Beiträge zur politischen Anthropologie und Ökologie
Stand: 13. 2. 2019
Es handelt sich um kleinere und größere Arbeiten von mir,
die sicherlich hier und da erweiterungs- und verbesserungsfähig sind.
Diese Artikel verstehe ich als "funktionale" Bausteine, die
die Theorie der Eigenbewegung zusätzlich fundieren sollen.
Notate für Interessierte
Wandern im Spiegel der Eigenbewegung
Wie das Wie realisieren- Erste Gedanken zur atomfreien Zeit nach Fukushima
Klassen und Klassenbewusstsein
Entgegensetzen und Unterscheiden
Der Motor aus anthropologischer Sicht
Warum der Begriff der Eigenbewegung unverzichtbar ist? - Das „motorisierte Auge“ ist eine Defizitform
Banken und Gesellschaft
Die gute und die schlechte Seite der Moderne
Eigenbewegung (in Wikipedia gelöscht)
".....und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge."
Einige Vorüberlegungen zum Sich-Bewegen in pädagogischer Absicht
Konservativismus bei der CDU und Grünen
Gedanken zum Verzicht
Warum macht es Sinn, Fußgängern und Fahrrädern
Vorrang vor Autos zu geben?
Abstraktion und Reduktion
Die unerträgliche Leichtigkeit des motorisierten
Seins
Zu den Notaten:
Sehr geehrte Redaktion, liebe Bekannte, Freunde und anonyme Adressaten!
Nun übergebe ich Euch/Ihnen die hoffentlich lang ersehnte Sendung Nr. 2. Falls vergessen, habe ich die Sendung Nr. 1 am Ende noch einmal angefügt. Herzlich Boje Maaßen
Sendung Nr. 2. vom Februar 2019
Notat 6 Biologische und elektrifizierte Nachteulen
In meinem Bekanntenkreis und viele meiner Nachbarn bezeichnen sich selbst als Nachteulen. Das stimmt, sie sind aber elektrifizierte, keine biologischen Nachteulen. Sollten sie nachts – so meine These – körperlich und geistig ohne Hilfe von Motoren sich beschäftigen müssen, wären viele von ihnen keine Nachteulen mehr. Dazu ein Selbstexperiment: Man lasse den Fernseher abgestellt und nehme einen anspruchsvollen Text mit ins Bett und bemerke, wie schnell die Augen zufallen.
Notat 7 Repressive und liberale Toleranz
Zwischen repressiver und liberaler Toleranz muss streng unterschieden werden. Die repressive Toleranz (Herbert Marcuse) wird vom Konsumkapitalismus, um seine Entfaltung zu ermöglichen, gefordert und durchgesetzt. Sie verhindert eine rationale Warenkritik und damit Vernunft. Dagegen setzt sich liberale Toleranz aktiv in den Feldern Kultur, Politik, Ökologie, Soziales und globales Miteinander ein und ist hier unverzichtbar. Ein Beispiel für repressive Toleranz: Auf einem autofreien Platz haben sich viele Menschen versammelt. Plötzlich startet ein Motorradfahrer voll durch und braust davon. Einige Kinder weinen. Eine Kritik am Verhalten des Motorradfahrers wird von den Eltern abgeblockt mit dem Argument „Wenn das seine Welt ist“.
Wenn Toleranz dazu dient, „Schlechtes“ zu ermöglichen und die Kritik zu verhindern, ist sie für mich repressiv, nicht liberal.
Notat 8 Materiegesetz statt Naturgesetz
Der Begriff „Naturgesetz“ führt in die Irre, denn es sind Gesetze gemeint, die in der Materie herrschen. Natur ist aber mehr als Materie. Deswegen sollte man eher von „Materiegesetzen“ als von „Naturgesetzen“ sprechen.
Notat 9 Zur Vorsilbe „er“
Die Vorsilbe „er“ dient dazu, dem betroffenen Verb mehr Tiefe und Intensität zu geben. Das „Er“ in dem Verb „erfahren“ zielt auf den Menschen, der Anteil „fahren“ mehr auf die Welt. Zusammen entsteht erst ein Ganzes. Beispiele: Erkennen ist intensiver als kennen, erleben ist intensiver als leben oder ertrinken ist existentieller als trinken. Ohne „Ers“ ist der Mensch nur ein halber Mensch und damit letztlich keiner. Maxime im vermittelten Leben: Mensch, vermehre Deine „Ers“ und meide ihren symbolischen Ersatz.
Notat 10 Homogenität und Spezifikation oder das Problem der sinn- und sinnenvollen Abstraktionsebene
Die Welt wird zunehmend abstrakter, genauer realabstrakter: Abstraktionen, die es ja nur im Bewusstsein gibt, werden nach deren Maßgabe zu realen Objekten objektiviert. Diese dienen zwar menschlichen Zwecken und Zielen, sind aber auch mit mehr oder weniger großen Verlusten des so genannten Rohstoffes verbunden: Der Holzstuhl (die Realabstraktion) ist gemessen am Reichtum der Eigenschaften eines Baumes (der Rohstoff) sehr arm, insbesondere weil er nicht lebt.
Abstraktionen sind also nicht an sich gut oder schlecht, sondern deren Wert hängt vom jeweiligen Blickwinkel und deren Zielsetzungen ab. Ist das Ziel, möglichst viele Elemente in einem Begriff zusammenzufassen, muss der Abstraktionsgrad erhöht werden (= Steigerung der Homogenität). Aber damit sind u. U. unaufhebbare Verluste verbunden, denn einerseits erweitern Abstraktionen den Denkbereich, andererseits werden bestimmte Elemente in eins gesetzt. Aber, was aus Erkenntnis- und ethischen Gründen nicht homogen zusammengedacht werden kann und darf, muss konkret-individuell einzigartig bleiben (= Spezifikation). Homogenisierung legt den Akzent auf Gemeinsamkeiten, Spezifikation legt den Akzent auf die Erhaltung von Unterschieden.
Beispiele für sinnvolle Homogenisierung: Bei Rechten bis hin zur Menschenwürde ist höchste Homogenität richtig und notwendig, ebenso in der Wissenschaft und Philosophie. Beispiele für Erhalt von Spezifikationen: Die Begriffe Mobilität und Bewegung sind aus anthropologischer und ökologischer Hinsicht problematisch, wenn der entscheidende Unterschied zwischen Eigenbewegung und Fremdbewegung nicht mehr erkennbar ist und aus den Bewusstseinen verschwindet. Im Naturerleben, nicht in der Naturwissenschaft, ist die Originalbegegnung mit konkreten Lebewesen und Landschaftsformationen konstitutiv. Bilder sind deshalb kategorial Abstraktionen
Maxime: Man darf die Variationen der seienden Wesenheiten nicht unnötig verringern, nicht ohne Not auf Wirklichkeit verzichten. Wenn dieses Problem nicht bedacht wird, entsteht unweigerlich Verhexung durch Sprache
Notat 12 Gebrauchs- und Tauschwert
Marx unterscheidet mit Recht fundamental zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, um, primär vom Tauschwert gedacht, gesellschaftliche Prozesse zu analysieren. Diese Einseitigkeit hatte und hat zur Folge, dass der Gebrauchswert (und die ökologischen Folgen der Tauschgesellschaft) aus der Analyse und dem gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr angemessen berücksichtigt wird. Ich teile die Position von Robert Kurs: „Nicht mehr die Klassen- und Verteilungsfrage der alten Arbeiterbewegung in das Zentrum der Analyse und Kritik zu stellen, die im Kern nur auf eine gerechte Verteilung des produzierten Mehrwerts abzielte; vielmehr fokussierte sich die Kritik nun grundsätzlicher auf die gesellschaftlichen Produktions- und Vermittlungsformen des Werts und der abstrakten Arbeit. Vor diesem theoretischen Hintergrund erscheint der Sozialismus nicht als die große Systemalternative, sondern vielmehr als eine Alternation, eine staatskapitalistische Spielart des warenproduzierenden Gesamtsystems.“ Rechte unterstützen diese Art des Wirtschaftens direkt, traditionelle Linke indirekt. Rechte begründen das mit der Autonomie der Konsumenten, Linke mit der gerechten Verteilung der produzierten Waren und Dienstleistungen. Konsum und das entsprechende Verhalten nicht zu kritisieren, ist das Gebot der Stunde. Dieses Gebot wird von traditionellen Linken bis hin zu Gewerkschaften ohne Einschränkungen ebenfalls befolgt, indem sie das bestehende Konsumangebot als unhinterfragbar sinnvoll akzeptieren. Die Position der Frankfurter Schule, um ein Beispiel zu nennen, ist hier obsolet, die Begriffe repressive Toleranz, Entfremdung, Warenästhetik und Eindimensionalität sind aus dem politischen Vokabular verschwunden. Die nicht nur aus ökologischen Gründen notwendige Wertediskussion findet nicht statt. Stattdessen rückt einseitig die Frage nach der gerechten Verteilung des jeweiligen Mehrwerts in den gesellschaftlichen Diskurs. Diese Position wäre nur dann sinnvoll, wenn die Verteilung sich auf diejenigen Waren und Dienstleistungen beschränkt, die ohne zunehmenden Ressourcenverbrauch auskommt. Das aber setzt die Beantwortung der Wertefrage voraus. Eine Politik, die vom Primat der Ökologie ausgeht, steht sicherlich vor einer Aufgabe, die vielleicht als die schwierigste in der Menschheitsgeschichte einzustufen ist. Das impliziert auch Scheitern. Für diesen schwierigen Weg gibt es keine Alternative. Der Tauschwert ist per definitionem ökologiefrei. Zumindest mit dem Klimawandel kommen wir aber nicht umhin, Warenkritik zu üben. In dieser Hinsicht brauchen wir das Rad nicht wieder neu zu erfinden. Zur Frankfurter Schule, seien hier Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ und Wolfgang Haugs „Warenästhetik“ genannt. Deren Lektüre ist aus humanen und ökologischen Gründen aus meiner Sicht ein Muss.
Hier die Sendung Nr. 1 zur Erinnerung, falls nötig
Boje Maaßen, Weidenbogen10, 24943 Flensburg, Tel. 0461-62336
Liebe Bekannte, Freunde und „Überfallene“!
Ohne Euch/Sie gefragt zu haben, bekommt Ihr/Sie nun unregelmäßig von mir eine Mail, die in etwas fünf bis acht Gedanken enthält, von denen ich annehme, dass sie relativ originell sind. Sie können unverändert übernommen oder verbessert werden, und sie stehen frei mit oder ohne Nennung der Quelle zu Verfügung. Wenn unerwünscht, bitte ich um einen
kurzen Hinweis, damit ich reagieren kann. Mehr Informationen in „boje-maassen.de“.
Sendung Nr. 1. vom 24. Januar 2019
1. Zu Realo und Fundi: Ich denke, fundamentales Bedenken und Realpolitik ökologischer Themen ist nicht auf zwei Gruppen verteilt, sondern idealiter in einer Person vereinigt. Das ist die Vertikalisierung in eine Person der bisher auf zwei Gruppen verteilten Begrifflichkeit. Das Fundamentale muss man dabei nicht ständig raushängen lassen. Aber beide Aufgaben bzw. Bereiche sind gleich wichtig. Maxime: Fundamental denken und so viel wie möglich in Realpolitik davon durchsetzen. Historisch rekonstruiert: Die K-Gruppen („Fundis“) waren fundamental sozialistisch-marxistisch, die "grünen Grünen "waren fundamental ökologisch (also auch Fundis). Aber beide Gruppierungen arbeiteten in der Praxis mehr oder weniger realistisch („Realos“).
2. Aus einer Kolumne: „Umgekehrt! Mein Nachbar beschreibt sich selbst als umgekehrter Online-Käufer. Weil ich das nicht begriff, hat er es mir erklärt: Wenn er etwas kaufen wolle, informiert er sich oft vorher über Preise im Internet, kauft aber in den Geschäften der Innenstadt. Warum nicht gleich im Internet? Seine Antwort: Er möchte die Geschäfte der Innenstadt am Leben erhalten und möglichst stärken, denn sie sind der unverzichtbare Teil einer der schönsten Einkaufstraßen Deutschlands.“
3. Leserbrief im Flensburger Tageblatt: „Gegen die Autofixierung
Es ist Zeit für ein alternatives Verkehrskonzept, das folgende Maxime befürwortet: Nahdistanzen zu Fuß und mit dem Rad, den Rest mit Bus und Bahn. Der motorisierte Individualverkehr hat nur dort Berechtigung, wo Bus und Bahn nicht vorhanden sind. Eine solche Mobilität dient der Gesundheit, dem sozialen Zusammenleben und der Erde. Dazu eine Stimme der Vernunft „Die Stadt gehört den Menschen, nicht den Autos“ (Dieter Reiter, Oberbürgermeister von München).” Ergänzung: Der Begriff “Mobilität” hat eine Abstraktionsebene, die den wichtigen Unterschied zwischen Eigenbewegung und Fremdbewegung verdeckt. Was an Homogenisierung gewonnen wird, geht hier auf Kosten der Spezifizierung.
4. Ich denke (und danke), dass ich in der „Frankfurter Schule“ die Kritik an unnötigem Konsum gelernt habe. Diese Kritik, so meine Analyse, wurde ab 1978 von den ökologisch orientierten Grünen zu einer politischen Theorie ausgestaltet und zum Fundament ökologischer Politik entwickelt. Der Schwerpunkt lag eindeutig auf der Gebrauchswertfrage und nicht auf der Verteilungsfrage, die weiterhin vehement von Vertretern marxistischer Richtungen innerhalb der Grünen vertreten wurden. Damals konnte man den Satz „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ unbehindert denken und sagen. Auch der Song „Wir steigern das Bruttosozialprodukt“ konnte nur damals populär werden. Heute würde sofort die repressive Toleranz aktiviert. Heute ist das Thema der Gebrauchswertfrage aus dem historischen Diskurs verschwunden. Übrigens macht die Akzentuierung auf die Verteilungsproblematik eine selbstkritische Analyse der eigenen Gebrauchswertnutzung überflüssig, so dass man problemlos im SUV zur Diskussion für Gleichheit fahren kann. Eine Entwicklung, die man gegenwärtig ziemlich präzise in Frankreich beobachten kann. Es geht im Kern um Gebrauchswert- vs. Verteilungsproduktion. Dass die Verteilungsfrage zu Zeiten von Marx im Mittelpunkt stand, war meiner Ansicht zwingend. Der Kern dieses Notats: Die ökologische Bewegung hat sich systematisch aus der Frankfurter Schule heraus entwickelt. Die AKW-Bewegung war übrigens die einzige Massenbewegung, die auch von vielen Marxisten, nicht allen, mitgetragen wurde. Aber dann wurde von ihnen die Reißleine zugunsten einer gerechten Verteilung gezogen, was immer wie produziert wurde und wird.
5. Versuch einer Rekonstruktion der Hauptlinie der Entwicklung in Deutschland ab 1933:
a) 1933 – 1945 Einheit von Rassismus und wirtschaftlicher Stärke sowie technologischer Spitzenstellung (s. z. b. Cassierer)
b) ab 1945 Konzentration auf Wirtschaftswachstum und Fallenlassen der rassistischen Ideologie, was den problemlosen Übergang von a nach b erklärt.
c) ungefähr ab dem Jahr 2000 Verabsolutierung des Konsumdenkens als Selbstzweck
d) nun wird die Phase des nachhaltigen Denkens und Handelns absolut notwendig.
1. Wandern im Spiegel der Eigenbewegung
(anläßlich des Wandertags 2017 in Eisenach)
A. Zum Bewegungsbegriff
Wandern ist im Kern sich bewegen. Bewegung ist
ein essentielles Merkmal des Lebens.
In der Mechanik spricht man ebenfalls von
Bewegung. „Jeder Körper beharrt im Zustande der Ruhe oder der geradlinigen,
gleichförmigen Bewegung, wenn nicht eine Kraft auf ihn einwirkt.“ (Newton).
In der biologischen Bewegung bewegen sich die
Körper aktiv. In der Mechanik/Physik werden die Körper bewegt und diese
Bewegungen sind in höchster Abstraktion objektiviert.
Trotz dieses qualitativen Unterschieds werden
mechanische und biologische Bewegung mit dem Wort „Bewegung“ qua Abstraktion
gleich bezeichnet bzw. der Begriff „mechanisch“ wird verallgemeinert.
In der Gegenwart findet eine ähnliche,
nicht weniger problematische Gleichsetzung statt, nämlich die von
biologischer und motorisierter Bewegung. Die motorisierte Bewegung ist
ebenfalls eine mechanische. Die Gleichsetzung von biologischer und
motorisierter Bewegung im Oberbegriff „Bewegung“ ist – so meine
Überzeugung - für Mensch und Erde extrem verhängnisvoll (siehe unten).
Ein Beispiel dieser Verwechselung „Ich stehe auf dem Parkplatz“, obwohl der
Redner aktuell in meiner Wohnung ist. Deshalb schlage ich vor, das Adjektiv
„beweglich“ ausschließlich für Eigenbewegung, das Adjektiv „mobil“
ausschließlich für motorisierte Fremdbewegung zu benutzen.
Die biologische Bewegung nenne ich aus der
Perspektive der Sichbewegenden Eigenbewegung. Für diese
Bewegung wird körpereigene (metabolische) Energie für die Arbeit der
Muskeln und Nerven gebraucht, so dass aus dieser Energieform körperliche
und geistige Bewegungen bis hin zu Höchstformen in Sport und Hochkultur
werden können.
Fremdbewegung heißt aus der Perspektive der
Nutzer, andere Lebewesen oder natürliche Energien wie Wasser, Sonne
und Wind oder die heute dominierenden Motore in Anspruch zu nehmen, um
Distanzen zu überwinden.
Ich unterscheide drei Formen der Eigenbewegung:
Sport, Wandern und Eigenbewegung zu Fuß oder Rad im Alltag. Diese
Formen belasten nicht die Umwelt.
Eigenbewegung
Sport
Wandern
Eigenbewegung im Alltag
Sport, außer Mannschaftssport
(die Mannschaft ist hier die Umwelt), ist für mich eine defizitäre Form der
Eigenbewegung, weil sie den körperlichen Pol der Eigenbewegung tendenziell
verabsolutiert und den Umwelt-Pol vernachlässigt.
Wandern ist die ideale Form
der Eigenbewegung, weil Mensch und Umwelt gleichwertig eine untrennbare
Einheit bilden. Beide Pole „profitieren“ optimal.
Eigenbewegung im Alltag kann
zweckfrei wie beim Spazierengehen oder zweckhaft wie beim Einkauf sein. Auch
hier bilden Mensch und Umwelt eine untrennbare Einheit - übrigens meine
Praxis. Es entstehen keine Umweltbelastungen.
Zum Wandern hat Ulrich Grober in mehreren
Veröffentlichungen bereits das Entscheidende gesagt. Im Folgenden
konzentriere ich mich auf die Eigenbewegung im Alltag. Die positiven
Wirkungen des Wanderns auf die Wanderer und auf die Wanderwege müssen meiner
Meinung nach in den Alltag transferiert werden. Ich setze also auf das
Transferpotential des Wanderns. Warum?
Die zunehmende Industrialisierung der Landschaft,
die autogerechten Städte und Dörfer, viele Gesundheitsprobleme, Klimawandel
bis hin zum Erdzeitalter des Anthropozäns haben ihre
Hauptursache im Motoreneinsatz und da wiederum im
motorisierten Individualverkehr –bei gleichzeitigem massiven Rückgang der
Eigenbewegung im Alltag. Menschenleere Bürgersteige und autovolle Fahrbahnen
sprechen hier eine eindeutige Sprache.
Ich kritisiere nicht die Technik, denn das wäre
die Negation eines spezifisch menschlichen Merkmals (téchne = Können). Auch
lehne ich nicht prinzipiell Motorenseinsatz ab (wer will schon zu einem
Zahnarzt, der einen handbetriebenen Bohrer einsetzt), sondern es geht
um den verantwortungsvollen Umfang seines Einsatzes. Segways, SUVs,
Autonutzung bei Vorhandensein öffentlicher Verkehrsmittel, so
genannter Motorsport, Laubbläser usw. - um einige Extreme zu nennen - sind
indiskutabel. Dazu gehört auch die massive Überlagerung (palliare =
überlagern) von Wirklichkeit durch oberflächlichen elektronischen
Medienkonsum.
Eigenbewegung im Alltag ist natürlich nicht
die einzige Lösung, aber ein großer Beitrag zur Lösung der oben
beschriebenen Probleme. Die Maxime sollte lauten: „So wenig Motoreneinsatz
wie möglich“, denn Motore legen Muskeln und mehr lahm.
B. Verkürzt und unsystematisch dargestellte
Merkmale der Eigenbewegung und der Fremdbewegung
1.
Die Lebenswelt ist die primäre Welt. Intensiv
leben, auch das Leben poetisieren, nicht in Ersatzwelten
vegetieren ist die Maxime der Eigenbewegung.
2.
Wirklichkeit ist die
Einheit von Mensch und Umwelt. Eine Wirklichkeit ohne Mensch nenne ich
Realität. Mein Wirklichkeitsbegriff enthält damit auch die Aufhebung der
strikten Trennung von Außen und Innen. In der Wirklichkeit finden
Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt statt, sie durchdringen
einander. Es gibt nur intersubjektive Wahrheiten. Sie werden oft auch mit
Zwang durchgesetzt (auch Schule macht das). Die Einheit wird deutlich beim
Wandern, so dass abstrakte Realitäten im Schein und als Fakes
keine Chance haben.
3.
Die Eigenbewegung „hat“ mehr Freiheitsgrade.
Freies Gelände verlangt mehr Freiheitsgrade als eine gerade Straße,
Spazierengehen mehr als im Auto, im Gehen mehr als im Sitzen. Es gibt nur
allerkürzeste Zeitmomente der Freiheit, (Modell: Lokomotive auf der
Drehscheibe als Metapher für Freiheit, die diese von einer Determination auf
eine andere setzt). Aber Freiheit kann nach Kirkegaard auch eine Last sein,
eine Entscheidungslast, die auch falsch sein kann (wie das zu späte
Loslassen eines Halteseils bei einem Zeppelinauftrieb).
4.
Eigenbewegung schafft reale Subjektivität, die
in ihren Auswirkungen ambivalent ist. Sie ist unverzichtbar in der Ethik,
Selbsterhaltung, Entwicklung von Fähigkeiten als Selbstbildung. Aber sie ist
überfordert als Grund der Welt (Deutscher Idealismus) zu fungieren.
Subjektivität wird begrenzt durch autonome Ontologie (Meillassoux, Gabriel).
In Zeiten kapitalistischem Wirtschaftswachstums hat der Subjektivismus die
Fordrungen übernommen, die Erde als Rohstoff für menschliche Bedürfnisse
auszubeuten.
5.
In der Eigenbewegung erfährt die innere Welt
(Qualia) die notwendige und verdiente Aufwertung. Unter Qualia
oder phänomenalem
Bewusstsein versteht man den subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen
Zustandes. Das können sein Werte, Phantasie, Urbilder, logisches Vermögen,
Ethik, Erinnerungen, das DA. Novalis verweist auf den unermesslichen
Reichtum dieser Welt. Aber tendenziell wird das Individuelle unwichtig und
verschwindet. Qualia haben in der Fremdbewegung und als
Erkenntnismöglichkeit keine ernsthafte Funktion. Auto und Medienkonsum
verhindern „das Aufblühen“ der Innenwelt. Sie überdecken und fesseln den
inneren Reichtum. Formen der Überdeckung: oberflächlicher
Medienkonsum, fertiges Spielzeug, All-inclusive-Reisen.
6.
Nur in der Eigenbewegung erfährt bzw. erlebt man
existentielle Widerstände – die Dinge haben Schwere, sie werden
„erträglich“, es entsteht ein welthaftes Ich mit realen
natürlichen, sozialen und kulturellen Kontakten. Im Wandern entsteht
ontologische Sicherheit, in der auch die eigene Existenz eingeschlossen ist.
7.
Eigenbewegung steht für aufrechten Gang
als Ziel und Selbstwert. Der aufrechte Gang kann aber auch Herrschaft
ausdrücken.
8.
In der Eigenbewegung besteht eine prinzipielle,
gewissermaßen ungeschützte Offenheit gegenüber der Umwelt. Wir leben
zunehmend ein „Indoorleben“. Die positiven Reize von Regen, Wind und
Kälte stoßen zunehmend nicht zufällig auf Unverständnis.
9.
In der Eigenbewegung geht man, in der
Fremdbewegung (außer Radfahren) rollt man. Dazu eine Spekulation:
Beim Rollen haben die Rollen einen punktuell-ständigen Kontakt zur
Erde. Beim Gehen ist immer ein (1) Fuß auf der Erde, der andere u. U.
im „Himmel“, zumindest näher am Himmel. Der Fuß ist langsamer als das Rad.
Aber Langsamkeit ist auch ein Wert: Man nimmt mehr wahr.
10. Eigenbewegung vermittelt eine spezifische
Raum-Zeit-Vorstellung. Motorisierte Mobilität und Medieneinsatz haben
diese Vorstellung qualitativ und quantitativ radikal verändert. Eine
Alternative: Die Straße als Lebensraum zurückbauen und gewinnen
– ökologisch, sozial und nur für Fußgänger, Radfahrer und unter Umstände
für öffentliche Verkehrsmittel frei.
11.
Eigenbewegung differenziert sich in eigen und
selbst. Eigen ist ein Besitzverhältnis, selbst ist ein individueller
Arbeitsmodus zumindest in einem Teilbereich. Man könnte also auch von
Selbstbewegung sprechen. Identität ist von beiden abhängig.
12. Eigenbewegung kostet selbst nichts. Man denke
nur, was ein SUV bei Neuerwerb und Nutzung an Geld verschlingt.
13. Eigenbewegung „produziert“ keine Emissionen,
geht (wortwörtlich) behutsam mit der jeweiligen Umwelt um und fördert die
Gesundheit.
14. Eigenbewegung macht eher immun gegen
überflüssigen Konsum. Mit leichtem Gepäck lebt es sich leichter und
besser, also die Schönheit des Weniger gemessen am heutigen Konsumstandard.
Während Fremdbewegung der Sieg der Kapitalverwertungsinteressen
ist. Es gilt, den Gesängen der Bequemlichkeit oder den
Konsumimpulsen nicht zu erliegen. Dazu erhellend ein Gedicht von Günter
Anders:
„Da es dem König aber wenig gefiel,
dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend,
sich querfeldein herumtrieb,
um sich selbst ein Urteil über die
Welt zu bilden,
schenkte er ihm Wagen und Pferd.
"Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen",
waren seine Worte.
"Nun darfst du es nicht mehr",
war sein Sinn.
"Nun kannst du es nicht mehr",
deren Wirkung.“
15.
Fremdbewegung realisiert das Ideal der Bewegung
der Neuzeit. Motoren- und Autonutzer werden in der Psyche und Logik
motoren- bzw. autoähnlicher. Geometrie, Homogenität, Reinheit, zahlenmäßige
Bestimmung werden zunehmend zur Norm.
16.
Fremdbewegung und Medienkonsum erzwingen die
sitzende Gesellschaft.
17.
Fremdbewegung verhindert immer mehr
Originalbegegnungen, dafür Leben aus zweiter Hand.
18.
Fremdbewegung hat zum Antrieb Menschen- und
Tierkraft, natürliche Energien wie Wasser, Wind und Sonne oder Motore. Von
den Emissionen sind nur Motore problematisch. Eine Kritik des Motors
hat es gegenwärtig so schwer wie eine Kritik der Nase, denn der Motor wird
inzwischen als ein Teil des Körpers, ja der Seele interpretiert.
19.
Ohne Selbstreflexion, Selbstkritik
und Diskurs sind auch diese Gedanken wertlos.
C. Zielvorstellung: Eine
Kultur der körperlichen und geistigen Eigenbewegung vs. einer Zivilisation
der Motore und des Wirtschaftswachstum.
1. Wie das Wie realisieren? - Erste Gedanken zur atomfreien Zeit nach Fukishima
Zumindest nach Fukushima geht es nicht mehr um das „Ob“, sondern um
das „Wie“. Gegen die Atomenergie zu sein, ist notwendig, aber nicht
hinreichend. Es müssen Wege aufgezeigt werden, wie der riesige
weltweite Energiebedarf verkleinert werden kann.
Nach Hans-Peter Dürr entsprechen die Energieumsätze um 2003 weltweit
der Einwirkung von 130 Milliarden Energiesklaven, wobei vier
Energiesklaven die physische Arbeit eines Pferdes (PS) zwölf Stunden
am Tag ohne Pausen leisten. Ein US-Amerikaner beschäftigt
hundertzehn, ein Europäer sechzig, ein Chinese acht und ein
Bangladeschi weniger als einen (1) Energiesklaven für sich, wobei
sich diese Zahlen seit jener Zeit wiederum nach oben verschoben
haben. Dürr bemerkt zu den notwendigen Veränderungen, dass sie trotz
alledem kein steinzeitartiges Leben verlangten oder dass wir künftig
nicht in "Schutt und Asche" vegetieren müssten, sondern bei heutiger
Technik für alle wenigstens den Lebensstandard eines Schweizers von
1969 ermöglichen, was dem Einsatz von fünfzehn Energiesklaven entspricht.
Dieser in etwa anzustrebende Wert im Energieverbrauch ist nur durch
eine Änderung des gegenwärtig vorherrschenden individuellen und
kollektiven Lebensstils zu erreichen. Der bisherige Lebensstil, der
auf Bedürfnisse und Prinzipien wie Bequemlichkeit, Schnelligkeit,
Fernreisen, Vergrößerung des Warenkorbs und Billigkeit ausgerichtet
ist, muss durch Sparsamkeit, Nachhaltigkeit, Intensität der sozialen
Beziehungen und Naturbegegnungen, regionales Handeln, Bildung
relativiert werden: Geistig-seelisch statt materielle Ausrichtung,
Eigenbewegung statt Fremdbewegung, das Nahe statt das Ferne. Die
Erhaltung der Erde hat Vorrang vor Wirtschaft. Das gilt allerdings
nur, wenn es um Bedürfnisse geht, die nicht der Selbsterhaltung dienen.
Diese sehr allgemein gehaltenen Forderungen in nüchternen Begriffen
und systematische ausgedrückt: Die vier Felder: Alternative
Technologien, Effizienzsteigerung, kollektives und individuelles
Sparen und Selbstversorgung wären Kandidaten für Maßnahmen zur
Reduzierung des Energiebedarfs. Dazu einige Anmerkungen und Bewertungen:
- Die Entwicklung und Realisierung der Alternativen Technologien
sind auf dem richtigen Wege, in ihnen steckt aber ein größeres
Potential.
- Die Effizienzsteigerung im kollektiven und individuellen Gebrauch
ist, trotz einiger isolierter Erfolge, insgesamt noch
unbefriedigend. Das liegt nicht nur in Nachlässigkeit und
Bequemlichkeit begründet, sondern oft auch in Unwissenheit bzw. Fehlen
der notwendigen Voraussetzungen.
- Gleiches gilt für Einsparungen in den vier Bereichen Wärme,
Beleuchtung, Verkehr und Produktion. In der Produktion sehe ich großes
Potential in der Beschränkung auf sinnvolle Produkte, nicht so sehr
im Produktionsprozess selbst, wenn es um die Ersetzung von körperlich
schwerer und geistig stupider Arbeit geht.
- Die Selbstversorgung ist praktisch zum Erliegen gekommen:
Schrebergartenkolonien, Gärten oder Obstbäume an öffentlichen Wegen
sind Belege dafür. Die Schönheit des Erntens ist keine Realerfahrung
mehr, und die vielfältigen Ideen der ökologischen Bewegung um 1980
sind nicht mehr existent.
Die Umstellung von energieaufwendigen zu ernergiesparsamen
Lebensstilen wird gesellschaftlich und individuell große Probleme und
Aufgaben nach sich ziehen. Die Folgen für Wirtschaft, für
Arbeitsplätze, für soziale Sicherungssysteme sind unübersehbar. Hier
haben Schönrednereien keinen Platz, sondern es bedarf des
schonungslosen Muts eines „ökologischen Churchills“. Ich denke aber,
dass die Zukunftssicherung der Erde und der nachfolgenden
Generationen nicht Schmerzen, sondern materieller Einschränkungen
bedarf. Das ist ein großer Unterschied, zumal diese Einschränkungen
teilweise auch ein Mehr an Lebensqualität mit sich bringen.
Da in jeder alternativen Bewegung Änderungen und damit unter
Umständen Zwang verlangt werden bis hin zur Gefahr einer ökologischen
Diktatur, gilt es, den notwendigen Zwang soweit wie möglich
einzuschränken und mit vielen Freiheitsgraden auszustatten: In
welchem Feld oder in welchem „Mix“ Energieeinsparungen realisiert
werden, sollte von jedem Kollektiv und Individuum autonom
entschieden werden. Eine Hilfe könnte sein, eine negative
Hierarchie seines Energieverbrauchs aufzustellen, die mit den
energiegestützten Aktivitäten beginnt, die man entweder gar nicht in
Anspruch nimmt oder auf die man leicht verzichten könnte. Am Ende
ständen schmerzhafte Verzichte, die noch gerade oberhalb der
Selbsterhaltung enden. Meine Liste könnte wie folgt aussehen: Verzicht
auf Motorensport zu Land, Wasser und Luft in jeglicher Art,
Hallenbäder, exotische Früchte, Fernreisen, Fernsehapparat
insbesondere mit großflächigen Mattscheiben, Auto, Geschirrspüler.
Schwieriger wäre schon der Verzicht auf das tägliche Duschen, auf
Zugfahrten und Internetnutzung. Das ist meine Liste, die meines
Freundes sieht schon anders aus, denn jeder muss selbst entscheiden,
wo sie oder er Energie sparen wird.
.
2. Klassen und Klassenbewusstsein
Meine
Umdeutung eines Grundgedankens von Marx: Nach Marx ermöglichen
die jeweils in einer Gesellschaft bestehenden Produktionsverhältnisse
die Entwicklung der Produktivkräfte bis zu einem bestimmten Stand, von
dem ab dann deren Ermöglichung in Fesselung umschlägt. Auf dieser
Entwicklungsstufe entstehen gesellschaftliche Spannungen, die
schließlich zu einer gewaltsamen Umwandlung der
Produktionsverhältnisse führen, die nun eine weitere Entwicklung der
Produktivkräfte ermöglichen. Nach Marx bestehen die
Produktionsverhältnisse aus sich antagonistisch
gegenüberstehenden Klassen, wobei die herrschende Klasse über die
materielle und symbolische Macht in einer Gesellschaft verfügt. Dieser
Klassenbegriff entspricht meinen Wahrnehmungen nach nicht mehr
der Wirklichkeit. Einerseits bestehen zwar die Klassen - von der
materiellen Ausstattung mit Gütern her gesehen - weiterhin, wobei
sich hier die Schere noch weiter öffnet. Anderseits haben
sich die Klassen - vom Bewusstsein und vom Informationsstand her
gesehen - in eine relativ homogene Einheitsgesellschaft aufgelöst. Alle
definieren sich über den Konsum. Tendenziell fühlt sich keiner mehr als
Herr, sondern mehr als Getriebener bis hin zu Opfer. Und dieses
Gefühl ist berechtigt, denn es herrscht die Logik des Gesamtsystems,
das entscheidend von der Entwicklung der Produktivkräfte gesteuert
wird. Phänomene wie Hochkultur, Tradition, konkrete Naturdinge,
unteres oder oberes Klassenbewusstsein, substantieller
Individualismus sind für den gegenwärtigen Entwicklungsstand und für
die weitere Entwicklung der Produktivkräfte (ich denke da insbesondere
an die neuen Medien und Transporttechnologien) hemmend und
verschwinden immer schneller aus Praxis, Wertekanon und
Bewusstsein. Die gegenwärtige Technologie braucht heute als optimales
Umfeld die homogene Einheitsgesellschaft, deren Mitglieder sich
nur noch quantitativ im Haben von Konsumgütern unterscheiden: Alle
machen (Fern-)Reisen, alle haben Autos, alle benutzen die gleichen
Medien, alle verfügen über beträchtliches Eigentum. Die Frage ist, ob
in Zukunft auch die quantitativen Differenzen eine Fesselung für die
Produktivkräfte sein werden und deswegen ebenfalls verschwinden müssen.
Ob damit viel an (Hoch-) Kultur und Humanität gewonnen ist, wage ich zu
bezweifeln.
Der materielle Reichtum hat sich in den
letzten 50 Jahren versiebenfacht (Mathias Greffrath). Damit haben die
Waren allein dank ihres schieren Umfangs Macht über den Menschen
erlangt. Die rationale Bewirtschaftung dieser Massen umfasst vieles:
Sich systematisch über die Fülle der Angebote in verschiedenen Medien
einschließlich Sonderkonditionen informieren, die Preise vergleichen
und sich entscheiden, den Kaufakt auf direktem
oder indirektem Wege einschließlich der Kenntnis und Bestimmung
notwendiger Infrastrukturen eruieren und organisieren, die
Unterbringung und Pflege der Waren, über deren Verweildauer
entscheiden und letztlich deren Entsorgung . All diese Aktivitäten
verlangen umfassendes Wissen, „Ausbildung“, große
Flexibilität, Einsatz, Konzentration, Ausdauer und fressen
viel Zeit. Insgesamt Anforderungen, die denen eines Berufs nahe kommen.
Mit anderen Worten: Nach meinen Erfahrungen hat sich insbesondere
in den letzten zwanzig Jahren ein mit einem Beruf vergleichbares,
abgrenzbares und zusammenhängendes Tätigkeitsfeld herauskristallisiert,
das ich vorläufig – bis ein passenderes Wort gefunden wird –
„Warenverwalter bzw. Warenverwalterin“ nenne. Diese Entwicklung findet
nur noch in der Dimension des Habens (Erich Fromm) statt und
verselbstständigt sich zunehmend. Der oder die Agierende wird zu einem
privaten homo oeconomicus, d. h. die Firma ist der private
Haushalt. Beide sind vom Aufwand her vergleichbar. Wohl gemerkt, es
geht hier nicht um das Konsumieren an sich, sondern um den heute so
aufwendigen Erwerbsvorgang.
Da dieses Tätigkeitsfeld als Arbeit noch nicht auf den Begriff gebracht worden ist, ist es nicht verwunderlich, dass selbst die Betroffenen diesen Prozess als Arbeit und Beruf noch nicht wahrgenommen haben, zumal die Waren produzierende Industrie und der Handel alles unternehmen, den Arbeitscharakter dieser Tätigkeiten nicht ins Bewusstsein gelangen zu lassen, indem sie dafür sorgen, dass sie als reiner Lustgewinn wahrgenommen und interpretiert werden.
Eine Pointe dieser Ausführungen liegt im Folgenden: Es besteht keine Notwendigkeit mehr, von qualitativ verschiedenen Klassen zu sprechen, denn es gibt heute nicht mehr qualitative, sondern nur noch quantitative Unterschiede, die allerdings massiv sind. Mit anderen Worten: Die gegenwärtige Gesellschaft kennt tendenziell nur noch eine (1) Qualität, die des Konsumerwerbs. Es gibt also nicht zwei oder mehrere verschiedene Qualitäten, die es rechtfertigen, zwei oder mehrere Klassen zu konstituieren bzw. zu bestimmen. Es gibt nur noch quantitative Unterschiede innerhalb der einen vorhandenen Qualität. Es wäre daher unsinnig, von mehreren Klassen zu sprechen oder die Gesellschaft mit einer einzigen Klasse auszustatten. Diese behauptete Eindimensionalität ist die Haupttendenz der gesellschaftlichen Entwicklung. Natürlich gibt es innerhalb dieser dominierenden Dimension Binnendifferenzierungen wie in der Autowelt zwischen Porsche und Smart, zwischen Autos mit konventionellen und Elektroantrieb - oder aus ökonomischen Gründen nur den Wunsch nach diesen Dingen. Aber Praxen und Wunschwelten jenseits dieser Systemgrenzen sind substantiell nur in Spuren vorhanden.Die gegenwärtigen „hemmenden“ Faktoren für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte ist also nicht mehr die Klassenstruktur einer Gesellschaft, sondern die noch wirksamen materiellen und ideellen Werte, die momentan in breiter Front höchst wirkungsvoll auf praktischer Ebene demontiert werden. Diese Werte, die man auch als Gebrauchswerte im weitesten Sinne bezeichnen kann, werden durch Tauschwerte ersetzt. Den Tauschcharakter einer Ware erkennt man relativ leicht an der Verpackung, an der Werbung und oft am Design. Offensichtlich vollkommen unbemerkt daherkommend ist dagegen die Durchsetzung des Tauschwertes im Denken, Fühlen und Handeln von immer mehr Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Was ist damit gemeint? Der Tauschwert ist primär keine materielle Eigenschaft, sondern eine Haltung und Einstellung zu Dingen und Waren im Modus des Habens. Diese Haltung des Habenwollens von so vielen Dingen und Waren wie möglich ist das Endziel des Denkens und Handelns. Ein kritisches Hinterfragen des Habens sowohl als Haltung als auch bezüglich Sinnhaftigkeit, Ausbeutung, ökologischer Belastung von bestimmten Waren ist deshalb unmöglich, weil es eben das letzte Ziel ist. Die Haltung des Habens ist kritikresistent, denn es gibt nicht die Möglichkeiten der Ablehnung, der Negation, der Abweichung. Der Mensch liebt zwar immer noch Dinge, Orte und auch Menschen, aber sie sind tendenziell problemlos austauschbar mit anderen Dingen, Orten und Menschen, die der Markt mit aller vorhandenen Macht anbietet und durchsetzt.
Indem wir zulassen, dass die Wertewelt auf einen Wert (Konsum) verengt wird, sind zugleich wir aktiver und passiver Teil dieser eindimensionalen Welt geworden. Kritik wird somit zugleich unumgänglich Selbstkritik, wobei letztere es immer besonders schwer hat. Deswegen soll dieser Essay mit einer zweifachen Kritik meiner Kritik beendet werden: Wie vielleicht einige meiner Aussagen suggerieren, ist real die Dialektik nicht festgestellt, denn immer wieder zeigen sich, oft unerwartet, hoffnungsvolle Gegentendenzen, zu denen vorliegender Artikel übrigens auch zählen möchte. In diesem Zusammenhang bin ich übrigens der dogmatischen Meinung, dass unser Rechtsstaat eine unhinterfragbare und unverzichtbare Bedingung für eine nicht still gestellte Dialektik ist. Und es gibt allein schon des Todes wegen keine absolut stabilen und „ewigen“ Beziehungen zu den Dingen und Menschen, was auch nicht einmal wünschenswert wäre. Aber es gibt ein jeweiliges Optimum der Stabilität – und das anzustreben wäre die regulative Idee unserer Bemühungen in humaner und ökologischer Absicht.
..Es
wäre falsch, Eigenbewegung und Fremdbewegung als absolute Gegensätze
aufzufassen. Dagegen spricht schon, dass in beiden Begriffen „Bewegung“
enthalten ist, sie also neben Unterschieden Gemeinsames haben wie
Ortswechsel, neue Räume erschließen, ein Ziel erreichen, „dabei sein“.
Wenn ein weit entferntes Ziel erreicht werden soll, ist Fremdbewegung
unverzichtbar. Nicht immer ist ein Entweder-Oder angesagt.
Eine
„Entgegensetzung“ ist eine Beziehung, in der die beiden Pole
nichts Gemeinsames, keine gemeinsame Schnittmenge haben. Ein
„Unterschied“ ist dagegen eine Beziehung, in der
die Pole Anteile vom jeweils anderen Pol haben. Beide Pole
der Unterscheidung sind also immer ein Gemisch von
graduellen Unterschieden. So ist das Begriffspaar „Natur und Kultur“
keine Entgegensetzung, sondern eine Unterscheidung:
In Natur ist immer Kultur und in Kultur immer Natur
enthalten. Denn jedes natürliche Ding ist kulturell überformt: Es
gibt heute keine von Menschen unberührten Ökosysteme mehr und
selbst der Begriff „Natur“ gehört eindeutig zur Kultur.
Umgekehrt ist jeder kulturelle Gegenstand letztlich aus Natur
hervorgegangen. Auch der Kultur schaffende Mensch hat
nicht nur kulturelle, sondern auch natürliche Anteile in sich.
Und
das gilt für jeden Dualismus wie Subjekt und Objekt, Eigenbewegung und
Fremdbewegung, Kritik und Kritisiertes. Heinrich Heine hat sich
nie als das Gegenteil von der Masse betrachtet. Er ließ immer
durchblicken, dass das von ihm Kritisierte auch in ihm selbst vorhanden
war. Oder Thomas Manns Diktum, dass er nach rechts ginge, wenn das
Schiff nach links absacke und umgekehrt. Selbstironie, über die beide
Autoren reichlich verfügten, untergräbt ebenfalls die Gefahren
einer Verabsolutierung.
Entgegensetzungen erweisen sich bei
genauer Analyse als Unterschiede. Entgegensetzungen gibt es
nur auf der Ebene der Sprache, nicht in der Realität. Setzt man
Sprache mit Realität gleich, ist man also schnell im Irrtum. Es gibt
real also nur Richtungen, Schwerpunkte, Akzentuierungen und damit
Hierarchien. Diese Auffassung ist nicht neu, sondern wird
beispielsweise in der Dialektik, im Dekonstruktivismus oder in
der Hybrid-Theorie ausdrücklich thematisiert. Dass es trotzdem immer
wieder zu Rückfällen in die Entgegensetzung kommt, liegt einerseits in
der linearen Struktur der Sprache, andererseits im Wesen des Begriffs
begründet, der eingrenzt und ausgrenzt, gleichzeitig etwas sagt und
nicht sagt. Das Ausgegrenzte gibt aber keine Ruhe, überwindet die
willkürliche Grenze. Ich denke, solange wir sprechen, befinden wir uns
in dieser Gefahr und können sie nur relativieren, indem wir sie ständig
im Hinterkopf haben und falls nötig, auch artikulieren.
4. Der Motor aus anthropologischer Sicht
1.
Die uns umgebende Dinge teile ich nach dem Kriterium
„Natur-Technik-Anteile“ in vier Gruppen: a) reine Natur (wie in
einigen Naturschutzgebieten), b) nichtmaschinelle
Gebrauchsgegenstände (von Bett bis Straßen), c) Werkzeuge und
Maschinen, die mit menschlicher, animalischer oder
Naturkräften betrieben werden (von Messer bis Fahrrad)
und d) motorenbetriebene Maschinen (von Autos, elektrischen
Zahnbürsten, automatisch sich öffnenden Türen bis Fernseher). Die
Reihenfolge spiegelt die historische Entwicklung.
2.
In welchem Verhältnis stehen Motore zur Technik? Motore sind eine
Teilmenge der Technik. Betrachten wir zuerst die Technik: Jeder
Herstellungsakt bedarf eines Könnens, das die Griechen mit techne
bezeichneten. Technisches Denken ist ein, vielleicht das
konstituierende Merkmal des Menschen. Die Struktur dieses
inneren Könnens führte schnell zum Erfinden von (äußerlichen)
Werkzeugen und später zu einfachen Maschinen wie Wassermühlen, die von
Naturkräften angetrieben werden mussten. Mit der Erfindung der
Dampfmaschine von James Watt im Jahre 1764 begann das Zeitalter der
Motore, die– im Gegensatz zu den bisher von Naturkräften abhängigen
Maschinen - grundsätzlich von Ort und Zeit unabhängig sind und
vor allem ständig in ihrer Effizienz gesteigert und in ihrer Ausdehnung
verkleinert werden können, so dass sie jetzt überall problemlos selbst
ins Körperinnere eingebaut werden können. Der lange noch nicht beendete
Siegeszug der Motore hatte seinen Schwerpunkt bis zum Zweiten Weltkrieg
primär in der Produktion, danach begann erst langsam, dann immer
schneller das Eindringen von Motoren in die Lebenswelt und dann in das
Leben selbst.
3. „In das Leben selbst“ meint zweierlei:
Zum einen wurde der Einsatz von Tieren zur Verrichtung von Arbeit
schlicht abgeschafft und durch Motore ersetzt, zum anderen ersetzen
Motore ebenfalls zunehmend Muskelbewegungen des Menschen. Die muskuläre
Haupttätigkeit besteht heute darin, Knöpfe zu bewegen.
Ausdauernde Füße und geschickte Hände haben im Produktionsbereich und
im normalen Alltagsvollzug keine Funktion mehr. Nicht umsonst spricht
man in diesem Zusammenhang von der sitzenden Gesellschaft. Aber es ist
nicht zu bezweifeln, dass Motore die Möglichkeiten der
menschlichen Wahrnehmung nahezu ins Unermessliche gesteigert haben (man
denke nur an die vielen Fernsehprogramme), jedoch um den Preis der
Stillstellung der Muskeln des Menschen, denn Motore erweitern nicht,
sondern ersetzen die Muskeln.
4. Man kann
diese Entwicklung – wie faktisch die gesamte Menschheit
zumindest auf praktischer Ebene denken, fühlen und handeln – als
naturwüchsig und damit nicht beeinflussbar halten. Dem widerspreche ich
entschieden, denn mit dieser universellen Ersetzung, statt des
sinnvollen Einsatzes in begrenzten Feldern, verschwindet meiner
Ansicht nach langfristig der Mensch als Mensch. Warum diese
radikale Aussage?
5. Das entscheidende Kennzeichen der
lebendigen Natur ist das Vorhandensein und der Einsatz von
inneren und äußeren Bewegungen. Wenn Motore inzwischen auch zu einem
Selbstzweck geworden sind, so besteht ihre wesentliche Hauptfunktion
immer noch darin, die Bewegungen des Menschen zu ersetzen – mit der
Folge, dass der Motor sich bewegt, nicht der Nutzer. Nicht „Ich
bin beweglich“, sondern meine von mir benutzten Motore sind beweglich.
Je mehr Motore Bewegungen von mir übernehmen, desto
überflüssiger wird mein realer Leib. Was passiert mit meinem Gehirn,
meinem Geist oder gar meinem rein geistigen Ich, wenn dieser Prozess
der universellen Motorisierung weiter voranschreitet? Wir haben kein
empirisches Wissen darüber, wie ein körperloses Gehirn in einem
Retortenglas in einer Nährstofflösung „lebt“, geschweige über ein
immaterielle Ich. Wir wissen nur aus sinnlichen
Deprivationsexperimenten, wie kurzfristig die Probanden diesen
Zustand aushalten. Körperlosigkeit muss die Hölle, nicht das
Paradies des Menschen sein.
6. Fazit: Nicht die
Technik ist das Fremde und das Andere, sondern die Motoren. Motore
ersetzen die Muskeln, die Muskeln konstituieren aber den Menschen. Der
Motor bewirkt nicht nur die Trennung des Körpers von der realen Umwelt,
sondern die Trennung des wahrnehmenden Ichs von seinem eigenen
Körper. Das ist der Selbstmord des Ichs, weil dieser enteignende
Prozess von ihm selbst initiiert wurde und wird. Aber genau analysiert,
ist dieser Selbstmord eine hypothetische Aussage, denn wir (noch)
körperlich existierenden Menschen können absolut nicht wissen, wie es
ist, ein Ich ohne Körper zu sein. Es gibt fundierte Vermutungen, dass
ein körperloses Ich über kein Selbstbewusstsein mehr verfügt, sondern
nur noch funktioniert. Wenn das zutrifft, dann wären die Motore die
evolutionären Nachfolger des Menschen.
Zusatz: Es geht hier nicht um die ökologische oder ökonomische Dimension des Motors
.
.
5. Warum der Begriff der Eigenbewegung unverzichtbar ist? - Das „motorisierte Auge“ ist eine Defizitform
Ich
teile die Dinge bzw. Körper der Welt in anorganische, organische
und Artefakte (der Motor ist ein besonderes Artefakt). Im
Zusammenhang mit der Eigenbewegung sind folgende Prozesse auf und in
den Körpern wichtig:
Der Begriff Eigenbewegung hat
aus folgendem Grund bisher nicht die Bedeutung und Verbreitung erlangt,
die er haben müsste: Nach Anson Rabinbach in "Motor Mensch.
Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne" (2001) haben
die Pioniere der Theorie der Krafterhaltung (hier
insbesondere Hermann von Helmholtz 1821 – 1894) einen einheitlichen
Kraftbegriff herausgearbeitet, so dass jede Energieform in eine andere
verwandelt werden kann, denn die verschiedenen Kraftformen
sind Manifestationen einer einzigen Kraft. Im Rahmen dieses
einheitlichen Kraft- und Bewegungsbildes sehen selbst die Biologie und
Medizin keinen Grund, den Bewegungsbegriff zu
differenzieren. Meines Wissens nach war es erst Ivan Illich
(1980), der mit der Unterscheidung von metabolischer und exogener
Energie die Notwendigkeit legitimierte, von zwei verschiedenen
Qualitäten der Bewegung zu sprechen, die dann von einigen
Autoren, so von Niemann (1996) und auch von mir (Maaßen, 2006) in
Eigenbewegung (Lebewesen) und Fremdbewegung (Motore) differenziert
wurde.
Da insbesondere in den letzten Jahrzehnten
motorenbetriebene Maschinen nicht nur umfassend in der Produktion
eingesetzt werden, sondern auch massiv das Alltagsleben bestimmen,
ergibt sich zwangsläufig die Aufgabe, zwischen beiden
Bewegungsformen zu unterscheiden, um so den Zugang zu notwendigen und
alternativen Handlungsmöglichkeiten zu öffnen. Die folgende
begriffliche Unterscheidung von Eigenbewegung und Fremdbewegung beruht
auf folgende Überlegungen:
1. Für alle
Körper gilt: Von außen wirken auf sie Massenanziehungskräfte, in
ihnen wirken Verschleißprozesse (= Entropie) und sie haben
Wirkungen auf ihre Umwelt.
2.
Im Inneren von Lebewesen und Motoren wird potentielle Energie, z. B. in
Form von Nahrungsmitteln oder Benzin, gelagert, die auf einen
Impuls hin freigesetzt und in Bewegung überführt wird: Sie führen
Eigenbewegungen durch. Aus dieser Perspektive gesehen
sind beide in ihrer Bewegungsfähigkeit und Realisation
autonom. Zwischen beiden besteht in dieser Hinsicht kein
grundsätzlicher Unterschied.
3. Aber
einer anderen Unterschied ist wesentlich: Motorbewegungen haben
auf ihren „Motorkörper“ außer dem oben genannten Verschleiß keine
Wirkungen, während menschliche Bewegungen (und die anderer Lebewesen)
neben dem Körperverschleiß substantielle Veränderungen auf Körper,
Geist und Seele in Form von einzigartigen Aufbauprozessen (= negative
Entropie) wie Muskeln, Willen und Ichidentität stärken und
sinnliche Dingerfahrungen vermehren zur Folge haben.
4.
Die Entscheidung für die Realisierung einer motorisierten oder
menschlichen Bewegung liegt grundsätzlich im (!) menschlichen Subjekt,
während die Bewegung selbst dann ein rein physisch/physiologischer
Vorgang ist, der ständig durch neue Entscheidungen in seinem Verlauf
und Intensität beeinflusst werden kann.
5.
Wer seine Eigenbewegung auf Motore überträgt, verhindert
Aufbauprozesse und verzichtet auf bestimmte Wirkungen auf die
jeweilige Außenwelt. Ein Beispiel für innere und äußere Wirkungen, die
gleichzeitig stattfinden: Wenn ich tanze, verbessere ich
meine körperlichen und mentalen Fähigkeiten (Innenwirkung) und erfreue
gleichzeitig meine Tanzpartnerin (Außenwirkung).
6.
Menschen, die ihre Eigenbewegung den Motoren überlassen, werden
faktisch selbst zu Motoren, die wie mit einem
Filmapparat ausgestattet sind. Man könnte auch von „motorisierten
Augen“ sprechen. Diese bewegungslose Lebensform genügt vielen
Menschen offensichtlich.
.
.
6. Banken und Gesellschaft
In
einem Kommentar der FAZ wird analysiert: Seit den siebziger Jahren
steigen in Deutschland die Ausgaben des Staates schneller als die
Einnahmen (z. B. im Gegensatz zur Schweiz). Durch das Öffnen aller
Geldschleusen erzeugte man Wachstum aber gleichzeitig trieben sie
durch niedrige Zinsen und hohe Inflation Staaten, Unternehmen und
Privatleute in die Verschuldung. In einer Welt mit zu viel und zu
billigem Geld erhöhen alle ihr Risiko. Es entstehen Preisblasen an
Vermögensmärkten, bis die Spekulation am Aktien-, Kapital- oder
Häusermarkt platzt. Am großen Rad des billigen Geldes drehten alle
mit. Das ist allerdings„nur“ eine von zumindest zwei
Dimensionen. Die aus meiner Sicht entscheidende ökologische Dimension
wird überall, übrigens auch von den Grünen, konsequent
ausgeblendet: Die bisher immer größeren Preisblasen
realisieren sich in Infrastrukturmaßnahmen bis zum privaten
Konsum. Das reicht von dem Bau von allgemeinen Krankenhäuser,
Konzertsälen, Autobahnen bis hin zu privaten Häusern, Flugreisen und
Anzügen. Wobei jeder ausgegebene Euro zumindest am Ende der
Kette zu geformter Materie und Energie wird, egal, ob
Endprodukt oder Mittel. Das dafür notwendige Quantum von Materie
und Energie entspricht genau der? der ökologischen Belastung und
Transformation der Natur. Wenn das stimmt, dann wäre Schuldenabbau
gleichzeitig eine genuin ökologische Maßnahme. Aus dieser Logik
ergibt sich übrigens: Die Begründung der Gewerkschaftler, dass
massive Lohnzuwächse die Binnennachfrage stärke, stimmt auf dem ersten
Blick, auf dem zweiten ist es ein Münchhausen-Trick, sich an seinem
eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Warum: Die Lohnzuwächse müssen
bezahlt werden, wenn kein reales Äquivalent vorhanden ist, wird eben
„in die Blase gepustet“.
Mir geht es aufzuzeigen, dass Ökonomie und Ökologie zwei Seiten desselben Prozesses sind. Ein Wissen, über dass weder bürgerliche noch marxistische Ökonomen und Politiker vor 1970 verfügten und erst durch die danach einsetzende Ökologiebewegung teilweise ins öffentliche Bewusstsein drang und jetzt wieder im Nowhere verschwunden ist bzw. verdrängt wurde.
7. Die gute und die schlechte Seite der Moderne
Jeder Kaufakt von Waren und Dienstleistungen ist auch ein politischer,
denn er hat Folgen auf Ökologie und auf die Gesellschaft einschließlich
der sozialen und baulichen Strukturen. Die Summe aller dieser Kaufakte
auf globaler Ebene hat inzwischen Größen und Qualitäten
angenommen, die ökologisch absolut unverträglich sind: Die
Lebensgrundlagen aller Lebewesen, letztlich auch die das Menschen, sind
bereits zerstört oder stehen vor ihrer Vernichtung. Diese Folgen
sind natürlich nicht intendiert, sondern Nebenfolgen eines Handelns,
das im Kleide der Normalität daher kommen.
Allgemeiner formuliert:
Inhumane Handlungen haben in der Geschichte in der Regel
verschiedene Quellen: Die einzigartigen Verbrechen Deutschlands
während des Nationalsozialismus oder Gräueltaten während der
Stauferherrschaft im Mittelalter (darüber lese ich gerade), sind für
mich Beleg dafür, dass der demokratische Rechtsstaat die große, nicht
zu kritisierende Errungenschaft der Moderne ist, was natürlich
nicht eine Kritik bestimmter sozialer Prozesse und Zustände
ausschließt. Fundamental verändert werden müssen allerdings
Konsums und Umfang und Weise der Produktion, weil sie unmittelbar
Ursache der oben genannten ökologische Krise ist. Wir müssen
unsere Leben, unsere Zivilisation, nachhaltig organisieren, d. h.
Welt nicht für unsere Zwecke vollkommen funktionalisieren, den Akzent
von materiellen Werten mehr auf geistige und soziale Werte legen. Das
sagt sich leicht, aber dieser die Not wendende Umbau ist eine riesige
Aufgabe, die von der Größe mit der der Industrialisierung vergleichbar
ist. Das wird man spätestens dann bemerken, wenn abstrakten
Aussagen in konkretes Handeln überführt werden. So z. B. als kleiner
Fang: im Urlaub auf das Auto verzichten. Mein Fazit: Die
Moderne ist politisch hervorragend, sozial verbesserungsfähig und
ökologisch eine Katastrophe.
Es geht primär um eine andere Zivilisation, nicht primär um eine andere Kultur.
8 .Eigenbewegung (Anthropologie)
In
der Anthropologie, Kognitionswissenschaft und Physiotherapie wird als
Eigenbewegung eine aktive Veränderung der eigenen räumlichen Position
(oder der Position eines Wahrnehmungsorgans) bezeichnet, die für die
Umwelt- und Selbstwahrnehmung von entscheidender Bedeutung ist. Die
Eigenbewegung und die ausgeblendete jeweilige Umwelt bilden eine
unaufhebbare Einheit, beide sind gleichwertig. Die einseitige
Funktionalisierung der Eigenbewegung auf körperliche und mentale
Stärkung entspricht nicht ihren Möglichkeiten. Die Eigenbewegung
entfaltet ihren Wert und ihr Potenzial erst in sinnen- und
sinnvollen natürlichen, kulturellen und sozialen Umwelten. Sie stärkt
und schont gleichzeitig diese Umwelten, so dass sie auch als eine
ökologische und ökonomisch-politische Kategorie aufgefasst werden
kann.
Andere Bedeutungen des Ausdrucks
Eigenbewegung finden sich in der Physik, der Technik und im Recht der
privaten Unfallversicherung.
Inhaltsverzeichnis
• 1 Bewegung und Eigenbewegung in der Physik und Astronomie
• 2 Eigenbewegungen von Lebewesen
• 3 Eigenbewegungen des Menschen und Fremdbewegungen durch Motore
• 4 Eigenbewegung des Menschen als Erlebnis oder als Beschreibung
• 5 Physiologie der Eigenbewegung und ihre Funktion im Erkenntnisprozess
• 6 Bedeutung der Energie im Vermittlungsprozess
• 7 Die Einheit von Eigenbewegung und Weg
• 8 Eigenbewegung und Sport
• 9 Eigenbewegung und Gesundheit
• 10 Geschichte der Eigenbewegung
• 11 Ausblick: Eigenbewegung als ökologische, soziale und ökonomisch-politische Kategorie
• 12 Literatur
• 13 Weblinks
• 14 Belege
Bewegung und Eigenbewegung in der Physik und Astronomie
Das
von Newton aufgestellte Trägheitsgesetz besagt, dass jeder Körper im
Zustand der Ruhe oder in der geradlinigen, gleichförmigen Bewegung
beharrt, wenn nicht eine Kraft auf ihn einwirkt. Definiert man
Ruhe als einen Spezialfall der Bewegung mit der Geschwindigkeit Null,
dann befinden sich alle Körper in Bewegung. In der Astronomie
kennt man zusätzlich den Begriff der Eigenbewegung. Wilhelm
Herschel untersuchte 1783 vierzehn Sterne, wovon sich elf auf
einen gemeinsamen Punkt hin bewegen. Den drei Sternen, deren
Bewegung nicht auf diesen Punkt ausgerichtet war, schrieb er eine echte
eigene Bewegung zu.
Veränderungen des jeweiligen Bewegungs-
bzw. Ruhezustands werden durch einwirkende Kräfte,
die immer verkörpert sind, verursacht. Diese Gegenkräfte
haben ihren Ursprung in atomaren bis kosmischen Kraftfeldern.
Der
Begriff „Energie“ konkretisiert den allgemeinen, ja
metaphysischen Begriff „Kraft“ und macht damit Kraft
anschaulicher und berechenbar. Der Begriff Kraft erscheint erstmals
wohl um 1800. Oft werden beide Begriffe synonym verwendet
Eigenbewegungen von Lebewesen
Alle
Dinge der Welt werden bewegt. So sind auch Lebewesen dieser allgemein
wirkenden Bewegung unterworfen, sind aber auch in der Lage, zusätzliche
Bewegungen durchzuführen, die außerhalb der von der Physik
beschriebenen gesetzmäßigen Bewegungen liegen. Diese
"zusätzlichen“ Bewegungen des Menschen sind von der Bedeutung und
der Sache nach Eigenbewegungen, werden in der Literatur aber
unter Benennungen Wandern, Sport, Bewegung,
Langsamkeit Flüchtigkeit, Technikkritik, verinselte Kindheit,
Nachhaltigkeit, sanfter Tourismus, Tod der Stadt, Verschwinden der
Wirklichkeit, veränderte Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstrukturen,
Regionalismus, Kritik des Autos, Entschleunigung, Cittaslow usw.
isoliert und spezifisch definiert behandelt und dargestellt. Folgende
Ausführungen führen die bereits bestehenden Theorieelemente zu einer
vereinheitlichenden Theorie der Eigenbewegung zusammen.
Ein
Unterschied zwischen (allgemeinen) Bewegungen und lebendigen
Eigenbewegungen besteht darin, dass bei ersteren eine Gegenkraft den
jeweiligen Körper grundsätzlich immer von Außen angreift – entweder an
bestimmten Stellen oder an der gesamten Oberfläche -, während bei
Lebewesen der „Angriffspunkt“ der Kraft bzw. Energie im Innern wirksam
ist. Eigenbewegungen bedürfen zusätzlicher Energien in Form von
Nahrung, um ihre „eigenen“ Bewegungen aufrecht zu erhalten. Man
unterscheidet äußere, körperlich-muskuläre von innerer,
geistig-neuronaler Eigenbewegung. Die handlungstheoretische Definition
„Denken ist internalisiertes Tun“ ist ein Ausdruck für diese
Differenzierung. Im Fortgang vorliegender Ausführung wird wie im
alltäglichen Sprachgebrauch unter Eigenbewegung verkürzt die
körperlich-muskuläre Bewegung verstanden, die Ortsveränderung
ermöglicht. Freiheit, Geschichtlichkeit, Sprache und
Eigenbewegung machen nach Eugen Fink die vier Existenzialien des
Menschen aus.
Eigenbewegungen des Menschen und Fremdbewegungen durch Motore
Der
Begriff Eigenbewegung evoziert die Frage nach seinem Gegenpol, der
Fremdbewegung. Fremdbewegungen sind technisch erzeugte statische oder
mobile Bewegungen, die in den von Menschen geschaffenen Motoren und
deren Maschinen materialisiert bzw. verkörpert sind. Da sie
Eigenbewegungen von Menschen ersetzen, macht es aus dieser Perspektive
Sinn, die Motorenbewegungen als Fremdbewegung zu bezeichnen. Zwischen
Eigenbewegung und Fremdbewegung besteht ein wesentlich existenzieller
Unterschied: Lebewesen haben im Energieeinsatz in der Evolution einen
„Umweg“ eingeschlagen, indem sie die in der aufgenommenen Nahrung
vorhandene Energie in körpereigene umwandeln (Assimilation), diese
speichern, um bei Bedarf mit dieser Energie ihre Bewegungen autonom zu
steuern. Das ist die materielle Basis für die Freiheitsräume des
Menschen. Aber unzweifelhaft bestehen zwischen den Eigenbewegungen von
Lebewesen und den Fremdbewegungen durch Motore strukturelle und
funktionelle Ähnlichkeiten, da Technik nicht das Andere des Menschen
ist, sondern zu seinen Wesensmerkmalen gehört: Menschliches Handeln
besteht aus technischer Kausalität und basiert auf Freiheit. Genau
diese interne Kausalität hat der Mensch in Maschinen und Motoren
veräußert – oft nach dem Modell von Lebewesen. Und umgekehrt den
Menschen nach dem Modell Maschine. Aber nicht nur die
Erfindung und Herstellung, sondern die manuelle Steuerung bzw.
entsprechende Programme sind immer menschlichen Ursprungs. Es ist
begründet, die Technik bzw. ihre Erzeugnisse als die zweite Natur des
Menschen zu bezeichnen. Aber im Gegensatz zu seiner ersten Natur
ist die zweite Natur eine vom Menschen selbst geschaffene und damit
unter Umständen auch veränderbar, ja rückgängig zu machen z. b. durch
Abschaffung oder Nichtindienstnahme.
Eigenbewegung des Menschen als Erlebnis oder als Beschreibung
Man
kann die Eigenbewegungen des Menschen unterscheiden in innere
Bewegungen des Körpers, um überhaupt zu leben, in Bewegungen der Hand,
um Umweltbedingungen zu verändern und Bewegungen mit dem Fuß, um
Ortsveränderungen durchzuführen.
Die Eigenbewegungen aktivieren
und umfassen immer den ganzen Menschen: seine äußeren Bewegungen wie
die von Organen, Händen und Füße und seine inneren Bewegungen wie
Bewusstsein, Wahrnehmung, Denken, Kognition, Gefühle, Wollen, Werte,
Subjektivität und die Fähigkeit zur Selbstreflexion.
Die äußeren
Bewegungen beginnen mit Kopfbewegungen und Bewegungen der Gliedmaßen,
wobei zumindest Greif- und Saugreflex eine angeborene Struktur
besitzen. Später differenzieren sich diese Bewegungen zu spezifischen
Mustern in den verschiedenen Berufen, Künsten, Freizeitaktivitäten und
Alltagsverrichtungen aus.
Alle diese Prozesse haben jeweils eine
subjektive und objektive Seinsweise von denkbar höchster
Verschiedenheit. Die subjektive Seinsweise heißt hier: Die jeweilige
Eigenbewegung erscheint im Bewusstsein eines Ichs in der ersten Person
Singular und wird ausschließlich nur hier erlebt. Dieses phänomenale
Bewusstsein ist eines der zentralen Probleme der Philosophie des
Geistes und wird dort unter dem Begriff Qualia behandelt. Man
versteht darunter den subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen
Zustandes. Das Erleben von Quantität und Qualität der eigenen
Bewegungen ermöglicht erst das, was man als Identität bezeichnet.
Dieses Erleben macht den eigentlichen und nicht ersetzbaren Wert der
Eigenbewegung aus.
Erlebnisse kann man aber auch von außen
mündlich oder schriftlich beschreiben, indem man sie objektiviert. Das
kann auf zweierlei Weise geschehen: Einmal kann der Akteur sein
Erlebnis selbst beschreiben, indem er sich zum quasi-objektiven
Beobachter seines Erlebnisses macht. Oder eine Eigenbewegung wird von
einem externen Beobachter wahrgenommen und beschrieben. In diesem Fall
liegt vollständige Objektivität vor. Zudem entsteht im externen
Beobachter – und das ist oft ein nicht wahrgenommenes Phänomen –
parallel ein inneres Erlebnis, gewissermaßen eine sekundäre Qualia,
sein Erleben von Eigenbewegungen eines anderen Menschen. Es entsteht
Täuschung, wenn man sich, wie zum Beispiel beim Fernsehen, diese
Differenz nicht bewusst macht.
Physiologie der Eigenbewegung und ihre Funktion im Erkenntnisprozess
Für
die Durchführung von Eigenbewegung sind Muskel- und Nervengewebe neben
den Deck- und Bindegeweben konstituierend für die Durchführung von
Eigenbewegung. Die Nerven sind basal in vegetativen Prozessen, in
Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühlen, Willen sowie in Leistungen des
Verstandes und der Vernunft wirksam. Muskeln ermöglichen, Objekte von
verschiedenen Standpunkten aus wahrzunehmen und Ortsveränderungen sowie
Handlungen durchzuführen. Darüber hinaus sind sie substanziell in den
Sinnesorganen tätig und beeinflussen bzw. „färben“ zumindest alle
Nerventätigkeiten. Die Kognition hat ihren Ursprung und Schwerpunkt im
Nervensystem. Dagegen haben Werte und Gefühle ihren Ursprung in den
Muskeln und nicht in den Nerven - Nerven machen sie nur bewusst. Dass
es Übergänge von Sein zum Bewusstsein, von Physiologie und Psychologie
gibt, ist unbestritten. Der Mensch (und alle Lebewesen) ist auf eine
gelingende Zusammenarbeit beider Systeme existenziell angewiesen -
zumindest auf minimaler Ebene: Selbst der Fußballspieler (hier Betonung
auf Muskeln) muss wissen, welche Funktion ein Tor hat und wo es steht,
selbst der Philosoph (hier Betonung auf Nerven) muss zumindest seine
Augen bewegen und die Seiten des Buches umschlagen bzw. die Knöpfe
seines Computers bedienen.
In welchem Verhältnis stehen das
Nerven- und Muskelsystem physiologisch zueinander? Auf der Ebene der
Zellen lassen sich beide Systeme eindeutig unterscheiden, denn sie sind
durch einen Hiatus, d. h. durch einen unüberwindbaren Graben
voneinander getrennt. Zwischen ihnen gibt es, von Reflexen abgesehen,
keine substanzielle Einheit. Beide Systeme befinden sich nicht in einem
naturwüchsigen, prästabilisierten Gleichgewicht.
Jakob von Uexküll
mit dem Funktionskreis und Viktor von Weizsäcker mit dem Gestaltkreis
haben wichtige Einsichten für das Verstehen der funktionalen Einheit
von Wahrnehmen und Bewegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
gelegt. Dass zwischen Geist und Körper eine intensive und starke
„Zusammenarbeit“ bestehen muss, zeigen auch Forschungsergebnisse der
Kognitionspsychologie, Entwicklungspsychologie, Deprivationstheorie und
Neurophysiologie, die Arbeiten der Philosophen Schopenhauer und
Nietzsche sowie der Pädagogen Hugo Kükelhaus und Horst Rumpf und
humanistische Psychologen wie Moshé Feldenkrais und Alexander Lowen -
um die bekanntesten zu nennen.
Angemerkt werden muss, dass es bis
jetzt nicht eindeutig und zweifelsfrei gelungen ist, das Zusammenwirken
von Muskel- und Nervensystem, den Übergang von Sein zum Bewusstsein zu
beschreiben. Hier gilt immer noch das Wort von Emil Heinrich Du
Bois-Reymond „Wir wissen nicht“ (ignoramus), wofür sicherlich auch das
Moment der Freiheit eine Ursache ist. Da der Mensch nur über eine
residuale Instinktausstattung verfügt, kann und muss er über Lernen
beide Systeme stark machen und in ein Gleichgewicht bringen.
Erkenntnistheoretische
Systeme, die aus der Aufklärung kommen oder ihr verpflichtet sind,
haben große Schwierigkeiten, den sich bewegenden Körper
systematisch-konstitutiv zu verorten. In der Einleitung zur
transzendentalen Logik schreibt Kant: "Wollen wir die Rezeptivität
unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine
Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen; so ist dagegen das Vermögen,
Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontanität des
Erkenntnisses, der Verstand"[1]. Sinnlichkeit und Verstand sind
also die zwei Quellen der Erkenntnis. Natürlich ist auch hier die
Sinnlichkeit an Sinnesorgane, insbesondere an die Augen (und damit auch
an den Körper) gebunden, aber es ist eine reduzierte Sinnlichkeit, die,
vom Verstand geleitet, dessen Vorgaben in der Außenwelt lediglich
bestätigt. Das erkennende Subjekt wird zu einem punktförmigen, fast
körperlosen Selbst und der sich bewegende Körper aus
erkenntnistheoretischer Perspektive überflüssig. Wegen dieser
Einseitigkeit hatten es ganzheitlich-praktische Ansätze in der
Erkenntnisvermittlung an Schulen und Hochschulen schwer, angemessen
berücksichtigt zu werden.
Ein weiteres Argument für die Position,
dass der sich bewegende Körper eine condition humaine im
Erkenntnisprozess ist, liefert folgender Hinweis: Nach der Theorie der
verkörperten oder situierten Künstlichen Intelligenz scheiterten bisher
alle Versuche, autonome künstliche Intelligenzsysteme zu realisieren
auch daran, dass diese Systeme über keinen Körper verfügen. Warum
ist das ein Problem? Nur über den sich bewegenden Körper kommen die
notwendigen und unverzichtbaren Werte in das kognitive System hinein.
Diese Werte entscheiden über Setzungen, Selektionen, Präferenzen aus
der unendlichen Zahl aller kombinatorischen Möglichkeiten. So ist
selbst die Setzung, die Logik zur Richtschnur von wahren und falschen
Verknüpfungen zu machen, eine wertende. Ginge man nicht von einem Leib
aus, müsste man auf idealistische Konzepte zurückgreifen - was ja im
kognitivistischen Wissenschaftsverständnis nicht zulässig wäre - oder
emergenzphilosophische Konstrukte heranziehen. Als reale Quelle und als
Erklärung bleibt dann nur der sich bewegende Körper übrig. Das
kinästhetische System ist unverzichtbar für die Weltaneignung nicht nur
in der Kindheitsphase (wie es die Entwicklungspsychologie mit Recht
lehrt), sondern in allen Lebensphasen. Mit der Reduzierung
kinästhetischer Aktivitäten werden gleichzeitig Ding- und
Raumerfahrungen reduziert und damit auch Sinn und Bedeutungen
(bekanntlich besteht eine enge Beziehung zwischen Sinne und Sinn).
Bedeutung der Energie im Vermittlungsprozess
Die
Energieflüsse bewirken, dass aus Strukturen Prozesse, dass aus Muskeln
Bewegungen werden. Sie schaffen im Gehirn Synapsen in Form von
Bahnungen, durch die äußere und innere Bewegungen geleitet
werden. Als Beispiel möge der Greifreflex dienen, der über das
vorbegriffliche Greifen mit dem begleitenden Spüren und Fühlen zum
verbalen Begriff mit dem begleitenden Denken, Ordnen und Sprechen
führt. Die Bahnungen zerfallen, wenn nichts für ihren Erhalt getan
wird. Der Weg der Information aus der Umwelt ins Bewusstsein überquert
zwei entscheidende Übergänge, gewissermaßen Brücken: a) die zwischen
materieller Umwelt und Muskeln und b) die zwischen Muskeln und Nerven.
Die Prozesse am ersten Übergang kann man analog der Prägung beschreiben
und erklären: Die Muskeln werden in der körperlichen Auseinandersetzung
von der jeweiligen physischen Umwelt im Verhältnis ein-zu-eins geprägt.
Steige ich eine Treppe hinauf, wird deren funktionale Form in mir
muskulär abgebildet. Beim zweiten Übergang findet keine Prägung,
sondern eine Konstruktion statt: An den Muskeln befinden sich der
Tastsinn, der innere Bewegungssinn und der Gleichgewichtssinn. Die
jeweils muskulär erfahrene Umwelt wird von diesen Sinnen „aufgenommen“
und mit Hilfe zusätzlicher neuronaler Systeme zu Informationen
verarbeitet. Inwieweit die muskuläre Prägung und die zusätzlichen
Sinneserfahrungen abgebildet, modifiziert oder gar neu konstruiert
werden, ist erkenntnistheoretisch nicht eindeutig zu beantworten. Hier
findet der bereits angedeutete geheimnisvolle Übergang vom Sein zum
Bewusstsein statt. Bei diesen Prozessen handelt es sich aber nicht um
eine Einbahntrasse: Die über die Muskeln vermittelte Umwelt wirkt auf
das Nervensystem ein wie umgekehrt das innere Bild der Umwelt über das
Nerven- und Muskelsystem als Handeln verändernd auf die Umwelt
einwirkt. Zumindest am Endpunkt dieses Prozesses ist die Energie nicht
mehr neutral, entqualifiziert, homogen, sondern von inneren Anlagen und
äußeren Bedingungen geformt und gerichtet: aus körperlicher ist
geistige Energie geworden. Deutlicher und verständlicher werden die
existenziellen Veränderungen der energetischen Prozesse in der
Eigenbewegung, wenn man die in Maschinen und Motoren wirkenden
Energieprozesse analysiert. Die Energie, die das Auto bewegt, fließt an
den Fahrenden vorbei, berührt und verändert sie nicht, während durch
Eigenbewegung ein Prozess in Gang gesetzt wird, der den Menschen in
seiner Ganzheit erfasst. Erst in ihr und aus ihr konstituieren sich
Körper, Geist und Seele, ja existenzielles Selbstbewusstsein. Das ist
die entscheidende Differenz zwischen Eigen- und Fremdbewegung.
Die Einheit von Eigenbewegung und Weg
Die
isolierte Bewegung eines Körpers ist eine Abstraktion, die es so in der
Realität nicht gibt. Eigenbewegung ist ein hochkomplexer und
ganzheitlicher Vorgang, an dem nicht nur Körper, Seele und Geist,
sondern auch natürliche, soziale und kulturelle Umwelten als Gegenwart,
Erinnerung und Hoffnung beteiligt sind. In diesem Prozess beeinflussen
und verändern die beteiligten Funktionen und Dimensionen sich
gegenseitig.
In der konkreten Bewegung verengt sich der Raum zu
einem Weg. Dessen Ausdehnung beschränkt sich nicht auf seinen
materiellen Untergrund. Der Weg schließt ein, was auf und an ihm, wobei
das »an« weit in den Tiefenraum gehen kann bis hin zum Horizont. Er
umfasst Steigungen, Untergründe, Menschen, Autos, Gebäude, Tiere,
Pflanzen, Regen, Sonne, Wind, Gerüche, Stille, Geräusche und
spezifische Atmosphären wie eine Stimmung am frühen Sonntagmorgen in
der Allee, also Phänomene, die man als halbobjektiv auffassen kann. Und
an diesen Dingen »kleben« Bedeutungen, also individuelle und kollektive
Geschichte, Assoziationen, Werte, Wünsche usw. In metaphysische
Dimensionen gelangt man, wenn man materiellen Untergrund und
Nichtmaterielles weiter hinterfragt. Der Weg ist also nicht linear,
nicht zweidimensional, sondern zumindest dreidimensional, ja
mehrdimensional, wenn man Zeit, Leben und Metaphysik hinzunimmt. Wege
sind sehr verschieden. Das Spektrum reicht von Trampelpfaden bis zu
Autobahnen, von bestehenden zu neu zu bahnenden, von bekannten zu
unbekannten, von reizvollen zu reizarmen, von schwierigen zu leicht
begehbaren, von aufsteigenden zu absteigenden Wegen, mit und ohne
Menschen, mit verschiedenen Natur-, Kultur- und Sozialanteilen. Wege
sind Projektionsfläche von funktionalen, ästhetischen und sozialen
Wünschen und Zielsetzungen.
Eigenbewegung und Sport
Das
große Anregungspotenzial einer vielfältigen Umwelt gilt es in der
Eigenbewegung zu nutzen. Sportliche Tätigkeiten tun dies nicht! Die
Beziehung des Sports zur Umwelt kann man gut mit den Begriffen
Assimilation und Akkommodation aus der Theorie Piagets, die den Geist
aus dem Handeln ableitet, erklären. Akkommodation besteht in der
Schaffung neuer Begriffe, Assimilation in der Auffüllung dieser
Begriffe. Wenn ein Kleinkind für alle größeren vierbeinigen Haustiere
den Begriff »Hund« benutzt, wird es eines Tages gezwungen sein, einen
zweiten Begriff »Katze« aufzubauen (Akkommodation) und jeweils mit
verschiedenen Katzen und Hunden zu füllen (Assimilation). Nach diesem
Prinzip verläuft der gesamte Bildungsprozess: Neue Begriffe bilden und
diese mit Inhalten füllen, wobei es auch hier wieder auf ein
Gleichgewicht zwischen beiden Prozessen ankommt.
Der Sport hat zur
Umwelt ein Verhältnis der Assimilation, das heißt, die Umwelt muss
bekannt und berechenbar sein, so dass sie mühelos in die
Bewegungsabläufe integriert werden kann. Sonderformen des Sports wie
Querfeldeinrennen, Wildwasserfahrten, Bergtouren mit Mountain-Bikes
usw. müssen eine sehr differenzierte Umwelt berücksichtigen und sich
ihr anpassen (Akkommodation). Aber diese Anpassung gilt nicht dem
Kennenlernen der Umwelt als Selbst- und Bildungszweck, sondern dient
der Weiterentwicklung der körperlichen Fähigkeiten, so dass man auch
von einer sekundären Assimilation sprechen kann. Selbst sinnen- und
sinnreiche Umwelten werden im Sport zu subjektiv monotonen Umwelten. In
der Regel sind sie es auch real wie z. B. Sportarenen. Dieser
grundsätzliche Einwand gilt, was die soziale Umwelt betrifft, nicht für
den Mannschaftssport, der ein idealer Ort für soziales Lernen ist.
Eigenbewegung und Gesundheit
Die
vollkommene Ruhe, die vollkommene Bewegungslosigkeit ist der Tod, aber
auch die zunehmende Ersetzung der Eigenbewegung durch technische
Bewegungen wäre aus der Perspektive Gesundheit und Subjektivität
Verlust: Eigenbewegung ist ein Existenzial wie Sprache und Freiheit. In
und durch die Eigenbewegung hat der Mensch einerseits die Möglichkeit
des direkten Zugangs zur Welt und zu sich selbst, andererseits wie ein
Handwerker aber auch Veränderungen durchzuführen.
Insbesondere
neuere Befunde aus der Onkologie, Orthopädie, Psychiatrie, Kardiologie
und Demenzforschung haben zu einer positiven Einstellung gegenüber der
Eigenbewegung geführt und zu einer Abkehr von Therapien auf Basis
„Ruhe“. Das gilt auch für die Vorbeugung: Eigenbewegung hat positive
Auswirkungen auf Knochen, Haut, Muskeln, Harnwege, Lungen,
Herz-Kreislauf-System, Verdauung, Sexualität und Schmerzempfindungen.
Die Risiken bei Diabetis, Krebs, Bluthochdruck verringern sich,
Gedächtnisschwund und Alterungsprozesse verlangsamen sich. Die
Beziehung zwischen Bewegungsmangel und Übergewichtigkeit ist gut
erforscht. Die positiven Auswirkungen der Eigenbewegung auf die
seelisch-geistige Gesundheit sind vielfältig: Sie fördert Stressabbau,
wirkt gegen Melancholie, Depressionen, Aufmerksamkeitsdefizitstörungen.
Durch den direkten Kontakt zu sich selbst werden Identität und
Selbstbewusstsein beeinflusst sowie die Zuversicht in die eigenen
Fähigkeiten gefördert. Für den Aufbau von Erkenntnisvoraussetzungen,
Intelligenzentwicklung und primärem Erfahrungswissen sind
Eigenbewegungen konstitutiv.
Geschichte der Eigenbewegung
Am
Anfang steht die Eigenbewegung: Nichtmenschliche Lebewesen führen sie
ausschließlich durch, außer wenn sie transportiert werden. In der
Geschichte der Menschheit gibt es zu Beginn und über eine lange Periode
hinweg allein die Eigenbewegung. Erst mit der Domestikation von Tieren,
insbesondere des Pferdes, der Entdeckung und Nutzung der Wind- und
Wasserkraft und der Erfindung von komplizierten Werkzeugen gelang es,
teilweise die Eigenbewegung bei Herstellungsprozessen und
Ortsveränderungen durch mechanische Apparaturen zu ersetzen, die
allerdings noch direkt, d. h. vor Ort von natürlichen Energiequellen
wie Wind, Wasser, Tier oder Mensch gespeist werden mussten: Mit der
Erfindung der Dampfmaschine von James Watt im Jahre 1769 löste sich die
starre Verknüpfung von zu betreibender Maschine und Energieträger. Die
notwendige Energie konnte nun an jedem Ort und zu jeder Zeit
freigesetzt und eingesetzt werden.
Im Fortgang dieser Entwicklung
wurden alle Prozesse, die algorithmisch verlaufen, zunehmend von
motorenangetriebenen Maschinen übernommen. Die Geschichte der
Eigenbewegung ist eine Geschichte der Verdrängung durch die Technik.
Exemplarisch dazu drei Befunde: Während vor ca. 10 000 Jahren unsere
Vorfahren bis zu vierzig Kilometer täglich laufen mussten, um den
Energiebedarf der Sippe zu decken, läuft der Bundesbürger heute
außerhalb von Häusern täglich durchschnittlich 650 Meter. Jährlich
werden allein in der Bundesrepublik acht Milliarden Fahrten unter einem
Kilometer mit dem Auto durchgeführt. Die gegenwärtige Gesellschaft wird
zunehmend zu einer sitzenden Gesellschaft. Diese Entwicklung besteht
aus einem Bündel von Ursachen, die sich teilweise ergänzen und
überschneiden: Bequemlichkeit als die zumeist unbewusste Antwort auf
die körperlichen Mühen und Anstrengungen des Großteils einer
Gesellschaft in der Vergangenheit (im klassischen Athen waren nur ca.
fünfzehn Prozent der Bevölkerung freie Bürger); die Befreiung von
harter körperlicher und geistig stupider Arbeit durch technische
Erfindungen, die teilweise Selbstzweck wurden; Technik als Ware mit den
entsprechenden Verkaufsstrategien; die real bestehenden
Effizienzvorteile in bestimmten Bereichen wie Schnelligkeit, Ausdauer
und quantitativer Output; die Technik wird richtig als eine Erweiterung
menschlicher Fähigkeiten bestimmt, aber fälschlicherweise werden die
realen technischen Produkte einem Kritiktabu unterworfen. Eine Kritik,
dass durch die Technik der Mensch reduziert und gefährdet werden
könnte, ist innerhalb dieses Denkrahmens nicht möglich.
Trotz
vieler positiver Errungenschaften, wird es zunehmend Aufgabe sein, den
Anteil an Fremdbewegung zu begrenzen, um der subjekterzeugenden und
–stabilsierenden Eigenbewegung notwendigen Raum und Zeit sowie
Eigenwert zu geben.
Ausblick: Eigenbewegung als ökologische, soziale und ökonomisch-politische Kategorie
Grundsätzlich
verbrauchen Eigenbewegungen neben dem normalen Stoffwechsel keine
zusätzlichen Energien, zudem sind sie nicht materialaufwendig. Den
Anteil der Eigenbewegung insbesondere bei Ortsveränderungen zu
vergrößern, ist effektiver Klimaschutz. Eigenbewegungen liefern
ebenfalls einen Beitrag zur Reduzierung internationaler und nationaler
politischer Probleme, denn der ständig größer werdende Bedarf an
Energie weltweit erzwingt imperiale Interventionen, zunehmend
riskantere Formen der Energiegewinnung wie Atomstrom und Ölbohrungen in
Tiefseebereichen und zukünftige Subventionen für billige Energie, um
drohende Aufstände zu verhindern.
Die Auswirkungen von
Eigenbewegungen auf Landschaft sowie auf Städte sind schonend. Ein
altes Stadtviertel kann problemlos den Besuch vieler Menschen
verkraften. Ein Mehr an Eigenbewegung ist effektiver Umweltschutz.
Durch ihre konkrete Leiblichkeit ermöglichen und fördern
Eigenbewegungen spontan entstehende soziale Gebilde und
face-to-face-Öffentlichkeit.
Die Förderung der Eigenbewegung ist
eine zentrale politische Aufgabe mit ökonomischen Implikationen. Die
bereits formulierten und praktizierten, aber isolierten Alternativen in
der Medizin, in Sport- und Freizeitwissenschaften, in Kommunikation und
Interaktion, in Stadt- und Siedlungsentwicklung, in Umwelt- und
Klimaschutz, in der neuen Wanderbewegung und steady-state-economy haben
als gemeinsamen Kern die Eigenbewegung - oft selbst noch unbegriffen.
Literatur
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Weizsäcker, v. V.: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen
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Weblinks
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Über den Zusammenhang von Bewegung und Wahrnehmung bei Jakob von
Uexküll Universität Hannover, Erziehungswissenschaften
• Promenadologie - Spaziergangswissenschaft
• Wandern
Belege
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2.
Aebli, H.: Denken: Das Ordnen des Tuns. Bd I: Kognitive Aspekte der
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3.
Fink, E.: Grundphänomene des menschlichen Daseins, 2. Aufl. Freiburg
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4.
Bammé, A. u.a.: Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen. Grundrisse einer
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155 - 173; Rabinbach, A.: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die
Ursprünge der Moderne, Wien 2001, ISBN 3-85132-270-3, S. 31 - 58
5.
Städtler, M.: Selbstbestimmung zwischen Natur und Technik, in: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie, 58 Jg., 2010, Heft 2, Berlin
(Akademie Verlag), S. 257
6. Ayres, A. J.: Bausteine der
kindlichen Entwicklung, 2. Aufl. Berlin 1992, ISBN 3-540-55809-8, S.
21; Zimmer, R.: Handbuch der Bewegungserziehung. Didaktisch-methodische
Grundlagen und Ideen für die Praxis, 9. Aufl. Freiburg i. Br.
1993, ISBN 3451-26906-6, S. 68 - 76
7. Metzinger, T. (Hrsg):
Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, 2. Aufl.
Paderborn 1996, ISBN 3-506-75513-7, S. 21 - 27
8. Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd.I , 2. Aufl. Stuttgart 1968, ISBN 3-534-18263-4, S. 151 - 156
9. Nietzsche, Fr.: Also sprach Zarathustra, 2. durchgesehene Aufl., München 1988, ISBN 3-423-59065-3, S. 40
10. Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1966, ISBN 978-3-15-006461-0, S. 120
11.
Dieser Hinweis geht auf eine schriftliche Mitteilung von Manuela
Lenzen, Wissenschaftsredakteurin in der FAZ zurück, die zu dieser
Problematik veröffentlicht hat.
12. Spitzer, M.: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg 2002, ISBN 3-8274-1396-6, S. 65
13.
Bollnow, O. F.: Mensch und Raum, 8. Aufl. Stuttgart 1997, ISBN
3-17-014585-1, S. 96 – 99; Merleau-Ponty, M.: Phänomenologie der
Wahrnehmung, 6. Aufl. Berlin 1974 ISBN 978-3-11-006884-9, S. 91 - 96
14.
Piaget, J.: Psychologie der Intelligenz, 2. Aufl. Zürich 1947, S.
140 - 175; Piaget, J.: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie,
Frankfurt a. M. 1973, ISBN 3-518-27606-9, S. 96 - 104
15. Blech,
J.: Bewegung. Die Kraft, die Krankheiten besiegt und das Leben
verlängert, Frankfurt a. M. 2007, ISBN 978-3-10-004414-3. Eine
fundierte und gut lesbare Zusammenfassung der Ergebnisse.
16.
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie: Zukunftsfähiges
Deutschland in einer globalisierten Welt, 2. Aufl., Frankfurt a. M.
2008, ISBN 978-3-596-17892-6, S. 34 - 51
9.
".....und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr
ginge." Einige Vorüberlegungen zum Sich-Bewegen in pädagogischer
Absicht
Wenn im Folgenden von Bewegung
gesprochen wird, ist die Eigenbewegung, das Sich-Bewegen gemeint.
Wenn in dieser Arbeit von Körper gesprochen wird, ist der Leib,
also der beseelte Körper gemeint. Mit dieser
zugegebenerweise etwas prosaischen Ausdrucksweise soll ausgesagt
werden, dass der Körper dann Leib ist, wenn Subjekt und Objekt, wenn
Geist und Körper identisch sind. Also nur aus der Binnenperspektive
entstehen Aussagen von und über den Leib, während die Fremdperspektive
nur über Körper zu reden vermag. Die äußerst schwierige und immer noch
nicht entschiedene erkenntnistheoretische Frage, was diese
Binnenperspektive ausmache und wie sie sich konstituiert, ob das
Subjekt plural oder einheitlich konstituiert, was das Bewusstsein
überhaupt sei, wie sich beide zueinander verhalten, lasse ich hier
offen. Der „beseelte“ Körper ist immer ein sich bewegender: Bewegung
und Leib bzw. Körper bilden eine unauflösbare Einheit.
Johann
Gottfried Seume (1763 – 1810), der berühmte Spaziergänger nach Syrakus,
von dem dieses im Titel aufgeführte Zitat stammt, war kein
Naturschwärmer und auch nicht ein von romantisch-ziellosem Fernweh
Ergriffener, sondern beschrieb in seinen Reiseberichten die sozialen,
wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse der
jeweiligen Länder in durchgehender aufklärerisch-kritischer
Perspektive. Er wanderte nicht, sondern er ging. Gehen war für Seume
die intensivste Form von Wirklichkeitserfahrung (vgl. Kesting, 2001).
Dieses
gewichtige Zitat gewinnt an Plausibilität, wenn man es im Kontext
liest. Die entscheidende Passage aus dem Reisebuch „Mein Sommer“ lautet:
„Wer
geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch (von Menschen
und der Welt, wäre meine Interpretation; BM) mehr, als wer fährt.
Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen darüber machen nach
Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang
für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Mann (und natürlich auch
in der Frau. Nach einigen römischen Autoren wird übrigens im
Gang (bestimmter) Frauen das Göttliche offenbar, BM)
und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge
....Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht, man sehe sich nur
um! Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich um einige Grade von
der ursprünglichen Humanität entfernt.“
Die Gedanken Seumes
sind aktueller denn je, da das Gehen, das ausschließlich auf
Eigenenergie beruhende Sich-Fortbewegen, immer häufiger durch Formen
des passiven Transports ersetzt wird. Körperliche Betätigungen und
Bewegungsaktivitäten in der alltäglichen Lebenswelt sind signifikant
geringer geworden. Dass dieser in der Regel von Wirtschaft und
Konsumenten unisono als Fortschritt und Gewinn interpretierte und
gelebte Prozess Verluste impliziert, die weit über die gerade noch
wahrgenommenen Rückenschmerzen und Gewichtszunahmen hinausgehen, die,
wie Seume meinte, die Humanität und damit zentral Pädagogik tangieren,
versucht vorliegender Aufsatz bewusst zu machen. Es wird
dabei kein Anspruch auf Systematik oder gar Vollständigkeit
erhoben, sondern auf einige wenige Dimensionen in
Tiefenstrukturen hingewiesen und für die Pädagogik diskutierbar
gemacht - Dimensionen, die meiner Ansicht nach in der
einschlägigen Literatur einschließlich der von Hans Günther
Homfeldt herausgegebenen, nur am Rande oder gar nicht thematisiert
werden.
Inwieweit man im bereits erreichten
Stadium der Entkörperlichung und tendenziellen Bewegungslosigkeit
überhaupt in der Lage ist, diese Frage angemessen zu begreifen
und umzusetzen, ist offen. Denn es geht nicht primär
um Sport, Fitnesstraining, Brain-Gym usw., sondern um
die Stärkung des sich bewegenden Körpers im Alltag, in
alltäglichen Lebenszusammenhängen und auch in und als Lernsituationen.
Es geht um den Leib, mit dessen Hilfe man etwas realisiert, über sich
selbst und die Welt etwas erfährt und sich aneignet, mit anderen
interagiert und kommuniziert. Hier könnte man sicherlich auch von
Kindern lernen. Wenn wir dafür Möglichkeitsräume öffnen
wollen, dann müssen wir diesen Entkörperungsprozess (ein Stück)
aufheben und in neue, fruchtbare Bahnen lenken.
Vielleicht
haben Sie als Leserin oder Leser inzwischen gedacht, dass die
Rede über das Verschwinden des menschlichen
Leibes (von den Körpern in der Welt ist hier nicht die Rede) und
die drastische Reduzierung seiner Eigenbewegung in der
gegenwärtigen Informationsgesellschaft sattsam bekannt und von daher
gegenstandslos sei. Handelt es sich hier nicht wieder um
eine kulturkritische Position, die über Rousseau, Reformpädagogik
bis hin zur Erlebnispädagogik auch in Theorie und Praxis der
Erziehung eine immer wiederkehrende Konstante darstellt? Ein
solcher Einwand ist bedenkenswert: Skepsis und Einspruch sind
notwendig, wenn Ideologiebildung bis hin zu Mystifizierungen im Spiele
sind. In diesem Zusammenhang muss zumindest Folgendes klar sein:
a)
Der Blick in die Vergangenheit, zumindest in die geschichtliche, bringt
mehr Problematisches (Foucault, Elias, Rutschky mögen hierfür
stehen) als Wünschenswertes zum Vorschein.
b) Die
Wiedereinsetzung des Körpers und der Bewegung sind keine Garantie
für die Entfaltung von mehr Humanität (so z. B. im Faschismus). Der
Körper ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für
Humanität.
c) Wie integriert das System "beseelter Körper" auch gedacht wird, zwischen den einzelnen Elementen besteht keine Kausalität.
d)
Auch der Körper ist nicht die letzte Grundlage, der Archimedische Punkt
für Erkenntnis, Moral und Glück. Denn er ist fragil,
störanfällig, von Sorge durchdrungen.
Dass aber der
Körper überhöht, mit seinem Konzept Missbrauch getrieben wurde,
ist kein Grund, auf eine rationale Analyse seiner Bedeutung
zu verzichten. Vielmehr gilt es, genau hinzusehen, was da
eigentlich verschwindet und denkend einzuhalten, um eventuell andere
Wege einzuschlagen.
Es wäre technologisch-kausales
Denken, umstandslos auf Zukunft schließen zu wollen.
Hölderlins vielzitiertes Wort "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende
auch" trifft zu, weil der Mensch als conditio sine qua non über
Freiheit verfügt, die aus ihm unkontrollierbar immer wieder
hervorbrechen kann. Auch der gefesselte Körper kann ein
Speicher und ein Generator für Möglichkeiten sein, gesetzte
Grenzen zu überwinden. Wissend, dass eine solche Emanzipationsbewegung
immer auch auf Geist angewiesen ist, gilt es, neue
Perspektiven kennen zu lernen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und
so seinen eigenen körperlichen Stand- und Entwicklungspunkt zu
gewinnen. Die folgenden Abschnitte habe ich bewusst "Perspektiven"
genannt, um ihre prinzipielle Unabgeschlossenheit,
Subjektivität und das Faktum der unvermeidbaren Überschneidungen
einzufangen. Auch versteht sich, dass die jeweilige Perspektive
nur in Teilbereichen ausgeleuchtet wird.
Im Folgenden
werden sechs Perspektiven thematisiert:
die der künstlichen Intelligenzforschung (1), die
systematisch-erkenntnistheoretische (2), die
kognitionswissenschaftliche (3), die anthropologische (4), die
kinästhetische (5) und schließlich die gesellschaftliche
(6).
1. Die Perspektive der künstlichen Intelligenzforschung: Der Leib als Wertelieferant
Um
deutlich zu machen, dass der Körper eine condition humaine
ist, folgender erster, wenn auch indirekter Beleg: Nach der
Theorie der sogenannten verkörperten und situierten Künstlichen
Intelligenz scheiterten bisher alle Versuche, autonome künstliche
Intelligenzsysteme zu realisieren auch daran, dass diese Systeme über
keinen Körper verfügen (Brooks 1991, S. 139 – 160), Dennett 1990, S.
147- 171), Gold/Engel 1998). Warum ist das ein Problem? Nur
über den Körper kommen die notwendigen und unverzichtbaren Werte
in das kognitive System hinein. Diese Werte entscheiden über
Setzungen, Selektionen, Präferenzen aus der unendlichen Zahl aller
kombinatorischen Möglichkeiten. So ist selbst die Setzung, die Logik
zur Richtschnur von wahren und falschen Verknüpfungen zu machen, eine
wertende. Ginge man nicht von einem Leib aus, müsste man
auf idealistische Konzepte zurückgreifen - was ja im
kognitivistischen Wissenschaftsverständnis nicht zulässig wäre -
oder emergenzphilosophische Konstrukte heranziehen. Als
reale Quelle und als Erklärung bleibt dann nur der sich bewegende
Körper übrig.
Das Paradoxon besteht also darin, dass eine
der avanciertesten und abstraktesten Wissenschaften wie die
Kognitionswissenschaften händeringend nach einem Körper sucht.
Hier ist aber nicht der "theoretische", isolierte Körper, sondern
der in Gesellschaft und Natur, in die jeweiligen
Lebenswelten eingebettete gemeint. Verzichten wir auf den
Körper, so verzichten wir auf rationale Bejahung,
Kritik, Modifikation, Weiterbildung oder Negation. Es bliebe
ein einziger Wert bestehen: die einmal überkommene und
übernommene Aufgabe, alle intern-geistigen und
äußerlich-materiellen Hindernisse, die die technologisch
eingeschlagene Entwicklungsrichtung behindern, zu
beseitigen.
Haupteinsicht aus der künstlichen Intelligenzforschung:
Es gibt keine leib-losen Werte
2. Die systematisch-erkenntnistheoretische Perspektive: Der Leib im Erkenntnisprozess
Hier geht es im Wesentlichen um eine (a) systematische und b) zeitliche Dimension.
a)
Erkenntnistheoretische Systeme, die aus der Aufklärung kommen oder ihr
verpflichtet sind, haben große Schwierigkeiten, den Körper
systematisch-konstitutiv zu verorten. In der Einleitung zur
transzendentalen Logik schreibt Kant: "Wollen wir die Rezeptivität
unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine
Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen; so ist dagegen das
Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die
Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand"(Kant 1966, S. 120).
Sinnlichkeit und Verstand sind also die zwei Quellen der
Erkenntnis. Natürlich ist auch hier die Sinnlichkeit an
Sinnesorgane, insbesondere an die Augen (und damit auch an den
Körper) gebunden, aber es ist eine reduzierte Sinnlichkeit,
die, vom Verstande geleitet, dessen Vorgaben in der Außenwelt
lediglich bestätigt. Das erkennende Subjekt wird zu einem
punktförmigen, fast körperlosen Selbst. Der Körper wird aus
erkenntnistheoretischer Perspektive überflüssig.
Sinnlichkeit
Verstand
Erkenntnis
Die radikalste Kritik dieser Auffassung
kulminiert sicherlich in Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie.
Um die große Bedeutung des Körpers im
Erkenntnisprozess möglichst tief zu fundieren, halte ich es
für sinnvoll, auf das Modell des
Gestaltkreises (V. von Weizsäcker) bzw. des
Funktionskreises (J. v. Uexküll) zurückzugreifen. Nach diesen
Autoren bilden Muskelsystem und Nervensystem die
physiologische Basis der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen.
Erweitert
man Wahrnehmen um die höheren psychischen Funktionen wie Fühlen,
Behalten und Denken, dann kann man diese Einheit als verschiedene
Stufen von Erkenntnismöglichkeiten interpretieren. Die
psychischen Funktionen sind im Nervensystem, die Bewegungen im
Muskelsystem lokalisiert. Beide Systeme müssen intern und wechselseitig
interagieren, wenn Erkenntnis entstehen soll.
Nerven
Muskeln
Vernunft
Verstand
Gefühl
Bewegung
Wahrnehmung
vegetative Prozesse
An
dieser Graphik ist deutlich erkennbar, dass das Modell der
Aufklärung (Sinnlichkeit und Verstand) zumindest begrifflich
ausschließlich im Nervensystem ruht, dass es gewissermaßen einen
Sonderfall darstellt. Aber man kann auch erkennen, dass das
hier vorgestellte Modell nicht ganzheitlich ist. So wird z. B. das
Knochensystem nicht berücksichtigt, obwohl es sicherlich auch eine
funktionale Bedeutung im Erkenntnisprozess hat ("der aufrechte Gang"
als Metapher für charaktervolles Denken und Handeln). Den Körper
gibt es isoliert nur dann, wenn es sich um einen toten handelt.
Bewegung macht das Wesen des Körpers aus. Es gibt aber
keine vollkommen isolierte Körperbewegung: Bewegung findet immer
in Räumen statt. Von daher müssen Bewegung und Raum systemisch
gesehen werden, wobei der Raum auch den gesellschaftlichen Raum
umfasst, der über Rollen und Habitus wiederum den Körper modelliert:
Eine Rolle wird verkörpert.
b) Im vorgestellten Modell
wird allerdings die zeitliche Beziehung zwischen
gehirnphysiologischen und Bewusstseinsprozessen nicht
thematisiert. Empirisch geleitetes Denken lässt fast keinen anderen
Schluss zu , als vom zeitlichen Primat des Gehirns, also letztlich vom
Körper, auszugehen und das Bewusstsein als sekundär
einzustufen. Dazu unübertrefflich ein Gedicht von Robert
Gerhardt "Noch einmal: Mein Körper" (FAZ, 24. 11. 01):
Mein Körper rät mir:
Ruh dich aus!
Ich sage: Mach ich
altes Haus!
Denk aber: Ach, der
sieht`s ja nicht!
Und schreibe heimlich
dies Gedicht.
Da sagt mein Körper:
Na, na, na!
Mein guter Freund,
was tun wir da?
Ach gar nichts! sag ich
aufgeschreckt,
und denk: Wie hat er
das entdeckt?
Die Frage scheint recht
schlicht zu sein,
doch ihre Schlichtheit
ist nur Schein.
Sie läßt mir seither
keine Ruh:
Wie weiß mein Körper,
was ich tu?
Die
Peripatetiker im antiken Athen wussten es, wenn sie diskutierend in den
Säulengängen wandelten. Der in der Abenddämmerung beginnende Flug der
Eule der Minerva ist die Metapher Hegels für das Verhältnis von Praxis
und Theorie. Der Mensch ist nicht Herr des
Bewusstseins.
Das Ich-Denke ist dem Es-Denkt nachgeordnet, das
wiederum von gehirnphysiologischen und körperlichen Prozessen
beeinflusst bzw. bestimmt wird, die ihrerseits
materiell-gesellschaftlich bedingt sind. Zu fragen und zu
problematisieren bleibt aus der Perspektive unseres Themas, welche
Qualität Erfahrungen und Erkenntnisse annehmen, wenn der Körper
marginalisiert wird.
Haupteinsichten aus der systematisch-erkenntnistheoretischen Perspektive:
a)
Den isolierten Körper gibt es in der Realität nicht. Er ist
immer ein in materiellen und gesellschaftlichen Räumen sich bewegender,
wobei Raum und Gesellschaft formend auf ihn einwirken und
umgekehrt.
b) Durch die Leugnung des Primats des Bewusstseins wird die theoretische Stellung des Körpers gestärkt.
3.
Die kognitionstheoretische Perspektive: Die Bedeutung des enaktiven
Repräsentationsmodus im Prozess der Bedeutungsbildung
Nach
Jerome S. Bruner repräsentieren wir auf Bewusstseinsebene Welt in
drei Systemen: im symbolischen, im ikonischen und im enaktiven
Repräsentationssystem. Vom Körperthema aus gesehen
ist das Verhältnis zwischen diesen Systemen besonders
interessant. Es gibt gute Gründe, das Symbolsystem als das
dominierende zu bewerten. Analysiert man den (allgemeinen)
Begriff, d. h. keine Eigennamen, dann stellt man fest, dass
dieser Begriff zwar ein Gebiet begrenzt, d. h. de-finiert, dieses
Gebiet selbst aber inhaltlich leer ist. "Bevölkert" wird es erst durch
Aktivitäten, die ikonische und enaktive
Repräsentationen zur Folge haben . Dazu gehören auch
anschließende symbolische Repräsentationen, die aber nur dann
bedeutungsvoll sind, wenn sie bereits ikonisch und enaktiv "gefüllt"
sind. Daraus ergeben sich zumindest vier Aspekte:
a)
Der Prozess der „Füllung“ kann minimal (ein einziges Foto vom
Eifelturm) oder optimal (vielfältige ikonische, enaktive und
symbolische Repräsentationen), jedoch nie vollkommen sein.
b)
Die Befunde in den einzelnen Systemen sind unterschiedlich:
Die symbolischen und enaktiven Anteile haben
abgenommen. Im ikonischen Bereich fallen die Ergebnisse unterschiedlich
aus: Der über Bildmedien vermittelte Anteil hat stark
zugenommen, während der über Eigenwahrnehmungen erworbene
zurückgegangen ist. Beeinträchtigend kommt hinzu, dass die
medialen Wahrnehmungen zunehmend kürzer und flüchtiger
werden. Realität wird mehr und mehr aus der Distanz , im Auto-,
Zug- oder Flugzeugsessel auf vorgeschriebenen Wegen,
panoramisch (Schievelbusch) visuell wahrgenommen. Zu hören
sind nur die Motoren des Fortbewegungsmittels, aber nicht
das Lachen der Kinder aus dem Vorgarten. Andere
Sinnesqualitäten werden ausgeblendet.
c) Ein
Minimum an Enaktivität ist unaufhebbar, weil ein
„Restkörper“ immer noch mit der Welt in Verbindung stehen muss.
Die Finger müssen noch kleinste Bewegungen auf der Tastatur
machen, und auch der Wagen mit Vollautomatik verlangt ein Geringes an
Veränderung der materiellen Welt mit Hilfe meines Körpers wie das
Öffnen der Tür oder das Umdrehen des Zündschlüssels. Geht man von einem
ganzheitlichen Menschenbild aus, das ein Anrecht auf die
Entfaltung aller Fähigkeiten hat, ist dieser Sachverhalt nicht
akzeptabel. Aus der Sicht kognitivistischer Entwicklungstheorien,
in denen Denken als internalisiertes Tun beschrieben wird,
Welt erst im handelnden Umgang im Subjekt entsteht, ist dieser
Zustand weder für Kinder noch für Jugendliche akzeptabel.
Auch für Erwachsene gilt, dass dieser Prozess prinzipiell
unabgeschlossen ist und deshalb ständig bei jedem kognitiven
Neuerwerb fundierend stattfinden könnte und sollte. Sehr viel
spricht dafür, dass zwischen äußeren und
inneren Bewegungen starke Wechselbeziehungen bestehen.
d)
Die Bedeutung (Begriff, Gedanken, Idee, Wesen, Natur, Information
u.s.w.) eines Gegenstandes bzw. Sachverhaltes entsteht nach meinen
Überlegungen durch die Synthese aller drei Repräsentationssysteme und
durch die Integration zusätzlicher Bedeutungen. Diese
(Gesamt-)Bedeutung
ist im Gegensatz zu den einzelnen Repräsentationen der
Introspektion nicht zugänglich. Denn welche direkt erkennbaren
Qualitäten sollte die Synthese aus enaktiven, ikonischen und
symbolischen Anteilen annehmen? Schon Karl Bühler stellte fest,
dass ein Gedanke etwas wäre, das einen hohen Klarheits-,
Sicherheits- und Lebhaftigkeitsgrad hätte, aber keine sinnliche
Qualität aufweise. Platon spricht davon, dass Ideen gestalt- und
farblos seien.
Zu vermuten ist, dass ein geringer Anteil von
Handlungserfahrungen und Eigenwahrnehmungen von Wirklichkeit
Bedeutungen erzeugen, die hochgradig anfällig für Heteronomien sind,
wobei zu fragen bleibt, welchen innerpsychischen Status solche wenig
eigenfundierten Bedeutungen einnehmen.
Haupteinsicht aus der kognitiven Perspektive:
Die
körperliche Aneignung und sinnliche Primärerfahrungen sind im
Erkenntnisprozess unverzichtbar. Selbst für einen so kognitiv-geistigen
Begriff wie Bedeutung sind Körper und Sinne konstitutiv. Ihr Anteil
wird aber in der dominanten Weltaneignung immer kleiner.
4. Die anthropologische Perspektive: Weltbezogenheit und Körper
Hier
werden zwei Aspekte thematisiert: a) das existentielle Verhältnis des
Menschen zur Welt und b) die Bedeutung des Augen-blicks.
a)Wir
sind in der Welt. Die Welt ist mit Sicherheit auch materiell. Sie
ist voller Gegen-stände, mit denen wir umzugehen haben. Wir sind zu
materiellen Beziehungen verurteilt. Mit Hilfe von Symbolen oder
Maschinen vermögen wir, einen Teil dieser Beziehungen zu
indirekten zu machen - aber nicht alle. Selbst wenn ich lese, ist immer
noch Materielles unaufhebbar im Spiel, nämlich die materiellen Zeichen
und das Medium Buch – von meiner eigenen Körperlichkeit ganz
abgesehen. Die inzwischen berühmt gewordene
Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von Perry Barlow "Endlich
gewinnen die Kräfte des Geistes die Oberhand über die rohe Macht der
Dinge. Unsere Welt (des Cyberspace, BM) ist überall und nirgends;
und sie ist nicht dort, wo Körper leben. Es gibt im Cyberspace keine
Materie"(nach Münker 1997, S. 111) stimmt nicht und wird nicht
stimmen, zumindest solange Menschen einen Körper haben.
Der
Mensch ist ein Wesen des Dazwischen: Einssein mit der materiellen
Welt ist für ihn schon deswegen existentiell unmöglich,
weil Erfahrungen, die prinzipiell auf Unterscheidungen
beruhen, dann nicht gemacht werden können. Aber auch die absolute
körperliche Trennung von Welt ist unmöglich, weil wir
existentiell auf Welt verwiesen sind - ob wir es wollen oder
nicht, es gut finden oder nicht. Das prekäre
Dazwischen ist unsere eigentliche Lebenswelt, wir haben keine
absolute Heimat, sind aber auch nie absolut in der Ferne.
Auch
wenn man die Einwände gegen eine absolut geistige
Welt des Menschen teilt, könnte man trotzdem dieses Manifest als
orientierendes Ideal für die Überwindung des Körpers nehmen. Es gibt
dafür einige Argumente: Ohne Zweifel hat sich die große Mehrzahl
der Bevölkerung noch vor fünfzig Jahren körperlich geschunden. Ein
Bauer, der mit sechzig Jahren nicht körperlich verschlissen war, galt
als faul. Befreiung von körperlicher Fron ist zweifelsfrei ein
humanes Ziel. Abzulehnen ist aber das explizit oder implizit
bestehende dominierende Ziel der "Befreiung" von jeglicher
körperlicher Betätigung im Alltag und die Verweisung der Bewegung in
Reservate (Stichwort Fitnesszentrum), eine Auffassung, in der
körperliche Tätigkeiten im Alltag obsolet, folgenlos und den Charakter
des Sich-Lächerlich-Machens annehmen. Der Kern der inneren
Logik der Bequemlichkeit ist der Tod, d. h. die absolute
Bewegungslosigkeit.
b)Die phänomenologisch
deutlichste Einheit von Geist und Körper ist vielleicht der Augenblick,
der, wenn es einer ist, immer der wechselseitige Blick zweier
lebendiger Menschen ist: Meine Augen sehen in die Augen eines
anderen Menschen, und der Andere und ich nehmen diese
Wechselseitigkeit wahr. Der Blick auf den
Nachrichtensprecher oder auf den hinter getönten Autoscheiben Sitzenden
ist kein Augenblick, sondern eine Wahrnehmung. Augenblicke, die an
Häufigkeit abnehmen, sind von höchster anthropologischer Bedeutsamkeit.
Menschen als Elementarteilchen (Houellebecq) sind in
der Produktions- und Konsumsphäre funktional nicht mehr auf
Augenblicke angewiesen. Hier liegen übrigens Wert, Chance
und Stärke der Schule, denn man kann Schule auch als einen Ort
der Augenblicke interpretieren.
Haupteinsichten aus der anthropologischen Perspektive:
a)Es
gibt ein jeweiliges Optimum von Kontakten zwischen menschlichem
Körper und den ihn umgebenden belebten und unbelebten Dingen und
Körpern.
b) Der Augenblick ist immer einer zwischen zwei
lebendigen Menschen. Seine Bedeutung in der seelischen Entwicklung und
für die sozialen Beziehungen wird oft unterschätzt.
5. Die kinästhetische Perspektive: Die Eigenenergie in Lern- und Bildungsprozessen
Aus
der Lern- und Bildungsperspektive ist die Thematisierung der
Eigenbewegung bzw. des Sich-Bewegens mit metabolischer Energie (I.
Illich) im Gegensatz zur Fremdenergie, externer Energie oder zum
Transportiert-Werden deswegen so wichtig, weil hier auch die
physiologische Fundierung von Selbständigkeit und Weltabbildung
stattfindet. Wie das? Die den Menschen zur Verfügung
stehende Energie kommt entweder aus ihm selbst oder aus anderen
lebenden Organismen oder wird künstlich ge- bzw. entfesselt
(von Wind über Brennmaterialien bis zum Atom). Wenn der Mensch seine
eigene Energie in innere oder äußere Sinn-Formen gießt, schafft
er selbst Voraussetzungen für Fertigkeiten und Fähigkeiten, für
effektives Handeln und für Bildung. Fremdenergie und Fremdformung
leisten das nicht. Aneignung ist immer ein aktiv-subjektiver Vorgang
des Suchens, der Unsicherheit, des Zweifels, des Scheiterns, aber auch
des Findens und Gelingens. Erst in dieser ganzheitlichen und riskanten
Auseinandersetzung mit Welt und mit sich selbst entsteht Vertrauen zu
sich und damit selbstsicheres, weil ausgewiesenes Können und
Wissen. Auch Mühe scheint ein integraler Bestandteil dieses Wachstums
zu sein. Darin liegt sicherlich auch der Reichtum und Intensität
kindlicher Welten begründet. Die Welt muss noch
mit Eigenenergie erkundet werden, nass und vollkommen
erschöpft wird doch noch das rettende Versteck erreicht.
Ins Grundsätzliche gewendet: Woher kommt bzw. wie entsteht
Selbstsicherheit? Sicherlich aus Zuschreibungen, Glauben oder
Reflexionen, aber auch aus Beobachtungen und vor allem aus dem
eigenen Tun. Dieses Tun erzeugt eine Qualität von Sicherheit, über die
die anderen Erkenntnissysteme nicht verfügen: Denn nur im
Tun wird Welt direkt, wenn Unmittelbarkeit überhaupt möglich ist,
abgebildet. Im Medium der Eigenenergie als Eigenbewegung findet
eine gestalthafte Abbildung der jeweiligen Realität statt. Mit eigenen
Händen bauen, zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad fahren, all das sind
Tätigkeiten, die mit Eigenenergie realisiert werden. Es macht einen
Unterschied, ob der Schüler das Arbeitsmittel selbst aus dem Regal holt
oder es auf dem "Stationstisch" vorfindet. Wenn ich mit dem
Fahrrad über den Berg fahre, also auf das Auto verzichte, werden
bestimmte Muskeln aktiviert, die genau die Struktur des
eingeschlagenen Weges speichern. Zwischen erfahrener Welt und
aktiviertem Muskelsystem besteht ein Verhältnis der genauen
Entsprechung (der Isomorphie). Eine solche „muskuläre Abbildung“ ist
die physiologische Aneignung von Welt, wobei viele Wiederholungen diese
Aneignung differenzieren und stärken. In der Literatur wird diese
Fähigkeit dem Bewegungs- und Stellungssinn zugeordnet. Das
kinästhetische System hat "kein eindeutig lokalisierbares Sinnesorgan,
über das die entsprechenden Reize aufgenommen werden können. Die für
die Tiefensensibilität zuständigen Rezeptoren liegen vielmehr über den
ganzen Körper verstreut in den Muskeln, Sehnen, Bändern und
Gelenkkapseln" (Zimmer 1995, S. 115). Diese breite
Sensibilität ermöglicht eine relativ differenzierte körperliche
Abbildung. Übrigens liegt in diesem Modell die Fruchtbarkeit der von
mir oben vorgestellten fundamentalen Dualität von Muskeln und Nerven:
Die sinnliche Wahrnehmung des eigenen Muskelsystems, nicht der
Welt, ist die Quelle des kinästhetischen Systems.
Weltaneignung über das kinästhetische System ist tiefer fundiert, weil
drei Systeme beteiligt sind: Muskel-, Nerven- und Weltsystem. Während
bei der Beobachtung nur zwei Systeme, Nerven und Welt, und bei der
logischen Analyse nur eins, nämlich das Nervensystem allein beteiligt
ist.
Wichtig in diesem Zusammenhang, weil oft
ausgeblendet, ist auch folgender Aspekt: Das kinästhetische
System ist unverzichtbar für die Weltaneignung nicht nur in der
Kindheitsphase (wie es die Entwicklungspsychologie mit Recht lehrt),
sondern in allen Lebensphasen. Mit der
Reduzierung kinästhetischer Aktivitäten werden
gleichzeitig Ding- und Raumerfahrungen reduziert und damit
auch Sinn und Bedeutungen (bekanntlich besteht eine enge Beziehung
zwischen Sinne und Sinn).
Haupteinsicht aus der kinästhetischenPerspektive:
Die
kinästhetische Fundierung schafft, neben Welterkenntnis,
Selbstvertrauen und Selbstsicherheit. Eigenschaften, die für Lern- und
Bildungsprozesse von größter Bedeutung sind.
Handlungs- und schülerorientierte Unterrichtskonzepte weisen in diese Richtung.
6. Die gesellschaftliche Perspektive: Der vermittelte Körper im Alltag
„Da es dem König aber wenig gefiel,
dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend,
sich querfeldein herumtrieb,
um sich selbst ein Urteil über die
Welt zu bilden,
schenkte er ihm Wagen und Pferd.
"Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen",
waren seine Worte.
"Nun darfst du es nicht mehr",
war sein Sinn.
"Nun kannst du es nicht mehr",
deren Wirkung.“
Aus "Kindergeschichten" (Anders 1980, S. 97)
In
der bisherigen Behandlung der fünf Perspektiven hat sich
immer wieder implizit gezeigt, dass grundsätzlich von der
gesellschaftlichen Modellierung des Körpers nicht abstrahiert
werden kann und darf. Heute haben viele
Körpernormierungen ihren Ursprung in Jugendkulturen. An dem
Beispiel erkennt man gut, dass Normierungen heute nicht
mehr primär durch äußere Regeln (wie die Militarisierung in der
Wilhelminischen Gesellschaft) oder durch äußere Bedingungen (wie das
Fließband) durchgesetzt werden, sondern die Formierung und Reduzierung
der Möglichkeiten des Körpers und seiner Bewegungen aus einem
Wechselspiel sich gegenseitig stärkender Subkulturen und
Wirtschaft entstanden sind.
Die Frage nach den
gesellschaftlichen Bestimmungsfaktoren der Körper- und
Bewegungsmodellierungen ist sicherlich nur plural und systemisch zu
beantworten. Ich meine aber, dass die von Peter Sloterdijk in
Anschluss an Heidegger entwickelte anthropotechnische Perspektive als
eine Antwort besonders fruchtbar und geeignet ist: Der Mensch war
und ist zum Bauen von Behausungen und deren Weiterentwicklung
gezwungen. Da er heute ausschließlich auf durch Technik Gemachtes
(Vico) stößt, werden Anthropologie und die Rede von der
Natur zu Ideologien, weil es die reine Natur und den Menschen an
sich nicht mehr gibt (wenn es ihn überhaupt jemals gab). Die Trennung
zwischen Subjekt und Objekt (Welt) wird obsolet. Die ursprünglich
vermittelnde Technik wird zur unabhängigen Variablen des
Gesamtprozesses. Der Mensch wird zu einer Funktion der Technik. Nur im
Scheine, als Täuschung meint er, Subjekt zu sein. Er kann sich
offensichtlich den jeweiligen technischen Ausformungen und
Anforderungen über einen längeren Zeitraum hinweg nicht
entziehen. Ihre Auswirkungen auf den Körper und seine
Bewegung sind – wie bereits gesagt – ambivalent: Entlastung und
Belastung. Um dies zu bewerten, bedarf es des genauen analytischen und
ideologiekritischen Blicks verbunden mit großer Selbstkompetenz,
Ich-Stärke und Eigenverantwortung. Ein wesentliches Problem
hierbei besteht darin, dass fast jede Entkörperlichung aus
evolutionären Gründen als Wohlbefinden verarbeitet wird. Lediglich die
sexuelle Praxis scheint dieser Auffassung gegenüber noch relativ
resistent zu sein.
Damit wäre auch das für mich so schwer
zu begreifende Phänomen erhellt, dass die sich durchsetzende
Entkörperlichung und Bewegungslosigkeit (im obigen Sinne) nicht nur
nicht bedauert, sondern begrüßt, bejubelt und (nahezu) von allen
gewollt wird: Hinzu kommt - gewissermaßen flankierend sichernd -,
dass die Zerstörung des realen beweglichen Körpers
mit seinem vielfältigen realen Können zeitgleich begleitet wird mit
einer ungeheuren Entfaltung des Körpers im Modus des
Bildes als abgezogene Wirklichkeit, als Schein. Der Körper
im Schein erlangt eine omnipräsente Realität in Zeitungen,
Zeitschriften, Werbebeilagen, an Plakatwänden. Überall sehen wir
wohlgestaltete Körper und Gesichter aus unterschiedlichsten
Perspektiven, Distanzen und Ausschnitten, die natürlich wieder in
die Bewusstseine als Aufgaben und Zwänge zu
Körpermodellierungen im Habitus und im Outfit zurückwirken. Das Subjekt
wird dadurch auch bezüglich seines Leibes zum Konsumenten. Seine
Hauptleistung besteht darin, den Leib in einer
einzigen Dimension, in der bildlich-ästhetischen zu rekonstruieren,
während alle anderen Funktionen vernachlässigt werden und
auf das Notwendigste beschränkt bleiben. Das Streben nach eigener
Schönheit hat es sicherlich immer schon gegeben, aber die tendenzielle
Verabsolutierung dieser Dimension und deren Normierung ist wohl
neu, mit Sicherheit aber inhuman. An einem historischen Beispiel
erläutert: Abraham Lincoln wäre unter heutigen Bedingungen trotz seiner
überragenden geistigen und sittlichen Potenzen nicht Präsident der
Vereinigten Staaten geworden - sein Aussehen hätte das nicht
zugelassen. Das Entscheidende besteht darin, dass Lincoln sicherlich
wusste oder ahnte, dass er kein schöner Mann sei. Aber er hat diese
Dimension nicht verabsolutiert und internalisiert, hat eben nicht
gedacht, dass sie ein wesentlicher Hindernisgrund für seine
Kandidatur sein könnte. Ein moderner Politiker dagegen muss diese
Dimension bedenken, muss seine reale Gestalt gegen eine gestylte
tauschen – wobei bekanntlich Tausch und Täuschung sehr nahe beieinander
liegen können.
Aber
das scheint kein großes, gar existentielles Problem mehr zu sein
- im Gegenteil. Aus evolutionärer, technologischer oder
wirtschaftlicher Perspektive kann man den Körper unter gegenwärtigen
Bedingungen plausibel als ein nahezu überflüssig gewordenes
Gesamtorgan interpretieren: Körperliche Eigenkraft und
körperliches Können werden nicht mehr in nennenswertem Ausmaße in
der Produktion und für die Ortsveränderung gebraucht. Wie
der Aktenordner im Büro oder das Buch im Dozentenzimmer als materiale
Körper überflüssig geworden sind und unnötigerweise Räume
ausfüllen, die für andere Dinge und Prozesse sinnvoll genutzt werden
könnten, so kann diese Sicht auch auf menschliche Körper ausgedehnt
werden. Man könnte fragen, warum überhaupt Institutionen wie
(Hoch-) Schulen, Theater, öffentliche Räume oder Geschäfte mit Menschen
füllen, sie also in der Zeit durch Orts- und Raumwechsel
"vervielfältigen", statt sie ein für allemal in einem bestimmten
Raum zu belassen, von wo aus sie in virtuellen Räumen, die realen
nachgestaltet wären, tätig werden würden. Chatrooms
und Onlineshopping zeigen, dass es sich hier nicht mehr um
Utopien handelt, sondern um eine neue Realität, die ständig ausgebaut
wird, allein weil diese Entwicklung innerhalb der Logik der
technologischen Moderne liegt, die - um es noch einmal deutlich zu
betonen - idealiter gänzlich ohne menschlichen Körper auskäme.
Aber
der Körper, genauer der Restkörper, fügt sich nicht umstandslos.
Er ist immer noch vorhanden und erhebt Ansprüche. In der Regel
systemkonform befriedigt er diese in Diskotheken, in Einkaufszentren,
auf Fernreisen mit dem garantierten Flug über die jeweiligen
Naturschönheiten und in abgeschwächter Form, wenn der Fernsehzuschauer
mehr Life-Sendungen statt Konserven fordert. Realität scheint immer
noch einen Wert zu besitzen, auch wenn sie inszeniert,
von allen Zufällen, subjektiven Steuerungsmöglichkeiten und
Unzumutbarem gereinigt ist. Nur in diesem Bedingungsrahmen dürfen
und können Körper Realitäten erfahren. Hier gibt es noch
Alternativen, hier gibt es noch Streit. Forderungen nach anderen
Realitätserfahrungen gelten allerdings undiskutiert als
anachronistisch oder ideologisch, zumindest sind sie
folgenlos.
Aber nicht nur Bilder und die konstruierten
Wirklichkeiten sind ambivalent, sondern Gleiches gilt auch für die
Sprache, die bekanntlich Wirklichkeit entdecken, aber leider auch
verdecken kann. An dem Gebrauch des Begriffs "Erfahrung" sei
aufgezeigt, dass bestimmte sprachliche Strukturen Analyse und
Rationalität behindern können: Wenn ich Auto fahre, mache
ich eben wenige Erfahrungen mit kinästhetischer Fundierung. Der
inhaltlich korrekte Satz : "Ich werde vom Auto zu dem von mir
bestimmten Ziel transportiert bzw. bewegt" klingt zumindest in
der Alltagskommunikation mehr als gekünstelt, wäre aber notwendig, um
falsches – von interessierten gesellschaftlichen Kräften befördertes –
Bewusstsein abzubauen. Der Einwand, dass über falsches bzw.
richtiges Bewusstsein aus prinzipiellen Gründen nicht geredet werden
dürfe, halte ich für das Ende von Politik und Humanität, wenn man nicht
von einer prästabilisierten Harmonie zwischen diesen
zivilisatorischen Ausformungen einerseits und Technik-Kapital-System
andererseits ausgeht. Dass die Auseinandersetzung um die gute
Lösung nicht auf diesem hohen Abstraktionsgrad, sondern primär in
konkreten Situationen geführt werden muss („Wollen wir heute selbst
Tennis spielen oder Tennis im Fernsehen `erleben´“), versteht sich von
selbst. Das Gerangel bzw. Ringen um die ganz großen
Menschen– und Weltbilder, um absolute Wahrheiten ist in der
Praxis oft nicht hilfreich. Der wertende Vergleich von ähnlichen
(kleinen) Situationen hat eben größere Erfolgschancen auf rationalen
Diskurs und Einigung.
Der Alltag mit seinen Räumen und
Zeiten ist meiner Ansicht nach die entscheidende Dimension:
Erst wenn der Körper sich aus Verpanzerungen und
Bewegungslosigkeit in Normalsituationen, in denen wir arbeiten,
uns fortbewegen, unsere Freizeit gestalten, uns ausdrücken, etwas
miteinander tun usw., befreit, erst dann wird er sein fruchtbares
Potential entfalten können und als unverzichtbare Quelle des Genusses,
der Erfahrung, der Erkenntnis wirken. Poetisch ausgedrückt und
auf menschliche Begegnungen gewendet:
„Nur, wo sich der Mensch am Menschen stößt und reibt, entzündet sich Witz und Scharfsinn,
nur, wo sich der Mensch am Menschen sonnt und wärmt, entsteht Gefühl und Phantasie,
nur,
wo der Mensch zum Menschen spricht, nur in der Rede, einem
gemeinsamen Akt, entsteht die Vernunft.“ (Quelle unbekannt)
Haupteinsicht aus der gesellschaftlichen Perspektive:
Die
tendenzielle Stillstellung des Körpers ist, auch wenn sie subjektiv als
Befreiung wahrgenommen wird, eine Enteignung, die auch negative Folgen
auf die geistige Freiheit hat. Ein genauer analytischer Blick und
Ich-Stärke können diesen Prozess in selbstbestimmte Bahnen lenken.
Pädagogischer Ausblick
In
der Theorie und Praxis der Pädagogik hat sich in der Körper- und
Bewegungsdimension vieles zum Besseren gewendet und zwar umgekehrt
proportional zu den realen gesellschaftlichen Entwicklungen. Was
hier an Bewegungskulturen verschwindet, wird dort wieder
(zumindest teilweise) aktiviert. Bewegte Schule, Bewegungserziehung,
Bewegungspausen, Offener Unterricht, Gestaltpädagogik,
Handlungsorientierter Unterricht, Projektmethode,
Gesundheitserziehung, Spielpädagogik, Öffnung der Schule sind
Konzepte, die Körper und Bewegung Raum geben, aber nicht als
Selbstzweck, sondern als Bedingung für gelingende Lernprozesse.
Ziel
und Hoffnung dieser Abhandlung in pädagogischer Absicht
ist, positive Trends durch einige nicht im Zentrum der Diskussion
stehende Aspekte und Strukturen zu stärken.
Literatur:
Anders, G., 1980: Die Antiquiertheit des Menschen. München: Beck
Brooks, R., 1991: Intelligence without representation. Artificial Intelligence 47
Dennett,
D., 1990: Cognitive Wheels. The Frame Problem. In: Boden, M.
(ed.): The Philosophy of Artificial Intelligence: Oxford
Gold, Engel (Hrsg.) 1998: Der Mensch in der Perspektive der Kognitionswissenschaften. Frankfurt am M.: Suhrkamp
Kant, I.,1966: Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart: Reclam
Münker,
S.: Was heißt eigentlich: "Virtuelle Realität"? In: Münker, S./Roesler,
A.(Hrsg.), 1997: Mythos Internet. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Zimmer, R., 1995: Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung. Freiburg i. Br.: Herder
(erschienen
in: Schulze-Krüdener, J., Schulz, W., Hünersdorf, B.: Grenzen ziehen –
Grenzen überschreiten. Baltmannsweiler 2002 (Schneider-Verlag)
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Veröffentlicht
in: Schulze-Krüdener, J., Schulz, W., Hünersdorf, B. (Hrsg): Grenzen
ziehen – Grenzen überschreiten. Pädagogik zwischen Schule, Gesundheit
und Sozialer Arbeit. Baltmannsweiler 2002 (Schneider Verlag Hohengehren)
12. "Warum macht es Sinn, Fußgängern und Fahrrädern Vorrang vor Autos zu geben?13. Abstraktion und Reduktion
Kritisiert man einen Fußgänger, kritisiert man einen Menschen. Kritisiert man ein Fahrrad oder ein Auto, kritisiert man zwei verschiedene Maschinen: eine, die sich mit Hilfe menschlicher Kraft bewegt, und eine, die von einem Motor bewegt wird. Im Plural bilden Fußgänger, Räder und Autos jeweils ein System.
Diese terminologische Vorbemerkung und die folgenden Gedankengänge sollen auf die Frage lenken, in welchem Rangverhältnis Fußgänger, Fahrrad und Auto stehen sollten. Die Frage wird beantwortet durch die Bestimmung der Auswirkungen, die die drei Verkehrssysteme jeweils auf die Umwelt und deren Benutzer haben: Fußgänger haben keine negativen Auswirkungen auf die natürliche Umwelt, aber positive auf die soziale und die eigene Gesundheit. Fahrräder stoßen keine schädlichen Emissionen aus, sie fördern die Gesundheit, sind aber ein Gefahrenpotenzial, wenn sie zu schnell und unachtsam in unmittelbarer Nähe von Fußgängern fahren. Dass das Auto katastrophale Folgen auf das Makro- aber auch Mikroklima hat, zeigt deutlich ein Auto mit laufendem Motor in der Garage. Mehr dazu zu sagen, ist überflüssig. Autos haben zusätzlich massive negative Einflüsse auf Landschaften und Siedlungen, auf das Zusammenleben der Bürger und letztlich auch auf die Menschen selbst, sei es in leichten bis tödlichen Unfällen oder Krankheiten mangels Bewegungslosigkeit. Öffentliche Verkehrsmittel sind übrigens problematisch wie Autos, was sie aber durch den hohen Auslastungsgrad erheblich mildern. Ein anderer Gewinn besteht in der Möglichkeit sozialer Erfahrungen.
Dass alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt seien, wie es der ADAC behauptet, ist juristisch-formal wahr, aber faktisch reine Ideologie. Das Auto beherrscht die öffentlichen Räume. Notwendig und sinnvoll dagegen wäre, Fußgängern und Radfahrern faktisch und rechtlich Vorrang einzuräumen, wobei die konkrete Gewichtung vor Ort entschieden werden müsste.
Warum hat diese Position es in unserer Gesellschaft so schwer? Worin besteht ihre argumentative Basis ihrer Gegner? Dazu der Befund: Die Gleichwertigkeit des Autos gegenüber Fußgängern und Radfahrern kann nur auf höchster Abstraktion behauptet werden, nämlich die Fähigkeit zur Ortsveränderung unter Ausblendung der Folgen auf Mensch und Umwelt. Dass diese „Logik“ letztlich unwidersprochen den gesellschaftlichen Diskurs dominiert, liegt primär in folgenden Sachverhalten: Die Dominanz des Autos wird als naturwüchsig und damit unkritisierbar interpretiert. Die Werbung für Autos wird umfangreicher und aggressiver. Die Lebenswelt wird zu einer Autowelt. Das Bequemlichkeitsverlangen vieler Menschen nimmt keine Rücksicht auf sich selbst und der natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelt."
14. Die unerträgliche Leichtigkeit des motorisierten Seins
Die Schwere des Erdenlebens zu überwinden und
das Sein leicht zu machen,
ist ein Bedürfnis, das den Menschen
nie verlässt. Leichtigkeit hatte es in
den Präferenzen der Menschen immer leicht, die Schwere immer schwer. Die
Leichtigkeit wird gesucht, die
Schwere gemieden. Schwere gehört zum Realitätsprinzip, Leichtigkeit zum
Lustprinzip. Der Ikaros-Mythos und Paradiesvorstellungen sind frühe
sprachliche Ausdrücke dieses Wunsches. Die Religionen versprechen diesen
Zustand im „Himmel“, die motorisierte Technik hier auf Erden, die
Unterhaltungsmedien helfen zumindest, die Schwere zu verdrängen. Übrigens ist
dieses nie zu befriedigende Bedürfnis der Menschen nach
Leichtigkeit ein wesentlicher
Antrieb für ständiges
Wirtschaftswachstum.
Die
Schwere aus physikalischer Perspektive:
Die Gravitationskraft bewirkt, dass alle Körper auf der Erde zum Erdmittelpunkt
streben und dadurch die Eigenschaft der Schwere erlangen. Schwerelosigkeit
von Körpern ist prinzipiell nicht herstellbar, weil die Masse nicht
reduzierbar ist, d. h. Masse kann nicht entmaterialisiert werden.
Aber die
Schwerkraft eines Körpers verringert sich in ihren Wirkungen, wenn eine
Gegenkraft auf sie einwirkt. Ist diese Gegenkraft
zumindest etwas größer als die jeweilige Schwerkraft eines Körpers, wird
dessen Wirkung neutralisiert. Diese Gegenkraft kann
die direkt wirkende oder indirekt über Werkzeuge
eingesetzte Kraft
sein. Sie kann aber auch von
motorenbetriebenen Maschinen
ausgehen, die unabhängig von
Menschen arbeiten. Die Schwerkraft eines
Körpers wird also – und das ist wichtig –
nicht beseitigt, sondern auf begrenzte Zeit neutralisiert. Gehen wäre
also eine lebendige, direkt wirkende Gegenkraft,
Fahrradfahren eine lebendige, indirekt wirkende Gegenkraft und
motorisierte Fahrzeuge eine vom Menschen unabhängige, mechanische Gegenkraft.
Die Schwere aus technischer Perspektive:
Die technische Inanspruchnahme der
natürlichen Energien von Sonne, Wind und Wasser waren die ersten erfolgreichen
Maßnahmen, sich von der Schwere der Dinge ein Stück zu lösen. Allerdings war nur
die direkte Ausnutzung vor Ort möglich, wenn die Sonne schien, das Wasser floss
und der Wind moderat wehte. War das nicht der Fall, war die
Überwindung der Schwere
nur über anstrengende und Schweiß treibende Arbeit von Arbeitern, Sklaven und
Tieren möglich. Erst mit der Erfindung und Fortentwicklung des Motors werden
diese Arbeiten überflüssig, denn Motore
sind prinzipiell an jedem Ort und zu jeder Zeit unbegrenzt einsetzbar.
Die vollkommene Ersetzung menschlicher und tierischer Arbeit durch Motore ist
bisher eine Utopie, steht aber
unmittelbar vor ihrer Vollendung.
Aber! Ist das Streben nach
Leichtigkeit, also die Überwindung der Schwerkraft, ein uneingeschränktes,
unhinterfragbares sinnvolles und weiterführendes Ziel?
Spaziergänger, Wanderer, Tänzer, Gesundheitsexperten,
Sportler, aber auch Handwerker und selbst Intellektuelle
wissen, ahnen zumindest, dass allgegenwärtige Leichtigkeit kein
erstrebenswerter, ja letztlich ein inhumaner
Zustand wäre. Direkter Widerstand mit dem eigenen Körper und Geist gegen
die Schwere der Dinge und Prozesse ist eine zentrale Fähigkeit des Lebens und
notwendige
Bedingung für die Erhaltung und
Entwicklung von Fähigkeiten, die
Ich-Stärke fördern und Möglichkeiten
schaffen, anderen zu helfen. Diesen Widerstand mit Hilfe von Motoren
gegen Null fahren zu lassen, hat zur Folge, dass
der Mensch als Subjekt sich selbst antiquiert
(Günther Anders) und
überflüssig macht, so dass er
widerstandslos in das Reich der
Fakes und virtuellen Welten gestellt werden kann, wo er seine Restfähigkeiten
und -bedürfnisse befriedigen darf. Aber hier gilt es,
sich vor unsinnigen Verallgemeinerungen zu hüten:
Es ist einerseits eine Ideologie zu behaupten, die Prozesse der
Überwindung seien grundsätzlich lustvoll. Jede längere Wanderung kennt auch
Phasen der Unlust. Andererseits gibt es in der Arbeitswelt sehr wohl Aufgaben,
in denen der Einsatz von Motoren auch humanen Zielen dient.
Mein Fazit: Die unerträgliche Leichtigkeit des motorisierten Seins ist letztlich mit Leere gleichzusetzen. Leichtigkeit nähert sich dem Nichts. Das könnte der Tod sein. Deswegen sprach Erich Fromm nicht ohne Grund von einer nekrophilen Gesellschaft, in der wir ein Teil sind.
„Da es dem König aber wenig gefiel,
dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen
verlassend,
sich querfeldein herumtrieb,
um sich selbst ein Urteil über die
Welt zu bilden,
schenkte er ihm Wagen und Pferd.
"Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen",
waren seine Worte.
"Nun darfst du es nicht mehr",
war sein Sinn.
"Nun kannst du es nicht mehr",
deren Wirkung.“
(G. Anders)
Boje Maaßen
15. Den Motoren im Allgemeinen und
dem motorisierten Individualverkehr im Besonderen müssen Grenzen gesetzt werden.
Leere ohne körperliche und geistige Eigenbewegung bleibt stabil leer
Ausgang dieses Aufsatzes ist ein von mir verfasster Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „E-Bike - ein trojanisches Pferd“, der eine implizite Motorenkritik enthält, die im Folgenden expliziert werden muss, weil Zukunft öffnend: Motorisierte Bewegungen ersetzen zunehmend die körperlich-geistigen Bewegungen der Menschen mit immer deutlicher sich abzeichnenden destruktiven Folgen für Mensch und Umwelt. Diesen im Ganzen unbemerkten bzw. verdrängten Prozess zu stoppen und zu wenden, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart. Und das bedeutet zumindest dreierlei: Die grundsätzliche Anerkennung des Vorrangs der Ökologie vor der Ökonomie, die Anerkennung der Eigenbewegung als humane Bedingung und politische Kategorie bei gleichzeitiger Reduzierung des Einsatzes von Motoren und die Rehabilitierung eines differenzierten Wirklichkeitsbegriffs, der verschiedene Grade der Wirklichkeit unterscheidet.
Ich staune, nicht so sehr in der Tiefe des
aristotelischen Staunens, sondern aus dem Gefühl der Schönheit des Lebens
heraus, wenn mein Nachbar bei schönstem Sommerwetter am Sonntagmorgen zum
dreihundert Meter entfernten Bäcker mit dem Auto fährt, statt sich zu Fuß oder
mit dem Rad auf den Weg macht. Verallgemeinert: Ich staune, dass
ohne Not auf Eigenbewegung im Alltag nicht nur verzichtet, sondern
freudig als Fortschritt begrüßt wird. Eigenbewegung überlebt
allerdings in Nischen wie im Sport, aber auch dort besteht die große Mehrheit
passiv aus Zuschauern. Die Ersetzung der Eigenbewegung
durch Motore ist eine drastische Verringerung des Lebensgefühls und der
Lebensqualität. Jede Erweiterung des motorisierten Individualverkehrs ist eine
Niederlage für Mensch und Umwelt. Die Fähigkeit und Realisation von
Eigenbewegung ist das höchste Gut des Menschen. Jedes Kind lebt es und
jeder Kranke weiß es.
Motorenkritik im Allgemeinen und Autokritik im Besonderen ist deswegen fortschrittlich, während das Beharren auf den motorisierten Individualverkehr konservativ im schlechten Sinne ist. Gleiches gilt für die gegenwärtig angebotenen Waren und Dienstleistungen, die längst nicht alle sinnvoll und lebensnotwendig sind – und auch nicht glücklich machen. Das muss von Fall zu Fall analysiert und bewertet werden. Das verlangt die Fähigkeit zur Wertekritik, die zum Gegenstand die Qualität und den Umfang der hergestellten Waren und Dienstleistungen hat, denn diese sind – man kann das in der heutigen Gesellschaft gar nicht deutlich genug betonen - nicht eo ipso Güter im Sinne von gut. Auf der Ebene der Reflexion und Politik muss deshalb Wertekritik, personalisiert in Heidegger und Frankfurter Schule, zeitlich vor der Mehrwertkritik, personalisiert in Marx durchgeführt werden. Die Umkehrung macht, wie wir aus Erfahrung wissen, keinen Sinn. In dieser Analyse ist unaufhebbar die Frage nach der Erodierung des Wirklichkeitsbegriffs enthalten (dazu später), die erst den Verzicht auf Eigenbewegung und die Zerstörung der Erde erklärt, weil der analysierbar tiefste Grund.
Es ist eine Position, die mit Sicherheit nicht zum
Hauptstrom gegenwärtigen Denkens und vorherrschender Praxis gehört. Die
folgenden Aussagen haben die Funktion, die Relevanz der Motorenkritik und
das Plädoyer für Eigenbewegung ins Bewusstsein zu heben und zu einer politischen
Kategorie zu machen. Notwendigerweise zielt dieser Anspruch auf das Ganze
und handelt sich dadurch unvermeidlich „Lücken“ ein, die von den
konstruktiven Lesern beseitigt werden müssen. Aber zuerst der Leserbrief:
„E-Bike - ein trojanisches Pferd
Der Artikel „Das ändert sich mit dem E-Motor“ (18. 8.
15) erschien genau in dem Teil der von mir so geschätzten
Frankfurter Allgemeinen, wo er hingehört, nämlich in die Abteilung „Technik und
Motor“.
Das E-Bike ist kein Fahrrad, sondern ein momentan
noch partielles, aber in seiner Entwicklungslogik angelegtes Motorrad. Schon
jetzt erreicht es eine Geschwindigkeit von 45km/h und wird zunehmend
als Motorrad einsetzbar sein. Wer will und kann hier die weitere Entwicklung
aufhalten?
Das Wesen des Fahrrads ist der Einsatz von körperlicher
und geistiger Eigenenergie (Ivan Illich spricht hier präziser von metabolischer
Energie). Die Nutzung des Fahrrades setzt massiv menschliches Potential frei. Am
Ende steht das für den Mensch so wichtige Identität stiftende Moment „Das habe
ich geschafft“. Zudem ist das Fahrrad umweltkompatibel. Es ist nicht auf externe
Energie mit all ihren Problematiken angewiesen. Die Hinwendung zum aktiven
Menschen und die Sorge um die Umwelt sind übrigens die Gründe, aus denen sich
die Renaissance des Fahrrads speist.
Ich bin ohne Einschränkung für technische Verbesserungen
am Fahrrad, aber vehement gegen seine Umwandlung in ein Motorrad. Das
trojanische Pferd beherbergt ein Motorrad, kein Fahrrad. Leider wird diese tief
greifende Täuschung von vielen Käufern und Medien nicht reflektiert (übrigens
auch nicht vom ADFC).“
A. Die Eigenbewegung
Eigenbewegung, der zentrale, aber schwierige
Begriff dieses Essays, wird in der Literatur immer noch selten
thematisiert. Ich nähere mich ihm über eine indirekte und eine
direkte Bedeutungsdimension.
Der Begriff Bewegung bei Newton
Das von Newton aufgestellte Trägheitsgesetz besagt,
dass jeder Körper im Zustand der Ruhe oder in der geradlinigen, gleichförmigen
Bewegung beharrt, wenn nicht eine Kraft auf ihn einwirkt. Das Phänomen der
Eigenbewegung ist unter diesen Voraussetzungen nicht denkbar. Definiert
man Ruhe als einen Spezialfall der Bewegung mit der Geschwindigkeit Null, dann
befinden sich alle Körper in Bewegung. Da das höchste übergeordnete
System, das Weltall, sich bewegt und aus einer Bewegung, dem Urknall entstanden
ist, gibt es den Zustand der Ruhe an sich nicht. Ruhende Körper sind
also eine Abstraktion.
Die einwirkenden Kräfte, die immer verkörpert
sind, haben ihren Ursprung in atomaren bis kosmischen Kraftfeldern.
Bewegungen, die von natürlichen Energien (Wasser, Wind, Sonne) ausgelöst werden,
sind zwar keine Eigenbewegungen, aus ökologischer Perspektive aber wertvoll, da
sie keine schädlichen Emissionen ausstoßen. Der Begriff „Energie“
konkretisiert den allgemeinen, ja metaphysischen Begriff „Kraft“ und macht
damit Kraft anschaulicher und berechenbar. Oft werden beide Begriffe
synonym verwendet.
Nur wo sich der Mensch am Menschen stößt und
reibt,
entzünden sich Witz und Scharfsinn,
nur wo sich der Mensch im Menschen sonnt und
wärmt,
entstehen Gefühl und Phantasie,
nur wo der Mensch zum Menschen spricht,
entsteht die Vernunft.
(Unbekannte afrikanische Quelle)
Die biologisch-geistige Bedeutung der
Eigenbewegung
Da im System Newtons ein Körper sich nur dann bewegt, wenn eine Kraft
auf ihn einwirkt, ist Eigenbewegung physikalisch gesehen ein unmöglicher
Begriff. Es ist aber nicht so, dass im Zustand der Eigenbewegung keine äußeren
Kräfte wirken. Alle Dinge der Welt werden bewegt. So sind auch Lebewesen dieser
allgemein einwirkenden Kräfte unterworfen. Sie sind aber auch in der Lage,
zusätzliche Bewegungen durchzuführen, die außerhalb der von der Physik
beschriebenen gesetzmäßigen Bewegungen liegen.
Die "zusätzlichen“ Bewegungen der Lebewesen und damit
der Menschen sind also von der Sache und Bedeutung her
Eigenbewegungen. Fremdbewegung nenne ich im Folgenden Transportiertwerden mit
Hilfe von Motoren oder mit Hilfe der Naturkräfte Wind, Wasser und
Sonne oder, wenn Tiere in Anspruch genommen werden.
Eigenbewegung wird in diesen Ausführungen
eingeengt auf größere Ortsveränderungen per Fuß und Rad in der privaten
Zirkulation und Konsumtion. Die Situation in der Produktion wird wegen der
Komplexität und Vernetzung mit allen anderen gesellschaftlichen Praxen
nicht behandelt.
Natürlich gibt es auch Formen der Eigenbewegung mit
der Hand und dem gesamten Körper, die hier ebenfalls nicht thematisiert werden.
In Analogie zur Handlungstheorie könnte man übrigens auch vereinseitigend von
einer „Fußlungstheorie“ sprechen.
Eigenbewegung ist also exakt der Bewegungsbegriff, der in der Biologie
als ein entscheidendes Merkmal des Lebens bezeichnet wird. Ein wesentlicher
Unterschied zwischen physischen Bewegungen und lebendigen Eigenbewegungen
besteht darin, dass bei ersteren die Gravitationskraft den jeweiligen Körper
von Außen her in Bewegung setzt. Wenn Lebewesen die in ihrer Nahrung
gespeicherte Energie in körpereigene umwandeln (Assimilation) und
speichern, um bei Bedarf mit dieser Energie ihre körperlich-muskulären und
geistig-neuronalen Eigenbewegungen auszulösen, zu unterhalten und zu
steuern, handelt es sich um Eigenbewegung. Das ist der Kern relativer Autonomie
von Lebewesen und insbesondere des Menschen gegenüber der jeweiligen Umwelt.
Ivan Illich bestimmt die dazu notwendige Energie als metabolische, die erst im
Körper entsteht, während die exogene Energie den Lebewesen grundsätzlich
unverfügbar gegenübersteht. Kohle kann man eben nicht essen.
Für das Verständnis der Eigenbewegung ist es wichtig zu wissen, dass
das menschliche Gewebe aus Deck-, Binde-, Muskel- und Nervengewebe besteht.
Insbesondere Muskel- und Nervengewebe sind für die Aneignung von Welt
konstituierend. Das Nervengewebe ermöglicht Vernunft, Verstand, Gedächtnis,
Gefühl, sinnliche Wahrnehmung und Wollen, kurz: Orientierung. Das Muskelgewebe
ermöglicht interne und externe Körperbewegungen und Ortsveränderungen.
In welchem Verhältnis stehen das Nerven- und
Muskelsystem zueinander? Auf der Ebene der Zellen lassen sich beide Systeme, die
durch einen Hiatus (ein unüberwindbarer Graben) getrennt sind, eindeutig
unterscheiden. Zwischen ihnen gibt es keine substanzielle, aber eine
funktionale Einheit durch wechselseitige Beeinflussungen und Bestimmungen.
Denn der Organismus einschließlich seiner Aufgaben ist auf eine gelingende
Zusammenarbeit beider Systeme existenziell angewiesen – zumindest auf minimaler
Ebene: Selbst der Fußballstürmer (hier Betonung auf Muskeln) muss wissen, welche
Funktion ein Tor hat und wo es steht, selbst der Philosoph (hier Betonung
auf Nerven) muss zumindest seine Augen bewegen und die Seiten des Buches
umschlagen bzw. die Knöpfe seines Computers bedienen, um zu bestimmten
Informationen zu gelangen.
Aufnahme, Verarbeitung und Ausscheidung oder
Eindruck und Ausdruck sind strukturelle Merkmal von allen Lebensprozessen, so
auch für die Eigenbewegung im weitesten Sinne. Eigenbewegung hat keine lineare,
sondern eine zirkuläre Struktur: sie „fließt“ von Innen nach Außen und von
Außen nach Innen, so dass Rückkoppelung entsteht. Die Eigenbewegung ist nicht
nur das isolierte Ergebnis einer ganzheitlichen Handlung, sondern wirkt
auch auf Körper, Geist und Seele des Sichbewegenden verändernd
zurück. Als Metapher: Ausholende Schritte lösen weit reichende Gedanken aus. So
entsteht Identität. Ausdrücke wie „Ich-kann-das-selber-Machen“ von
Kindern bis „Das-habe-ich Geschafft“ von Erwachsenen sind Aussagen
der Identität durch Eigenbewegung. Alle diese Prozesse setzen eine wie auch
immer geartete und intensive Selbstwahrnehmung, die Wahrnehmung der Wahrnehmung,
voraus. Deshalb beruht übrigens Identitätsgewinn durch „gekaufte“ Fremdbewegung
auf Selbsttäuschung. Hier entsteht eine Identität im täuschenden Schein.
Förderliche Eigenbewegungen gelingen
nur, wenn eine autonome Mitte vorhanden ist, die den körperlichen und geistigen
Bewegungen orientierenden Halt gewährt. Halt ergibt sich aus einem Zusammenspiel
von Körper, Geist, Seele und einer wohlmeinenden Umwelt. Diese Mitte ist keine
Substanz, keine Konstruktion, sondern eine funktionale Fähigkeit (vgl. Ralph
Konersmann). Die Mitte kann man nicht sehen, bestenfalls
fühlen oder ahnen. Die Mitte ist vielleicht ein anderer Ausdruck für
das Ich, vielleicht sogar für die Seele. Übrigens hat jeder gute Text eine
explizite oder implizite Mitte, von der aus die Wortfolgen bestimmt
werden. Seit das Tier „Mensch“ versuchte, aufrecht zu gehen, musste es (das
Tier), später er (der Mensch), eine funktionale Mitte entwickeln, die einen
aufrechten Gang und das Streben nach Vertikalität erst ermöglichte.
Diese Mitte ist komplex, sehr fragil, stets in Gefahr, sich zu verlieren, stets
auf Stabilisierungsleistungen angewiesen. Das erklärt die auf Dauer nicht zu
beseitigende Unruhe des Menschen. Die Mitte, durch Eigenbewegung entstanden und
stabilisiert, ist der labile Kern des Menschen – aber es ist ein
gewissermaßen dynamischer Kern mit guten und schlechten Zeiten. Die Folge der
schlechten Zeiten: „Wir sind immer auf der Flucht“ (Magnus Enzensberger). Das
ständig zunehmende Reisen ist ein Ausdruck dieser Flucht und Beleg dafür,
nirgendwo einen „echten Ort“ gefunden zu haben. „Die meiste Zeit
bewegte sich seine bloße heimatlose Hülle ohne Verstärkung und Gewicht durch ein
Selbst“ (Peter Handke). Der Mensch ohne Eigenschaften ist nicht fähig, tiefere
Kontakte zu seiner jeweiligen Umwelt zu bilden, da durch die Abwesenheit von
körperlicher und geistiger Eigenbewegung keine „Aufnahmeschale“ sich bilden
konnte. Anders gesagt: Innere Leere ist, keine lebendige Mitte zu haben,
Grenzen weder nicht zu sehen, nicht zu haben und nicht anzuerkennen. Passive
Fremdbewegung und medial erworbenes Wissen, sei es relevant oder irrelevant,
kennen ebenfalls keine Grenzen, weil auch sie keine Mitte haben. Das ist das
Faszinosum des motorisierten Fortschritts. Aber Erfahrungen, die immer eigene
sind, kann man nur in einem sehr begrenzten Ausschnitt der Welt im Sinne von
Erleben machen (die Vorsilbe „er“ zeigt Vertiefung an). Jeder Nah- oder
Fernurlaub belegt das: Man erlebt nur eine begrenzte Anzahl von
Urlaubsbekanntschaften, nettem Personal, ästhetischen Gebäuden und schönen
Landschaftsteilen. Zusätzliche Fahrten mit motorisierten Fahrzeugen vermitteln
nur noch Oberfläche in äußerster Verdünnung. Auch der zeitgemäße Mensch
muss erkennen, dass seine jeweilige Wirklichkeit eine sehr begrenzte ist, wenn
in ihm eine Mitte wirkt.
B. Der Begriff der Wirklichkeit
Ich bin davon überzeugt, dass Erfahrungen in einer
lebensweltlichen Wirklichkeit zur unverzichtbaren condition humaine gehören.
Mein anfänglich geäußertes Erstaunen, dass das
Aufgeben der Eigenbewegung und ihre Ersetzung durch Motore im Allgemeinen und
durch das Auto im Besonderen nicht nur nicht auf Zwang, sondern auf
freudige Bejahung beruhe, ist meine provokative Aussage zum gegenwärtigen
Zeitgeist.
Die traditionelle „rechte“ , gewissermaßen
anthropologische Erklärung, diese Entwicklung entspräche der Logik der Technik,
die letztlich die Mühen der Lebenserhaltung zum Verschwinden brächte und damit
das Leben bequem mache, ist nicht von der Hand zu weisen, aber kommt als
Hauptursache nicht in Frage. Die traditionelle „linke“ gesellschaftspolitische
Erklärung, diese Entwicklung sei letztlich der kapitalistischen Verfassung der
Gesellschaft geschuldet, die zwar uneingeschränkt dem technischen Fortschritt
huldige, aber vor Fehlentwicklung durch falsches Bewusstsein gefeit sei,
kommt als Hauptursache auch nicht in Frage. Sie liegt tiefer: Menschliches
Denken und Praxis haben sich zunehmend von einem lebensweltlichen
Wirklichkeitsbegriff verabschiedet, der im Folgenden näher bestimmt werden soll.
Jede Handlung und damit jede Eigenbewegung finden in
einer bestimmten Umwelt statt: Wenn ich jetzt durch den Wald laufe, ist die
Wirklichkeit dieser Wald, der von mir durchlaufen wird. Wenn ich jetzt
durch die Stadt laufe, ist die Wirklichkeit diese Stadt, genauer der Teil der
Stadt, den ich durchlaufe. Durch den räumlichen und zeitlichen Bezug der
Wirklichkeit auf die jeweilig vollzogene Eigenbewegung (bzw. Handlung) ist die
hier vorgelegte Bestimmung der Wirklichkeit, die ungelöste philosophische Frage,
fast unanständig vereinfacht. Ich subjektiviere den Wirklichkeitsbegriff und
„objektiviere“ das Ich radikal. Die Position, entweder alles sei Wirklichkeit
oder gar nichts, was ja auf Gleiches hinausläuft, wird dadurch verworfen. Der
Wirklichkeitsbegriff wird zu einem lebensweltlichen, indem ein Mensch und
die jeweilige natürliche, soziale und kulturelle Umwelt eine interaktive Einheit
mit der Mitte dieses Menschen bilden. Denn Welt wirkt unaufhebbar auf den
Menschen und umgekehrt bestimmt der Mensch unaufhebbar die Welt. Der handelnde
Mensch und die jeweilige Umwelt bestimmen bzw. synthetisieren die jeweilige
Wirklichkeit. An der Wirklichkeit sind Mensch und jeweilige Umwelt konstitutiv
beteiligt. Das ist eine Konstante.
In diesem lebensweltlichen Wirklichkeitsbegriff haben
weder der körperlich und geistig still gestellte Mensch noch eine wie auch immer
geartete objektive Wirklichkeit einen systematischen Platz. Aber der
lebensweltliche Wirklichkeitsbegriff ist nicht die einzige Wirklichkeit,
denn es gibt „neben“ dieser Wirklichkeit zumindest a) eine
abstrakte in den Wissenschaften, b) die Warenwelt, c) eine virtuelle
Wirklichkeit und d) eine reduktive Wirklichkeit im Modus des
Transportiertwerdens. Und eine Wirklichkeit im Sinne des Dings an sich,
die uns Menschen nicht zugänglich ist und deshalb hier nicht weiter erörtert
wird. Die lebensweltliche Wirklichkeit ist die einzige, die der Mensch als
Gattungswesen und als Individuum am Anfang erfährt. Später „erscheinen“ die
anderen Wirklichkeiten und nehmen unterschiedliche Funktionen wahr. Jede
dieser Wirklichkeiten hat ihren sinnvollen Platz, es geht allein um ihre
Größe und ihren Einsatz. Meine begründete Furcht besteht darin, dass die
lebensweltliche Wirklichkeit durch die reduktive und virtuelle Wirklichkeit
ersetzt wird. Diese Wirklichkeiten, konkretisiert als motorisierter
Individualverkehr und als Bildmedien, gilt es, zurückzudrängen. Abstraktes
Denken dagegen, ein Merkmal des Menschen, gilt es zu pflegen und
weiterzuentwickeln, zumal es die Lebensvollzüge intensiviert und vor Irrwegen
bewahren kann.
Im Folgenden soll versucht werden, den Begriff der lebensweltlichen
Wirklichkeit zu bestimmen: Die Wirklichkeit an sich, ob über Ideen oder wie sie
auch immer bestimmt wird, ist wie bereits gesagt, dem Menschen nicht
zugänglich. Diese Position radikalisiert: Es gibt für den Menschen keine
ihm gegenüberstehende objektive Wirklichkeit. Es macht auch keinen Sinn,
sie als gegeben vorauszusetzen. Aber, obwohl nicht zugänglich, wirkt sie auf den
Menschen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, sich ihr zu nähern, allerdings in
sehr verschiedenen Graden: Der Einsatz von möglichst allen Sinnen und möglichst
vieler auf das Ding bezogener Bewusstseinsinhalte ermöglicht intensive
Annäherung. Die Rolle des Ichs im Prozess der jeweiligen
Wirklichkeit-Entstehung kann sehr verschieden sein. Wenn wenige Sinneseindrücke
und Erfahrungen vorliegen, ist die Einbildungskraft des Ichs als
Quellpunkt von Wirklichkeit gefragt. Wird diese nicht aktiv, wird die
Wirklichkeit schwach und verblasst schließlich. Gleiches passiert, wenn das Ich
schwach ist, sei es ungebildet (wortwörtlich) oder schlicht müde. Ob die
jeweilige Annäherung letztlich wirklich eine sei, kann man zumindest bis jetzt
nicht beantworten, weil hier keine Metatheorie vorhanden ist. Wenn Wahrheit
eine Erkenntnis, und Wirklichkeit ein Objekt der Erkenntnis ist, dann
gilt: Weder Wahrheit und Lüge noch Wirklichkeit und Virtualität sind
identisch. Die Übergänge von dem einen Reich zum anderen sind oft dunkel
bzw. werden verdunkelt. Ihre Kerne aber sind eindeutig: Diese Einsicht ist ein
Plädoyer für Kontinua. Das ist eine alteuropäische Wahrheit, die trotz
großer Abwehr immer und überall wieder auftaucht. Gäbe es sie nicht, müsste man
sie erfinden, denn sie ermöglicht letztlich die Unterscheidung von Gut und Böse.
Daraus ergibt sich: Die lebensweltliche Wirklichkeit
ist das Fundament und der elementarer Bezugspunkt des Menschen. Eigenbewegung
und Umwelt sind konstitutiv für diese Wirklichkeit. Die Umwelt ist nicht
die ganze Wirklichkeit, sondern ein Teil von ihr. Nicht der Mensch, sondern die
Synthese von Mensch und Umwelt ist das eigentliche Subjekt. Konkret: Autofahrer
und Kreuzfahrtpassagiere sind nicht in der von ihnen durchfahrenen
Umwelt. Die Umwelt des Autofahrers ist das Auto und die Umwelt des
Schiffpassagiers ist das Schiff. Das Auto wirkt auf den Autofahrer, das Schiff
auf den Passagier. Diese Verhältnisse bilden zwei verschiedene
Wirklichkeiten. Weil hier die Eigenbewegungen in ihrer Wirkkraft so gering sind,
entsteht keine lebensweltliche Wirklichkeit, sondern bestenfalls eine
stark reduzierte Realität, die nicht mehr ganzheitlich wirkt.
Diese Interpretation des Wirklichkeitsbegriffs
entspricht strukturell der Auffassung Goethes, dass eine direkte Anschauung der
Natur möglich sei. Sie entspricht dem auf der empirischen Anschauung
basierenden Entwurf, wonach das Sein der Dinge von der Anschauung untrennbar, ja
sogar mit dem Wahrgenommenen identisch sei (esse est percipi). Trennt man aber
analytisch Anschauung und Sein und ist sich dieser Trennung nicht bewusst,
entsteht falsches Bewusstsein: The map is not the territory (Alfred Korzybski).
Aktualisiert: Weder die im Fernsehen gezeigte Welt noch die im Auto erfahrene
Landschaft sind keine Wirklichkeiten im lebensweltlichen Sinne. Das
Bewusstsein für diese Differenz hat übrigens auch die Begriffe Natur und Kultur
ergriffen.
Der lebensweltliche Wirklichkeitsbegriff ist der ursprüngliche
und immer noch die entscheidende Wirklichkeit. Der lebensweltliche
Wirklichkeitsbegriff ist die primäre Wirklichkeit, der abstrakte
Wirklichkeitsbegriff ist aus dem lebensweltlichen hervorgegangen.
Die Umwelt hat in meinem Ansatz durch die Bestimmung der Wirklichkeit
als einer Einheit von Mensch und jeweiliger Umwelt eine hervorragende
Bedeutung. Nicht die Bewegung an sich, sondern die Eigenbewegung in einer
einzigartigen Umwelt ist wie gesagt das Fundament und Quelle des Lebens und der
Persönlichkeit. Eigenbewegung in der jeweiligen Umwelt bilden eine untrennbare
Einheit, d. h. die Qualität der in der Eigenbewegung mitschwingenden Gedanken
und Gefühle einerseits und die Eigenschaften der jeweiligen Umwelt andererseits
sind das Ganze. Akzeptiert man diesen Ansatz, wird eine isolierte Umwelt zu
einem reinen, kontingenten und abstrakten Gedankending bzw.
Schattending. Zur Eigenbewegung gehört also nicht, reale oder
virtuelle Welten vom Sessel aus zu betrachten (auf dem
Kreuzfahrtschiff durch den Suezkanal) oder auf Knöpfe (Filme über die Natur im
Fernsehen Tierfilme) und Gaspedale (mit dem Auto durch Europa) zu drücken.
Eigenbewegung hat diejenige Geschwindigkeit, die die intensivsten
Wahrnehmungen der jeweiligen Umwelt ermöglicht.
Dieser Wirklichkeitsbegriff ist theoretisch im gegenwärtigen
Mainstream der Erkenntnistheorie an den Rand gedrängt worden, praktisch nicht
mehr handlungsorientierend oder gar normierend, denn in der ziel- und wertlosen
Welt ist alles möglich. Vom Menschen geschaffene Konstruktionen, Waren und
Medien füllen das Vakuum. Alles ist gleichwertig. Über Sinn und Unsinn kann man
nicht vernünftig diskutieren, so auch nicht über die jetzt stattfindende
Veränderung und Ersetzung der Lebenswelt durch zunehmenden Motoreneinsatz -
insbesondere in den Verkehrsmitteln und in den Medien.
Das erklärt auch die vorherrschende unreflektierte
und deshalb resignative Haltung: Es lohnt sich nicht, sich für
die Eigenbewegung als Selbstwert einzusetzen oder gar zu kämpfen, weil
Wirklichkeit immer ein kontingentes Konstrukt sei. Wert habe sie nur für den
einzelnen Menschen. Deshalb hat sich etwas wie eine universalisierte repressive
Toleranz durchgesetzt: Individueller Spaß und Lust genügen zur Legitimation
jeglichen Verhaltens. Everything goes!
Differenziert man hier nicht wertend, kommt es zu der so
verhängnisvollen Gleichsetzung und Gleichwertung von lebendiger
Eigenbewegung und motorisierter Fremdbewegung. Diese Gleichsetzung äußert
sich dann in einer Formulierung wie „Ich bin mobil“, obwohl man still
gestellt ist. Zwischen der durch Eigenbewegung im weiten Sinne entstandenen
Wirklichkeit und der im Modus der Fremdbewegung entstandenen Wirklichkeit gibt
es ein Kontinuum mit abnehmender Wirklichkeit, deshalb ist eine eindeutige
Zuordnung nicht immer möglich. Festpunkte auf diesem Kontinuum wären:
reine Natur – Lebenswelt – inszenierte Realität - virtuelle
Welten. Wichtig: Nicht jede „aktive Einheit“ muss eo ipso für das Objekt
der Aktivität günstig, ja, es kann tödlich sein, denn ein guter Jäger
kennt sein Wild.
Der lebensweltliche Wirklichkeitsbegriff wird zunehmend relativiert, ja
die Wirklichkeit wird überhaupt in Frage gestellt. „Warum soll der
radikale Konstruktivismus nicht Recht haben?“ könnte man
methodenpluralistisch tolerant dieser Frage aus dem Weg gehen. Will man die
Eigenbewegung retten und stärken, so meine Position, muss man parallel
gleichzeitig Begriff und Sache der Wirklichkeit verteidigen. Mit dem
Verschwinden der Wirklichkeit verschwindet gleichzeitig die
Differenz zwischen Leben und Motor. Aber gerade diese Differenz ist für mich die
alles entscheidende, die über die Zukunft der Erde und der Menschheit
entscheidet.
Aber auch die hier vorgestellte Route ist nur auf dem
ersten Blick eine sichere. Genau besehen ist es eine höchst gefährliche Fahrt
zwischen den verschlingenden Meeresungeheuern Scylla, hier die Relativität, und
Charybdis, hier der Absolutismus. Eine eindeutige Synthese aus Relativismus und
Absolutismus, die hier verlangt wird, ist zumindest bis jetzt noch nicht
gefunden bzw. entwickelt worden. Falsch und richtig sind die ständigen Begleiter
dieser Fahrt. Aber diese Fahrt muss unternommen wird, unterlässt man sie, macht
man sich schuldig. Sich nicht entscheiden ist kein Weg, sondern Fatalismus und
Feigheit.
Nicht unvorbereitet sich auf den Weg machen.
Jederzeit können sich falsche Wege, oft unbemerkt, öffnen oder entwickeln. Es
bedarf der Klugheit, Wissen, Erfahrung, Selbstkritik, Bescheidenheit,
kurz: einer Entscheidungskompetenz mit entsprechendem reflexiven Niveau,
um unverletzt im Hafen zu landen. Aber diese Hafen ist nur das Ergebnis einer
(1) Fahrt: die Zahl der Fahrten ist groß. Aber tröstlich muss gesagt
werden, dass viele Dinge und Prozesse im Alltag gar nicht auf ihren
Wirklichkeitsgrad hinterfragt werden müssen. Und tröstlich auch der Labsal
spendende Konjunktiv, der es erlaubt, Wirklichkeit und Wahrheit in
Als-Ob-Aussagen (Vaihinger) auszudrücken, d. h. nicht die ganze Verantwortung
für sie zu übernehmen.