlichung aus evolutionären Gründen als
Wohlbefinden verarbeitet wird. Lediglich die sexuelle Praxis scheint
dieser Auffassung gegenüber noch relativ resistent zu sein.
Damit wäre auch das für mich so schwer zu begreifende Phänomen erhellt, dass
die sich durchsetzende Entkörperlichung und Bewegungslosigkeit (im obigen
Sinne) nicht nur nicht bedauert, sondern begrüßt, bejubelt und
(nahezu) von allen gewollt wird: Hinzu kommt - gewissermaßen flankierend
sichernd -, dass die Zerstörung des realen beweglichen
Körpers mit seinem vielfältigen realen Können zeitgleich begleitet wird mit
einer ungeheuren Entfaltung des Körpers im Modus des Bildes
als abgezogene Wirklichkeit, als Schein. Der Körper im Schein erlangt
eine omnipräsente Realität in Zeitungen, Zeitschriften, Werbebeilagen, an
Plakatwänden. Überall sehen wir wohlgestaltete Körper und Gesichter aus
unterschiedlichsten Perspektiven, Distanzen und Ausschnitten, die
natürlich wieder in die Bewusstseine als Aufgaben und Zwänge zu
Körpermodellierungen im Habitus und im Outfit zurückwirken. Das Subjekt wird
dadurch auch bezüglich seines Leibes zum Konsumenten. Seine
Hauptleistung besteht darin, den Leib in einer
einzigen Dimension, in der bildlich-ästhetischen zu rekonstruieren, während
alle anderen Funktionen vernachlässigt werden und auf das
Notwendigste beschränkt bleiben. Das Streben nach eigener Schönheit hat es
sicherlich immer schon gegeben, aber die tendenzielle Verabsolutierung
dieser Dimension und deren Normierung ist wohl neu, mit Sicherheit
aber inhuman. An einem historischen Beispiel erläutert: Abraham
Lincoln wäre unter heutigen Bedingungen trotz seiner überragenden geistigen
und sittlichen Potenzen nicht Präsident der Vereinigten Staaten geworden -
sein Aussehen hätte das nicht zugelassen. Das Entscheidende besteht darin,
dass Lincoln sicherlich wusste oder ahnte, dass er kein schöner Mann sei.
Aber er hat diese Dimension nicht verabsolutiert und internalisiert, hat
eben nicht gedacht, dass sie ein wesentlicher Hindernisgrund für seine
Kandidatur sein könnte. Ein moderner Politiker dagegen muss diese Dimension
bedenken, muss seine reale Gestalt gegen eine gestylte tauschen – wobei
bekanntlich Tausch und Täuschung sehr nahe beieinander liegen können.
Aber das scheint kein großes, gar existentielles Problem mehr zu sein
- im Gegenteil. Aus evolutionärer, technologischer oder
wirtschaftlicher Perspektive kann man den Körper unter gegenwärtigen
Bedingungen plausibel als ein nahezu überflüssig gewordenes
Gesamtorgan interpretieren: Körperliche Eigenkraft und körperliches
Können werden nicht mehr in nennenswertem Ausmaße in der Produktion
und für die Ortsveränderung gebraucht. Wie der Aktenordner im
Büro oder das Buch im Dozentenzimmer als materiale Körper überflüssig
geworden sind und unnötigerweise Räume ausfüllen, die für andere Dinge
und Prozesse sinnvoll genutzt werden könnten, so kann diese Sicht auch auf
menschliche Körper ausgedehnt werden. Man könnte fragen, warum
überhaupt Institutionen wie (Hoch-) Schulen, Theater, öffentliche Räume oder
Geschäfte mit Menschen füllen, sie also in der Zeit durch Orts- und
Raumwechsel "vervielfältigen", statt sie ein für allemal in einem
bestimmten Raum zu belassen, von wo aus sie in virtuellen Räumen, die
realen nachgestaltet wären, tätig werden würden. Chatrooms
und Onlineshopping zeigen, dass es sich hier nicht mehr um Utopien
handelt, sondern um eine neue Realität, die ständig ausgebaut wird, allein
weil diese Entwicklung innerhalb der Logik der technologischen Moderne
liegt, die - um es noch einmal deutlich zu betonen - idealiter gänzlich ohne
menschlichen Körper auskäme.
Aber der Körper, genauer der Restkörper, fügt sich nicht umstandslos.
Er ist immer noch vorhanden und erhebt Ansprüche. In der Regel systemkonform
befriedigt er diese in Diskotheken, in Einkaufszentren, auf Fernreisen mit
dem garantierten Flug über die jeweiligen Naturschönheiten und in
abgeschwächter Form, wenn der Fernsehzuschauer mehr Life-Sendungen statt
Konserven fordert. Realität scheint immer noch einen Wert zu besitzen,
auch wenn sie inszeniert, von allen Zufällen, subjektiven
Steuerungsmöglichkeiten und Unzumutbarem gereinigt ist. Nur in
diesem Bedingungsrahmen dürfen und können Körper Realitäten erfahren.
Hier gibt es noch Alternativen, hier gibt es noch Streit. Forderungen nach
anderen Realitätserfahrungen gelten allerdings undiskutiert als
anachronistisch oder ideologisch, zumindest sind sie folgenlos.
Aber nicht nur Bilder und die konstruierten Wirklichkeiten sind ambivalent,
sondern Gleiches gilt auch für die Sprache, die bekanntlich
Wirklichkeit entdecken, aber leider auch verdecken kann. An dem
Gebrauch des Begriffs "Erfahrung" sei aufgezeigt, dass bestimmte
sprachliche Strukturen Analyse und Rationalität behindern können: Wenn
ich Auto fahre, mache ich eben wenige Erfahrungen mit kinästhetischer
Fundierung. Der inhaltlich korrekte Satz : "Ich werde vom Auto zu dem
von mir bestimmten Ziel transportiert bzw. bewegt" klingt zumindest in
der Alltagskommunikation mehr als gekünstelt, wäre aber notwendig, um
falsches – von interessierten gesellschaftlichen Kräften befördertes –
Bewusstsein abzubauen. Der Einwand, dass über falsches bzw. richtiges
Bewusstsein aus prinzipiellen Gründen nicht geredet werden dürfe, halte ich
für das Ende von Politik und Humanität, wenn man nicht von einer
prästabilisierten Harmonie zwischen diesen zivilisatorischen
Ausformungen einerseits und Technik-Kapital-System andererseits ausgeht.
Dass die Auseinandersetzung um die gute Lösung nicht auf diesem hohen
Abstraktionsgrad, sondern primär in konkreten Situationen geführt werden
muss („Wollen wir heute selbst Tennis spielen oder Tennis im Fernsehen
`erleben´“), versteht sich von selbst. Das Gerangel bzw. Ringen um die
ganz großen Menschen– und Weltbilder, um absolute Wahrheiten ist
in der Praxis oft nicht hilfreich. Der wertende Vergleich von ähnlichen
(kleinen) Situationen hat eben größere Erfolgschancen auf rationalen Diskurs
und Einigung.
Der Alltag mit seinen Räumen und Zeiten ist meiner Ansicht nach die
entscheidende Dimension: Erst wenn der Körper sich aus
Verpanzerungen und Bewegungslosigkeit in Normalsituationen, in denen
wir arbeiten, uns fortbewegen, unsere Freizeit gestalten, uns ausdrücken,
etwas miteinander tun usw., befreit, erst dann wird er sein
fruchtbares Potential entfalten können und als unverzichtbare Quelle des
Genusses, der Erfahrung, der Erkenntnis wirken. Poetisch ausgedrückt
und auf menschliche Begegnungen gewendet:
„Nur, wo sich der Mensch am Menschen stößt und reibt, entzündet sich Witz
und Scharfsinn,
nur, wo sich der Mensch am Menschen sonnt und wärmt, entsteht Gefühl und
Phantasie,
nur, wo der Mensch zum Menschen spricht, nur in der Rede, einem
gemeinsamen Akt, entsteht die Vernunft.“ (Quelle unbekannt)
Haupteinsicht aus der gesellschaftlichen Perspektive:
Die tendenzielle Stillstellung des Körpers ist, auch wenn sie subjektiv als
Befreiung wahrgenommen wird, eine Enteignung, die auch negative Folgen auf
die geistige Freiheit hat. Ein genauer analytischer Blick und Ich-Stärke
können diesen Prozess in selbstbestimmte Bahnen lenken.
Pädagogischer Ausblick
In der Theorie und Praxis der Pädagogik hat sich in der Körper- und
Bewegungsdimension vieles zum Besseren gewendet und zwar umgekehrt
proportional zu den realen gesellschaftlichen Entwicklungen. Was hier
an Bewegungskulturen verschwindet, wird dort wieder (zumindest
teilweise) aktiviert. Bewegte Schule, Bewegungserziehung, Bewegungspausen,
Offener Unterricht, Gestaltpädagogik, Handlungsorientierter Unterricht,
Projektmethode, Gesundheitserziehung, Spielpädagogik, Öffnung der Schule
sind Konzepte, die Körper und Bewegung Raum geben, aber nicht als
Selbstzweck, sondern als Bedingung für gelingende Lernprozesse.
Ziel und Hoffnung dieser Abhandlung in pädagogischer Absicht ist,
positive Trends durch einige nicht im Zentrum der Diskussion stehende
Aspekte und Strukturen zu stärken.
Literatur:
Anders, G., 1980: Die Antiquiertheit des Menschen. München: Beck
Brooks, R., 1991: Intelligence without representation. Artificial
Intelligence 47
Dennett, D., 1990: Cognitive Wheels. The Frame Problem. In: Boden, M.
(ed.): The Philosophy of Artificial Intelligence: Oxford
Gold, Engel (Hrsg.) 1998: Der Mensch in der Perspektive der
Kognitionswissenschaften. Frankfurt am M.: Suhrkamp
Kant, I.,1966: Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart: Reclam
Münker, S.: Was heißt eigentlich: "Virtuelle Realität"? In: Münker,
S./Roesler, A.(Hrsg.), 1997: Mythos Internet. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Zimmer, R., 1995: Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer
ganzheitlichen Erziehung. Freiburg i. Br.: Herder
(erschienen in: Schulze-Krüdener, J., Schulz, W., Hünersdorf, B.: Grenzen
ziehen – Grenzen überschreiten. Baltmannsweiler 2002 (Schneider-Verlag)
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II. Eigenbewegung – Urbanität – Gesundheit (Kurzvortrag zum Thema "Eigenbewegung", gehalten am 15. 9. 10 auf dem 5. Hamburger Gesundheitstag)
Theorie 1: Statt von Bewegung spreche ich lieber von "Eigenbewegung in Alltagsituationen". Warum dieser umständliche Ausdruck? Damit sollen zwei häufig auftretende Missverständnisse vermieden werden.
T 2: Das erste Missverständnis bezieht sich auf den Begriff "Bewegung": Denn oft hört man den Satz "Ich bin beweglich", womit beileibe nicht immer die körperliche oder geistige Beweglichkeit gemeint ist, sondern schlicht, dass man ein Auto zur Verfügung hat. Oder umgekehrt hört man von Menschen, die fit wie ein Turnschuh sind, "Ich bin unbeweglich", d. h. im Klartext "Ich habe kein Auto". Eigenbewegung, sei es zu Fuß oder mit dem Rad, beruht ausschließlich auf muskulärer Tätigkeit, die von Eigenenergie gespeist wird. Wenn man dagegen seine Muskeln nicht mehr einsetzt, trotzdem aber Ortsveränderungen durchführt, spreche ich von Fremdbewegung. Im Auto ist man unbeweglich, denn nur das Auto bewegt sich.
T 3: Das zweite mögliche Missverständnis entsteht dann, wenn - wie so häufig - Eigenbewegung auf Sport reduziert wird. In der sportlichen Tätigkeit, außer Mannschaftssport, liegt das ganze Interesse auf dem Sportler selbst, aber die Umwelt, das Stadion, das Zimmer, in dem der Hometrainer steht, interessieren nicht. Beim Sport besteht eben keine wertgleiche Einheit von Sportler und Umwelt. Und das ist genau der entscheidende Punkt. Bei der Eigenbewegung in Alltagswelten sind beide Pole, Mensch und Welt, stark und bedingen sich gegenseitig. Je stärker sie sich gegenseitig durchdringen, desto stärker sind auch beide Pole. Deswegen meine ich, auch wenn ich verkürzt nur von Eigenbewegung spreche, immer "Eigenbewegung in Alltagswelten" und niemals Sport,
T 4: Im Folgenden begründe ich die Einheit von Mensch und Welt in der Eigenbewegung mit dem Handlungsbegriff. Eigenbewegung ist eine Handlung. Zu jeder Handlung gehören immer ein Handelnder und eine Situation. Auf unser Thema bezogen: "Ich gehe vom Dammtor zum Fischmarkt" oder "Ich fahre mit dem Auto vom Dammtor zum Fischmarkt". Die Entscheidung, ob ich zu Fuß gehe oder mit dem Auto fahre, treffe ich ganz allein. Hier bin ich der Chef, hier bin ich ein autonomes Subjekt. Allgemein ausgedrückt: In einer Entscheidung bestimmt der Handelnde die Handlung. Mit Beginn der eigentlichen Handlung kehrt sich aber das Verhältnis um: Die Handlung bestimmt nun weitgehend den Handelnden. Das ist die neu zu lernende Einsicht. An meinem Beispiel: Wenn ich zu Fuß durch Altona laufe, entsteht ein anderes Ich (ein anderer Boje), als wenn ich mit dem Auto durch Altona fahre.
T 5: Und es entsteht gleichzeitig ein Zweites, eine andere Situation und damit für mich eine andere Welt: entweder ein "Fuß-Altona oder ein "Auto-Altona", also zwei verschiedene Altonas, zwei verschiedene Lebenswelten. Verallgemeinert: Die Summe meiner Handlungen im Laufe meines Lebens ergibt mein Ich und meine Welt. Meine Welt ist immer eine subjektive Lebenswelt. Eine Handlung erzeugt immer einen subjektiven Pol und einen objektiven Pol. Der objektive Pol muss nicht spektakulär sein wie das Bezwingen des Mount Everests, sondern es geht im Kern um alltägliche Eigenbewegung in natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelten. Übrigens, wenn ich als Handlungsträger nicht aktiv werde, also den subjektiven Pol schwach lasse, entsteht zwar auch eine Welt, aber diese ist schattenhaft und irgendwie uneigentlich. Da kann ich noch so lange vor dem Fernsehapparat oder im Auto sitzen. "Wirkliche" Wirklichkeit ist immer eine unaufhebbare Einheit von Mensch und Welt.
T 6: Alles kommt also auf die inhaltliche Qualität der Handlungen an, ob ich zu Fuß gehe, das Fahrrad nehme oder ins Auto steige. Das muss entschieden werden. Warum? Der Eigenbewegung in Alltagswelten geht es sehr schlecht, der Fremdbewegung sehr gut. Viele, ja offensichtlich die meisten von uns, sehen darin kein Problem, aber die Fremdbewegung erzeugt sowohl auf dem Subjektpol als auch auf dem Objektpol massive Probleme.
T 7: Probleme bezogen auf den Subjektpol: Warum ist es schlecht, wenn es der Eigenbewegung schlecht geht? Als unsere Vorfahren vor 10 000 Jahren noch als Jäger und Sammler lebten, mussten die Männer jeden Tag ca. 30 Kilometer laufen, um den Energiebedarf ihrer Sippe zu decken. Der Körper und seine Organe haben sich seit dieser Zeit nicht grundsätzlich verändert. Wie sieht es heute mit der Eigenbewegung aus? Dazu drei empirische Befunde: Außerhalb von Häusern läuft der Durchschnittsbürger nur noch 650 Meter, insgesamt macht er täglich noch 2000 Schritte. Die Hälfte aller Autofahrten liegt unter drei Kilometer. Man gehe zu Fuß durch ein x-beliebiges Stadtviertel: Autos wie Sand am Meer, aber sich bewegende Menschen - nahezu Fehlanzeige. Wir sind tatsächlich zu einer sitzenden Gesellschaft geworden. Deshalb sind die meisten Krankheiten der Gegenwart so genannte Zivilisationskrankheiten, die wiederum primär auf Bewegungsmangel beruhen.
T 8: Probleme bezogen auf den Objektpol: Früher beruhte die wenige Fremdbewegung auf Sänftenträger und Pferdestärken. Heute beruht die Fremdbewegung ausschließlich auf motorenbetriebenen Maschinen. Und diese Umstellung von Eigenbewegung auf Fremdbewegung ist die Hauptursache des gigantischen Umbaus der Gesellschaft, unserer Städte und Landschaften, ja des Menschen mit positiven, aber eben auch negativen Effekten. Positiv: Weg von harter körperlicher Arbeit; negativ: Klimawandel und das Verschwinden des Menschen im Modus der Eigenbewegung aus Stadt und Landschaft.
T 9: Wenn diese Analyse stimmt, kann es nur Aufgabe sein, die Eigenbewegung zu stärken und die Reste der urbanen Bewegungskultur zu erhalten und zu erweitern.
Dass Eigenbewegung in Alltagswelten etwas ganz Tolles, ein Gewinn von Lebensqualität, eine Existenzbedingung für erfülltes Leben und eben kein Verlust und kein Opfer ist, will ich in acht kurzen Aussagen unter dem Motto "Einfach losgehen." auf den Punkt bringen. Wer es drastischer mag, kann übrigens auch sagen "Move your ass and not your car". Ich bleibe aber bei unserem Motto.
Praxis 1: Einfach losgehen und Du tust Deinem Körper etwas Gutes: Zusätzlich zu den von Frau Buchholz bereits genannten Wohltaten tust Du Gutes für Deine Gelenke und Dein Bindegewebe, für Deine Knochen, Haut, Muskeln, Lunge, Verdauung, Herz-Kreislauf-System - und Du hältst deinen Körper in Form, was ja nicht unbedingt eine Modelfigur sein muss.
P 2: Einfach losgehen und Du tust Deinen Sinnesorganen etwas Gutes: Die Augen bekommen eine viel größere Bewegungsfreiheit: Sie können weit und nah, langsam und schnell blicken, schweifen lassen und beobachten. Das Ohr hört Kinderlachen, Gesprächsfetzen, Kirchenglocken, Vogelgesang, Straßenmusiker, Hundebellen, den Sturm, aber auch aufheulende Motoren und vielleicht auch Weinen. Die Nase riecht den Bratengeruch aus dem Lokal, aber auch den Autogestank und vielleicht auch den unangenehmen Uringeruch aus einer dunklen Einfahrt. Jedes Haus und jeder Laden hat seinen eigenen Geruch. Du fühlst den Sand unter Deinen Füßen, spürst Deine Muskeln beim Treppensteigen und genießt die zufällige kurze Berührung mit einem sympathischen Menschen.
P 3: Einfach losgehen und Du tust Deinem Geist etwas Gutes: Zwischen äußerer körperlicher und innerer geistiger Bewegung besteht eine direkte Beziehung. Das wusste Nietzsche und das weiß die Lernpsychologie, Stichwort: Dyskalkulie, also Rechenschwäche. Die Kurzformel dazu lautet: from locomotion to cognition (und umgekehrt). Im Gehen werden Erinnerungen ausgelöst und zumindest potenziell wird die Wahrnehmung geschärft, so auch der Blick für das Nicht-Spektakuläre, sei es ein spielendes Kind, ein mächtiger Baum oder ein schöner Mensch. Beim Gehen bist Du offener für spontane Ereignisse.
P 4: Einfach losgehen und Du tust Deiner Seele etwas Gutes: Die Seele gewinnt über reale, nicht phantasierte Leistungen Ich-Stärke und Selbstsicherheit. "Ich kann ohne fremde Hilfe vom Dammtor zum Hafen laufen." In der Eigenbewegung wird das Gesamtempfinden positiv, man fühlt sich stärker und ist es auch. Man ist behänder - wie Nietzsche es ausdrückte. Und du bemerkst, wie schön es sich anfühlt, sich selbst zu bewegen. Aber Vorsicht vor Paradiesideologien. Manchmal muss man auch mutig und willensstark sein, um mit Ermüdung, Resignation und eigener Schwäche umzugehen. Das haben wir weitgehend verlernt. Vielleicht fühlt sich so ein Tier, das ausgewildert wird: Eine Mischung aus unbändiger Freude und Angst vor dem Neuen.
P 5: Einfach losgehen - die Praxis der Eigenbewegung im Alltag ist einfach und kostet nichts: Man geht aus dem Haus und los geht es. Es kostet zumindest weniger Überwindung als sein tägliches bzw. wöchentliches sportliches Pensum zu absolvieren. Hier Gewohnheiten schaffen, ist oft sehr hilfreich. Nur auf die Bekleidung muss geachtet werden. Die Eigenbewegung kann zielgerichtet sein, aber man kann sich auch treiben lassen. Sucht auch gute Wege, das sind oft Schleichwege.
P 6: Mach ein Experiment - eine Woche ohne Auto. Schleiche Dich so langsam aus der Autosucht heraus. So haben wir unser Bewegungsverhalten peu a peu umgestaltet und dafür ein intensiveres und reicheres Leben erhalten.
P 7: Einfach losgehen - und man betritt, wenn auch andere losgehen, eine lebendige Bühne, die hier Urbanität heißt: Man sieht und wird gesehen; Du kannst Dich ausdrücken und gleichzeitig empfängst Du Eindrücke. Das Gehen ist Ausdruck der Persönlichkeit und ihrer jeweiligen Stimmung. Es ist schön, einen Augen-blick empfangen zu dürfen. So entsteht soziale Nähe. Eine lebendige Stadt ist deshalb auch ein Lernort für Interaktions- und Kommunikationsfähigkeiten, für Empathie, für Regeln, wie man sich anlächelt, aneinander vorbeigeht, eine Bemerkung macht. Urbanität heißt vielfältige Aktivitäten: schnell laufen, schlendern, stehenbleiben, auf der Bank sitzen, spielen, vielleicht sogar tanzen. Deshalb darf Urbanität nicht auf Events reduziert werden, in denen Gleichschaltung stattfindet: Alle tun dasselbe, nämlich hingucken und hinhören.
P 8: Einfach losgehen - und Du leistet einen Beitrag nicht nur zur urbanen Lebendigkeit, sondern auch zur Erhaltung Deines Quartiers, der Schönheit seiner Architektur, Straßen und Plätze. Du verursachst keinen Krach und keinen Gestank. Deinetwegen muss kein Gebäude abgerissen und kein Baum gefällt werden. Wenn Du losgehst, um in Deinem Viertel einzukaufen - und das ist ganz wichtig - lieferst Du einen gar nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag zur Erhaltung von Vielfalt. Das wäre auch ein politischer Beitrag, denn das müsste ein Signal für die Kommunalpolitik sein, fuß- und radfahrerfreundliche Wege verstärkt einzurichten und den Autoverkehr zurückzudrängen. Beide Maßnahmen bedingen einander. Eigenbewegung ist die notwendige Bedingung für die Wiederbelebung und Wiederbeseelung der Stadt.
III. Der Tod des Autos wäre das Ende vieler Krankheiten
Der
Tod des Autos wäre das Ende vieler Krankheiten
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Im Onlinemagazin "Illey" im Ferbruar 2009
IV. Manuskript: Du kannst mehr als Du denkst (unveröffentlicht)
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