Kleine Essays 

Stand: 13. 2. 2019

 

Es handelt sich um kleinere und größere Arbeiten von mir, die sicherlich hier und da  erweiterungs- und verbesserungsfähig sind. 

Diese Artikel verstehe ich als "funktionale" Bausteine, die die Theorie der Eigenbewegung zusätzlich fundieren sollen.  

 

  1. Notate für Interessierte

  2. Wandern im Spiegel der Eigenbewegung

  3. Wie das Wie realisieren- Erste Gedanken zur atomfreien Zeit nach Fukushima

  4. Klassen und Klassenbewusstsein

  5. Entgegensetzen und Unterscheiden

  6. Der Motor aus anthropologischer Sicht

  7. Warum der Begriff der Eigenbewegung unverzichtbar ist? -  Das „motorisierte Auge“ ist eine Defizitform

  8. Banken und Gesellschaft

  9. Die gute und die schlechte Seite der Moderne

  10. Eigenbewegung (in Wikipedia gelöscht)

  11.  ".....und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge."

  12. Einige  Vorüberlegungen  zum Sich-Bewegen in pädagogischer Absicht

  13. Konservativismus bei der CDU und Grünen

  14. Gedanken zum Verzicht

  15. Warum macht es Sinn, Fußgängern und Fahrrädern Vorrang vor Autos zu geben?

  16. Abstraktion und Reduktion

  17. Die unerträgliche Leichtigkeit des motorisierten Seins

Zu  den Notaten:

 

  Sehr geehrte Redaktion, liebe Bekannte, Freunde und anonyme Adressaten!

 

Nun übergebe ich Euch/Ihnen die hoffentlich lang ersehnte Sendung Nr. 2.   Falls vergessen, habe ich die Sendung Nr. 1  am Ende noch einmal angefügt. Herzlich Boje Maaßen

 

 

       Sendung Nr. 2. vom  Februar 2019

 

Notat 6   Biologische und elektrifizierte Nachteulen

In meinem Bekanntenkreis und viele meiner Nachbarn bezeichnen sich selbst als Nachteulen. Das stimmt, sie sind aber elektrifizierte, keine biologischen Nachteulen. Sollten sie nachts – so meine These – körperlich und geistig ohne Hilfe von Motoren sich beschäftigen müssen, wären viele von ihnen keine Nachteulen mehr. Dazu ein Selbstexperiment: Man lasse den Fernseher abgestellt und nehme einen anspruchsvollen Text mit ins Bett und bemerke, wie schnell die Augen zufallen.

 

Notat 7 Repressive und liberale Toleranz

Zwischen repressiver und liberaler Toleranz muss streng unterschieden werden. Die repressive Toleranz (Herbert Marcuse) wird vom  Konsumkapitalismus, um seine Entfaltung zu ermöglichen, gefordert und durchgesetzt.  Sie verhindert eine rationale Warenkritik und damit Vernunft.  Dagegen setzt sich liberale Toleranz aktiv in  den Feldern  Kultur, Politik, Ökologie, Soziales und  globales Miteinander ein und ist hier unverzichtbar. Ein Beispiel für repressive Toleranz: Auf einem autofreien Platz haben sich viele Menschen versammelt. Plötzlich startet ein Motorradfahrer voll durch und braust davon. Einige Kinder weinen. Eine Kritik am Verhalten des Motorradfahrers wird von den Eltern abgeblockt mit dem Argument „Wenn das seine Welt ist“.

Wenn Toleranz dazu dient,  „Schlechtes“ zu ermöglichen und die  Kritik zu verhindern,  ist sie für mich repressiv, nicht liberal.

 

 

  Notat 8 Materiegesetz statt Naturgesetz

Der Begriff „Naturgesetz“ führt in die Irre, denn es sind Gesetze gemeint, die in der Materie herrschen. Natur ist aber mehr als Materie. Deswegen sollte man eher von „Materiegesetzen“ als von „Naturgesetzen“ sprechen.

 

  Notat 9 Zur Vorsilbe „er“

Die Vorsilbe „er“ dient dazu, dem betroffenen Verb mehr Tiefe und Intensität zu geben. Das „Er“ in dem Verb „erfahren“ zielt auf den Menschen, der Anteil „fahren“ mehr auf die Welt. Zusammen entsteht erst ein Ganzes. Beispiele: Erkennen ist intensiver als kennen, erleben ist intensiver als leben oder ertrinken ist existentieller als trinken. Ohne „Ers“ ist der Mensch nur ein halber Mensch und damit letztlich keiner. Maxime im vermittelten Leben: Mensch, vermehre Deine „Ers“ und meide ihren symbolischen Ersatz.

 

 

Notat 10 Homogenität und Spezifikation oder das Problem der sinn- und sinnenvollen Abstraktionsebene

Die Welt wird zunehmend abstrakter, genauer realabstrakter: Abstraktionen, die es ja nur im Bewusstsein gibt, werden nach deren Maßgabe zu realen Objekten objektiviert. Diese dienen zwar menschlichen Zwecken und Zielen, sind aber auch mit mehr oder weniger großen Verlusten des so genannten Rohstoffes verbunden: Der Holzstuhl (die Realabstraktion) ist gemessen am Reichtum der Eigenschaften eines Baumes (der Rohstoff) sehr arm, insbesondere weil er nicht lebt.

Abstraktionen sind also nicht an sich gut oder schlecht, sondern deren Wert hängt vom jeweiligen Blickwinkel und deren Zielsetzungen ab. Ist das Ziel, möglichst viele Elemente in einem Begriff zusammenzufassen, muss der Abstraktionsgrad erhöht werden (= Steigerung der Homogenität). Aber damit sind u. U. unaufhebbare Verluste verbunden, denn einerseits erweitern  Abstraktionen den Denkbereich, andererseits werden bestimmte Elemente in eins gesetzt. Aber, was aus Erkenntnis- und ethischen Gründen nicht homogen zusammengedacht werden kann und darf,  muss konkret-individuell einzigartig bleiben (= Spezifikation).  Homogenisierung legt den Akzent auf Gemeinsamkeiten, Spezifikation legt den Akzent auf die Erhaltung von Unterschieden.

Beispiele für sinnvolle Homogenisierung: Bei Rechten bis hin zur Menschenwürde ist höchste  Homogenität richtig und notwendig, ebenso in der Wissenschaft und Philosophie. Beispiele für Erhalt von Spezifikationen: Die Begriffe Mobilität und Bewegung sind aus anthropologischer und ökologischer Hinsicht problematisch, wenn  der entscheidende Unterschied zwischen Eigenbewegung  und Fremdbewegung  nicht mehr erkennbar ist und aus den Bewusstseinen verschwindet. Im Naturerleben, nicht in der Naturwissenschaft,  ist die Originalbegegnung mit konkreten Lebewesen und Landschaftsformationen konstitutiv. Bilder sind deshalb kategorial Abstraktionen

Maxime:  Man darf die Variationen der seienden Wesenheiten nicht unnötig verringern, nicht ohne Not auf Wirklichkeit verzichten. Wenn dieses Problem nicht bedacht wird, entsteht unweigerlich  Verhexung durch Sprache

 

 

Notat 12 Gebrauchs- und Tauschwert

Marx unterscheidet mit Recht  fundamental zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, um,  primär vom Tauschwert gedacht, gesellschaftliche Prozesse zu analysieren. Diese Einseitigkeit hatte und hat zur Folge, dass der Gebrauchswert (und die ökologischen Folgen der Tauschgesellschaft) aus der Analyse und dem gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr angemessen berücksichtigt wird. Ich teile die Position von Robert Kurs: „Nicht mehr die Klassen- und Verteilungsfrage der alten Arbeiterbewegung  in das Zentrum der Analyse und Kritik zu stellen, die im Kern nur auf eine gerechte Verteilung des produzierten Mehrwerts abzielte; vielmehr fokussierte sich die Kritik nun grundsätzlicher auf die gesellschaftlichen Produktions- und Vermittlungsformen des Werts und der abstrakten Arbeit. Vor diesem theoretischen Hintergrund erscheint  der Sozialismus nicht als die große Systemalternative, sondern vielmehr als eine Alternation,  eine staatskapitalistische Spielart des warenproduzierenden Gesamtsystems.“   Rechte unterstützen diese Art des Wirtschaftens direkt, traditionelle Linke indirekt. Rechte begründen das mit der Autonomie der Konsumenten, Linke mit der gerechten Verteilung der produzierten Waren und Dienstleistungen. Konsum und das entsprechende Verhalten nicht zu kritisieren, ist das Gebot der Stunde. Dieses Gebot wird  von traditionellen Linken bis hin zu Gewerkschaften ohne Einschränkungen ebenfalls befolgt, indem sie das bestehende Konsumangebot als unhinterfragbar sinnvoll akzeptieren. Die Position der Frankfurter Schule, um ein Beispiel zu nennen, ist  hier obsolet, die Begriffe repressive Toleranz, Entfremdung, Warenästhetik und Eindimensionalität sind aus dem politischen   Vokabular verschwunden.  Die nicht nur aus ökologischen Gründen notwendige Wertediskussion findet nicht statt. Stattdessen rückt einseitig die Frage nach der gerechten  Verteilung des jeweiligen  Mehrwerts in den gesellschaftlichen Diskurs. Diese Position wäre nur dann sinnvoll, wenn die Verteilung sich auf diejenigen Waren und Dienstleistungen beschränkt, die ohne zunehmenden  Ressourcenverbrauch auskommt. Das aber setzt die Beantwortung der Wertefrage voraus. Eine Politik, die vom Primat der Ökologie ausgeht, steht sicherlich vor einer  Aufgabe, die vielleicht als die schwierigste in der Menschheitsgeschichte einzustufen ist. Das impliziert auch Scheitern. Für diesen schwierigen Weg gibt es keine Alternative. Der Tauschwert ist per definitionem ökologiefrei. Zumindest mit dem Klimawandel kommen wir aber nicht umhin, Warenkritik zu üben. In dieser Hinsicht brauchen wir  das Rad nicht wieder neu zu erfinden. Zur Frankfurter Schule, seien  hier  Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ und Wolfgang Haugs „Warenästhetik“ genannt. Deren Lektüre ist aus humanen und ökologischen Gründen aus meiner Sicht ein Muss.

 

 

 

Hier die Sendung Nr. 1 zur Erinnerung, falls nötig

 

 

Boje Maaßen, Weidenbogen10, 24943 Flensburg, Tel. 0461-62336

 

Liebe Bekannte, Freunde und „Überfallene“!

 

Ohne Euch/Sie gefragt zu haben, bekommt Ihr/Sie  nun unregelmäßig von mir eine Mail, die  in etwas fünf bis acht Gedanken  enthält, von denen ich annehme, dass sie relativ originell sind. Sie können unverändert übernommen oder verbessert werden, und sie stehen frei mit oder ohne Nennung der Quelle zu Verfügung. Wenn unerwünscht, bitte ich um einen

 kurzen Hinweis, damit ich reagieren kann. Mehr Informationen in „boje-maassen.de“.

 

            Sendung Nr. 1. vom 24. Januar 2019

 

1.  Zu Realo und Fundi: Ich denke, fundamentales Bedenken und Realpolitik ökologischer Themen ist nicht  auf zwei Gruppen verteilt, sondern idealiter in einer Person vereinigt. Das ist die Vertikalisierung in eine Person der bisher auf zwei Gruppen verteilten Begrifflichkeit. Das Fundamentale muss man dabei nicht ständig raushängen lassen. Aber beide Aufgaben bzw. Bereiche sind gleich wichtig. Maxime: Fundamental denken und so viel wie möglich in Realpolitik davon durchsetzen.  Historisch rekonstruiert: Die K-Gruppen („Fundis“) waren fundamental sozialistisch-marxistisch, die "grünen Grünen "waren fundamental ökologisch (also auch Fundis). Aber beide Gruppierungen arbeiteten in der Praxis mehr oder weniger realistisch („Realos“).

 

 

2. Aus einer Kolumne: „Umgekehrt! Mein Nachbar beschreibt sich selbst als umgekehrter Online-Käufer.  Weil ich das nicht begriff, hat er es mir erklärt: Wenn er etwas kaufen wolle, informiert er sich oft vorher  über Preise im Internet, kauft aber in den Geschäften der Innenstadt. Warum nicht gleich im Internet? Seine Antwort: Er möchte die Geschäfte der Innenstadt am Leben erhalten und möglichst stärken, denn sie sind der unverzichtbare Teil einer der schönsten Einkaufstraßen Deutschlands.“

 

3. Leserbrief im Flensburger Tageblatt:  „Gegen die Autofixierung

Es ist Zeit für ein alternatives Verkehrskonzept, das folgende Maxime befürwortet: Nahdistanzen zu Fuß und mit dem Rad, den Rest  mit Bus und Bahn. Der motorisierte Individualverkehr hat nur dort Berechtigung, wo Bus und Bahn nicht vorhanden sind. Eine solche Mobilität dient der Gesundheit, dem sozialen Zusammenleben und der Erde. Dazu eine Stimme der Vernunft „Die Stadt gehört den Menschen, nicht den Autos“ (Dieter Reiter, Oberbürgermeister von München).” Ergänzung: Der Begriff “Mobilität” hat eine Abstraktionsebene, die den wichtigen Unterschied zwischen Eigenbewegung und Fremdbewegung verdeckt. Was an Homogenisierung gewonnen wird,  geht hier auf Kosten der Spezifizierung.

 

 

4. Ich denke (und danke), dass ich in  der „Frankfurter Schule“ die Kritik an unnötigem Konsum gelernt habe. Diese Kritik, so meine Analyse, wurde  ab 1978 von den ökologisch orientierten Grünen zu einer politischen Theorie ausgestaltet  und zum Fundament ökologischer Politik entwickelt. Der Schwerpunkt lag eindeutig auf der Gebrauchswertfrage und nicht auf der Verteilungsfrage, die weiterhin vehement von Vertretern marxistischer Richtungen innerhalb der Grünen vertreten wurden. Damals konnte  man den Satz „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ unbehindert denken und  sagen. Auch der Song „Wir steigern das Bruttosozialprodukt“ konnte nur damals populär werden.  Heute würde sofort die repressive Toleranz aktiviert. Heute ist das Thema der Gebrauchswertfrage aus dem historischen Diskurs verschwunden. Übrigens macht die Akzentuierung auf die Verteilungsproblematik eine selbstkritische Analyse der eigenen Gebrauchswertnutzung überflüssig, so dass man problemlos im SUV zur Diskussion für Gleichheit fahren kann.  Eine Entwicklung, die man gegenwärtig ziemlich präzise in Frankreich beobachten kann. Es geht im Kern  um Gebrauchswert- vs. Verteilungsproduktion. Dass die Verteilungsfrage zu Zeiten von Marx im Mittelpunkt stand, war meiner Ansicht zwingend. Der Kern dieses Notats: Die ökologische Bewegung hat sich systematisch aus der Frankfurter Schule heraus entwickelt. Die AKW-Bewegung war übrigens die einzige Massenbewegung, die auch von vielen Marxisten, nicht allen, mitgetragen wurde. Aber dann  wurde von ihnen die Reißleine zugunsten einer gerechten Verteilung gezogen, was immer wie produziert wurde und wird.

 

5. Versuch einer Rekonstruktion der Hauptlinie der Entwicklung in Deutschland ab 1933:

a) 1933 – 1945 Einheit von Rassismus und wirtschaftlicher Stärke sowie  technologischer Spitzenstellung (s. z. b. Cassierer)

b) ab 1945 Konzentration auf Wirtschaftswachstum und Fallenlassen der rassistischen Ideologie, was den problemlosen Übergang von a nach b erklärt.

c) ungefähr ab dem Jahr 2000 Verabsolutierung des Konsumdenkens als Selbstzweck

d) nun wird die  Phase des nachhaltigen Denkens und Handelns absolut notwendig.


 

1. Wandern im Spiegel der Eigenbewegung

(anläßlich des Wandertags 2017 in Eisenach)

 

A. Zum Bewegungsbegriff

Wandern ist im Kern sich bewegen. Bewegung ist ein essentielles Merkmal des Lebens.

 

In der Mechanik spricht man ebenfalls von Bewegung. „Jeder Körper beharrt im Zustande der Ruhe oder der geradlinigen, gleichförmigen Bewegung, wenn nicht eine Kraft auf ihn einwirkt.“ (Newton).

 

In der biologischen Bewegung bewegen sich die Körper aktiv. In der Mechanik/Physik werden die Körper bewegt und diese Bewegungen sind in höchster Abstraktion objektiviert.

 

Trotz dieses qualitativen Unterschieds werden mechanische und biologische Bewegung mit dem Wort „Bewegung“ qua Abstraktion gleich bezeichnet bzw. der Begriff „mechanisch“ wird verallgemeinert.

 

In der Gegenwart findet  eine ähnliche, nicht weniger problematische Gleichsetzung statt, nämlich die  von biologischer und motorisierter Bewegung. Die motorisierte Bewegung ist ebenfalls  eine mechanische. Die Gleichsetzung von biologischer und motorisierter Bewegung im Oberbegriff „Bewegung“  ist – so meine Überzeugung -  für Mensch und Erde extrem verhängnisvoll (siehe unten). Ein Beispiel dieser Verwechselung „Ich stehe auf dem Parkplatz“, obwohl der Redner aktuell in meiner Wohnung ist. Deshalb schlage ich vor, das Adjektiv „beweglich“ ausschließlich für Eigenbewegung, das Adjektiv „mobil“ ausschließlich für motorisierte Fremdbewegung zu benutzen.

 

Die biologische Bewegung nenne ich aus der Perspektive der  Sichbewegenden   Eigenbewegung. Für diese Bewegung wird  körpereigene (metabolische) Energie für die Arbeit der Muskeln und Nerven gebraucht, so dass aus dieser Energieform  körperliche und geistige Bewegungen bis hin zu Höchstformen in Sport und Hochkultur werden können.

 

Fremdbewegung heißt aus der Perspektive der Nutzer,  andere Lebewesen oder natürliche Energien wie Wasser, Sonne und Wind oder die heute dominierenden  Motore in Anspruch zu nehmen, um Distanzen zu überwinden.

 

 

Ich unterscheide  drei Formen der Eigenbewegung: Sport, Wandern und  Eigenbewegung zu Fuß oder Rad im Alltag. Diese Formen belasten nicht die Umwelt.

 

                        Eigenbewegung

 

 

 

 


Sport                    Wandern             Eigenbewegung im Alltag

 

Sport, außer Mannschaftssport (die Mannschaft ist hier die Umwelt), ist für mich eine defizitäre Form der Eigenbewegung, weil sie den körperlichen Pol der Eigenbewegung tendenziell verabsolutiert und den Umwelt-Pol vernachlässigt.

Wandern ist die ideale Form der Eigenbewegung, weil Mensch und Umwelt gleichwertig eine untrennbare Einheit bilden. Beide Pole „profitieren“ optimal.

Eigenbewegung im Alltag kann zweckfrei wie beim Spazierengehen oder zweckhaft wie beim Einkauf sein. Auch hier bilden Mensch und Umwelt eine untrennbare Einheit - übrigens meine Praxis. Es entstehen keine Umweltbelastungen.

 

Zum Wandern  hat Ulrich Grober in mehreren Veröffentlichungen bereits das Entscheidende  gesagt. Im Folgenden  konzentriere ich mich auf die Eigenbewegung im Alltag. Die positiven Wirkungen des Wanderns auf die Wanderer und auf die Wanderwege müssen meiner Meinung nach in den Alltag transferiert werden. Ich setze also auf das Transferpotential des Wanderns. Warum?

Die zunehmende Industrialisierung der Landschaft, die autogerechten Städte und Dörfer, viele Gesundheitsprobleme, Klimawandel bis hin zum Erdzeitalter des Anthropozäns haben ihre

Hauptursache im Motoreneinsatz und da wiederum im motorisierten Individualverkehr –bei gleichzeitigem massiven Rückgang der Eigenbewegung im Alltag. Menschenleere Bürgersteige und autovolle Fahrbahnen sprechen hier eine eindeutige Sprache.

 

Ich kritisiere nicht die Technik, denn das wäre die Negation eines spezifisch menschlichen Merkmals (téchne = Können). Auch lehne ich nicht prinzipiell Motorenseinsatz ab (wer will schon zu einem Zahnarzt, der einen handbetriebenen Bohrer einsetzt),  sondern es geht  um den verantwortungsvollen Umfang seines  Einsatzes. Segways, SUVs, Autonutzung bei Vorhandensein  öffentlicher Verkehrsmittel, so genannter Motorsport, Laubbläser usw. -  um einige Extreme zu nennen - sind indiskutabel. Dazu gehört auch die massive Überlagerung (palliare = überlagern) von Wirklichkeit durch oberflächlichen elektronischen Medienkonsum.

 

Eigenbewegung im Alltag ist natürlich nicht die einzige Lösung, aber ein großer Beitrag zur Lösung der oben beschriebenen Probleme. Die  Maxime sollte lauten: „So wenig Motoreneinsatz wie möglich“, denn Motore legen Muskeln und mehr lahm.

 

 

B.  Verkürzt und unsystematisch dargestellte Merkmale der Eigenbewegung und der Fremdbewegung

 

1.     Die Lebenswelt ist  die primäre Welt. Intensiv leben, auch das Leben poetisieren,  nicht in Ersatzwelten vegetieren ist die Maxime der Eigenbewegung.

 

2.     Wirklichkeit ist die  Einheit von Mensch und Umwelt. Eine Wirklichkeit ohne Mensch nenne ich  Realität. Mein Wirklichkeitsbegriff enthält damit auch die Aufhebung der strikten Trennung von Außen und Innen. In der Wirklichkeit finden  Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt statt, sie durchdringen einander. Es gibt nur intersubjektive Wahrheiten. Sie werden oft auch mit Zwang durchgesetzt (auch Schule macht das). Die Einheit wird deutlich beim Wandern, so dass abstrakte Realitäten  im Schein und als  Fakes keine Chance haben. 

 

3.     Die Eigenbewegung „hat“ mehr Freiheitsgrade. Freies Gelände verlangt mehr Freiheitsgrade als eine gerade Straße, Spazierengehen mehr als im Auto, im Gehen mehr als im Sitzen. Es gibt nur allerkürzeste Zeitmomente der Freiheit, (Modell: Lokomotive auf der Drehscheibe als Metapher für Freiheit, die diese von einer Determination auf eine andere setzt). Aber Freiheit kann nach Kirkegaard auch eine Last sein, eine  Entscheidungslast, die auch falsch sein kann (wie das zu späte Loslassen eines Halteseils bei einem Zeppelinauftrieb).

 

4.     Eigenbewegung schafft reale Subjektivität, die in ihren Auswirkungen ambivalent ist. Sie ist unverzichtbar in der Ethik, Selbsterhaltung, Entwicklung von Fähigkeiten als Selbstbildung. Aber sie ist überfordert als Grund der Welt (Deutscher Idealismus) zu fungieren. Subjektivität wird begrenzt durch autonome Ontologie (Meillassoux, Gabriel). In Zeiten kapitalistischem Wirtschaftswachstums hat der Subjektivismus die Fordrungen übernommen, die Erde als Rohstoff für menschliche Bedürfnisse auszubeuten.

 

5.     In der Eigenbewegung erfährt  die innere Welt (Qualia) die notwendige und verdiente Aufwertung. Unter Qualia  oder phänomenalem Bewusstsein versteht man den subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes. Das können sein  Werte,  Phantasie, Urbilder, logisches Vermögen, Ethik, Erinnerungen, das DA.  Novalis verweist auf den unermesslichen Reichtum dieser Welt. Aber tendenziell wird das Individuelle unwichtig und verschwindet. Qualia haben in der Fremdbewegung und als Erkenntnismöglichkeit keine ernsthafte Funktion. Auto und Medienkonsum verhindern „das Aufblühen“ der Innenwelt. Sie überdecken und fesseln den inneren Reichtum. Formen der Überdeckung: oberflächlicher  Medienkonsum, fertiges Spielzeug, All-inclusive-Reisen.

 

6.     Nur in der Eigenbewegung erfährt bzw. erlebt man existentielle Widerstände – die Dinge haben Schwere, sie werden „erträglich“, es entsteht ein  welthaftes  Ich mit realen natürlichen, sozialen und kulturellen Kontakten. Im Wandern entsteht ontologische Sicherheit, in der auch die eigene Existenz eingeschlossen ist.

 

7.     Eigenbewegung steht für aufrechten Gang als Ziel und Selbstwert. Der aufrechte Gang kann aber auch Herrschaft ausdrücken.

 

8.     In der Eigenbewegung besteht eine prinzipielle, gewissermaßen ungeschützte Offenheit gegenüber  der Umwelt. Wir leben zunehmend ein „Indoorleben“. Die positiven Reize von  Regen, Wind und Kälte stoßen zunehmend nicht zufällig auf Unverständnis.

 

9.     In der Eigenbewegung geht man, in der Fremdbewegung (außer Radfahren) rollt man. Dazu eine Spekulation: Beim Rollen haben die Rollen einen  punktuell-ständigen Kontakt zur Erde.  Beim Gehen ist immer ein (1) Fuß auf der Erde, der andere u. U. im „Himmel“, zumindest näher am Himmel. Der Fuß ist langsamer als das Rad. Aber Langsamkeit ist auch ein Wert: Man nimmt mehr wahr.

 

10.  Eigenbewegung vermittelt eine spezifische Raum-Zeit-Vorstellung.  Motorisierte Mobilität und Medieneinsatz haben diese Vorstellung qualitativ und quantitativ radikal verändert. Eine  Alternative: Die Straße als Lebensraum zurückbauen und gewinnen – ökologisch, sozial und nur für Fußgänger,  Radfahrer und unter Umstände für öffentliche Verkehrsmittel frei.

 

11.  Eigenbewegung differenziert sich in eigen und selbst.  Eigen ist ein Besitzverhältnis, selbst ist ein individueller Arbeitsmodus zumindest in einem Teilbereich. Man könnte also auch von Selbstbewegung sprechen. Identität ist von beiden abhängig.

 

12. Eigenbewegung kostet selbst nichts. Man denke nur, was ein SUV bei Neuerwerb und  Nutzung an Geld verschlingt.

 

13.  Eigenbewegung „produziert“ keine Emissionen, geht (wortwörtlich) behutsam mit der jeweiligen Umwelt um und fördert die Gesundheit.

 

14.  Eigenbewegung macht eher immun  gegen überflüssigen Konsum. Mit leichtem Gepäck lebt es sich leichter und besser, also die Schönheit des Weniger gemessen am heutigen Konsumstandard. Während  Fremdbewegung  der Sieg der Kapitalverwertungsinteressen ist. Es gilt,  den Gesängen der Bequemlichkeit oder den Konsumimpulsen nicht zu erliegen. Dazu erhellend ein Gedicht von Günter  Anders:

 

 „Da es  dem König aber wenig gefiel,
dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend,
sich querfeldein  herumtrieb,
um sich selbst ein Urteil über die
Welt zu bilden,
schenkte er ihm Wagen und Pferd.
"Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen",
waren seine Worte.
"Nun darfst du es nicht mehr",
war sein Sinn.
"Nun  kannst du es nicht mehr",
deren Wirkung.“



15.  Fremdbewegung realisiert das Ideal der Bewegung der Neuzeit.  Motoren- und Autonutzer werden in der Psyche und Logik motoren- bzw. autoähnlicher. Geometrie, Homogenität, Reinheit, zahlenmäßige Bestimmung werden zunehmend zur  Norm.

 

16.  Fremdbewegung und Medienkonsum erzwingen die sitzende Gesellschaft.

 

17.    Fremdbewegung verhindert immer mehr Originalbegegnungen, dafür Leben aus zweiter Hand.

 

18.     Fremdbewegung  hat zum Antrieb Menschen- und Tierkraft, natürliche Energien wie Wasser, Wind und Sonne oder Motore. Von  den Emissionen sind nur  Motore problematisch. Eine Kritik des Motors hat es gegenwärtig so schwer wie eine Kritik der Nase, denn der Motor wird inzwischen als ein Teil des Körpers,  ja der Seele interpretiert.

 

19.   Ohne Selbstreflexion, Selbstkritik und Diskurs sind auch diese Gedanken wertlos.

        

C. Zielvorstellung: Eine Kultur der körperlichen und geistigen Eigenbewegung vs. einer Zivilisation der Motore und des Wirtschaftswachstum.


 

 

 

1. Wie das Wie realisieren? - Erste Gedanken zur atomfreien Zeit  nach Fukishima 


Zumindest nach Fukushima geht es nicht mehr um das „Ob“, sondern um das „Wie“. Gegen die Atomenergie zu sein, ist notwendig, aber nicht hinreichend. Es müssen Wege  aufgezeigt werden, wie der  riesige weltweite Energiebedarf  verkleinert werden kann.
Nach Hans-Peter Dürr  entsprechen die Energieumsätze  um 2003 weltweit der Einwirkung von 130 Milliarden Energiesklaven, wobei vier
Energiesklaven die physische Arbeit eines Pferdes (PS) zwölf Stunden
am Tag ohne Pausen leisten.  Ein  US-Amerikaner beschäftigt
hundertzehn, ein Europäer sechzig, ein Chinese acht  und ein
Bangladeschi weniger als einen (1)  Energiesklaven für sich, wobei
sich diese Zahlen seit jener Zeit wiederum  nach oben verschoben
haben. Dürr bemerkt zu den notwendigen Veränderungen, dass sie trotz alledem kein steinzeitartiges Leben verlangten oder dass wir künftig nicht  in "Schutt und Asche" vegetieren müssten, sondern  bei heutiger Technik für alle wenigstens den Lebensstandard eines Schweizers von 1969 ermöglichen, was dem Einsatz von fünfzehn Energiesklaven entspricht.
Dieser in etwa anzustrebende Wert  im Energieverbrauch   ist nur durch eine Änderung des gegenwärtig vorherrschenden individuellen und kollektiven Lebensstils zu erreichen. Der bisherige Lebensstil, der
auf  Bedürfnisse und Prinzipien wie Bequemlichkeit, Schnelligkeit,
Fernreisen, Vergrößerung des Warenkorbs und Billigkeit ausgerichtet
ist, muss  durch Sparsamkeit, Nachhaltigkeit, Intensität der sozialen
Beziehungen und Naturbegegnungen, regionales Handeln,  Bildung
relativiert  werden:  Geistig-seelisch statt materielle Ausrichtung,
Eigenbewegung statt Fremdbewegung, das Nahe statt das Ferne. Die
Erhaltung der Erde hat Vorrang vor Wirtschaft. Das gilt allerdings
nur, wenn es um  Bedürfnisse geht, die nicht  der Selbsterhaltung dienen.

Diese sehr allgemein gehaltenen Forderungen in nüchternen  Begriffen
und systematische ausgedrückt: Die  vier Felder: Alternative
Technologien, Effizienzsteigerung, kollektives und individuelles
Sparen und Selbstversorgung wären Kandidaten für Maßnahmen zur
Reduzierung des Energiebedarfs. Dazu einige Anmerkungen und Bewertungen:
- Die   Entwicklung und Realisierung der Alternativen Technologien
sind  auf dem richtigen Wege, in ihnen steckt aber ein größeres
Potential.
- Die Effizienzsteigerung im kollektiven und individuellen Gebrauch
ist,  trotz einiger isolierter Erfolge, insgesamt  noch
unbefriedigend. Das liegt nicht nur in Nachlässigkeit und
Bequemlichkeit begründet, sondern oft auch in Unwissenheit bzw. Fehlen
der notwendigen Voraussetzungen.
- Gleiches gilt für Einsparungen in  den vier  Bereichen Wärme,
Beleuchtung, Verkehr und Produktion. In der Produktion sehe ich großes
Potential in der Beschränkung auf sinnvolle  Produkte, nicht so sehr
im Produktionsprozess selbst, wenn es um die Ersetzung von körperlich
schwerer und geistig stupider Arbeit geht.
- Die  Selbstversorgung ist  praktisch zum Erliegen gekommen:
Schrebergartenkolonien, Gärten oder  Obstbäume an öffentlichen Wegen
sind Belege dafür.  Die Schönheit des Erntens ist keine Realerfahrung
mehr, und die vielfältigen Ideen der ökologischen Bewegung um 1980
sind nicht mehr existent.

Die Umstellung von energieaufwendigen zu ernergiesparsamen
Lebensstilen wird gesellschaftlich und individuell große Probleme und
Aufgaben nach sich ziehen. Die  Folgen für Wirtschaft, für
Arbeitsplätze, für soziale Sicherungssysteme sind unübersehbar. Hier
haben Schönrednereien keinen Platz, sondern es bedarf  des
schonungslosen Muts eines  „ökologischen Churchills“. Ich denke aber,
dass die  Zukunftssicherung der Erde und der nachfolgenden
Generationen  nicht Schmerzen, sondern materieller Einschränkungen
bedarf. Das ist ein großer Unterschied, zumal diese Einschränkungen
teilweise auch  ein Mehr an Lebensqualität mit sich bringen.

Da in jeder alternativen Bewegung  Änderungen und damit unter
Umständen Zwang verlangt werden bis hin zur  Gefahr einer ökologischen
Diktatur, gilt es, den notwendigen Zwang  soweit wie möglich
einzuschränken und mit vielen Freiheitsgraden auszustatten:  In
welchem Feld oder in welchem „Mix“ Energieeinsparungen realisiert
werden,  sollte von jedem Kollektiv und  Individuum autonom
entschieden werden.    Eine Hilfe könnte  sein,  eine  negative
Hierarchie seines  Energieverbrauchs aufzustellen, die mit den
energiegestützten Aktivitäten beginnt, die man entweder gar nicht in
Anspruch nimmt oder auf die man leicht verzichten könnte. Am Ende
ständen schmerzhafte Verzichte, die noch gerade oberhalb der
Selbsterhaltung enden. Meine Liste könnte wie folgt aussehen: Verzicht
auf  Motorensport zu Land, Wasser und Luft in  jeglicher Art,
Hallenbäder, exotische Früchte,  Fernreisen,  Fernsehapparat
insbesondere mit großflächigen Mattscheiben, Auto, Geschirrspüler.
Schwieriger wäre schon der Verzicht auf das tägliche Duschen, auf
Zugfahrten und Internetnutzung. Das ist meine Liste, die meines
Freundes sieht schon anders aus,  denn jeder muss  selbst entscheiden,
wo sie oder er Energie sparen wird.

.

2. Klassen und Klassenbewusstsein

Meine Umdeutung eines Grundgedankens von  Marx: Nach Marx ermöglichen die jeweils in einer Gesellschaft bestehenden Produktionsverhältnisse die Entwicklung der Produktivkräfte bis zu einem bestimmten Stand, von dem ab dann deren Ermöglichung in Fesselung umschlägt. Auf dieser Entwicklungsstufe  entstehen gesellschaftliche Spannungen, die schließlich zu einer gewaltsamen  Umwandlung der Produktionsverhältnisse führen, die nun eine weitere Entwicklung der Produktivkräfte ermöglichen. Nach Marx bestehen die  Produktionsverhältnisse  aus sich antagonistisch gegenüberstehenden Klassen, wobei die herrschende Klasse über die materielle und symbolische Macht in einer Gesellschaft verfügt. Dieser Klassenbegriff entspricht meinen Wahrnehmungen nach nicht mehr  der Wirklichkeit. Einerseits  bestehen zwar die Klassen - von der materiellen Ausstattung mit Gütern  her gesehen - weiterhin, wobei sich  hier die Schere  noch weiter öffnet. Anderseits haben sich die Klassen - vom Bewusstsein und vom Informationsstand her  gesehen - in eine relativ homogene Einheitsgesellschaft aufgelöst. Alle definieren sich über den Konsum. Tendenziell fühlt sich keiner mehr als Herr, sondern mehr als Getriebener  bis hin zu Opfer. Und dieses Gefühl ist berechtigt, denn es herrscht die Logik des Gesamtsystems, das entscheidend von der Entwicklung der Produktivkräfte gesteuert wird. Phänomene wie Hochkultur, Tradition,  konkrete Naturdinge, unteres oder oberes Klassenbewusstsein,  substantieller Individualismus sind für den gegenwärtigen Entwicklungsstand und für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte (ich denke da insbesondere an die neuen Medien und Transporttechnologien) hemmend und verschwinden  immer schneller aus Praxis, Wertekanon und Bewusstsein. Die gegenwärtige Technologie braucht heute als optimales Umfeld die  homogene Einheitsgesellschaft, deren Mitglieder sich nur noch quantitativ im Haben von Konsumgütern unterscheiden: Alle machen (Fern-)Reisen, alle haben Autos, alle benutzen die gleichen Medien, alle verfügen über beträchtliches Eigentum. Die Frage ist, ob in Zukunft auch die quantitativen Differenzen eine Fesselung für die Produktivkräfte sein werden und deswegen ebenfalls verschwinden müssen. Ob damit viel an (Hoch-) Kultur und Humanität gewonnen ist, wage ich zu bezweifeln.

Der materielle Reichtum hat sich in den letzten 50 Jahren versiebenfacht (Mathias Greffrath). Damit haben die Waren allein dank ihres schieren Umfangs Macht über den Menschen erlangt. Die rationale Bewirtschaftung dieser Massen umfasst vieles: Sich systematisch über die Fülle der Angebote in verschiedenen Medien einschließlich Sonderkonditionen informieren, die Preise vergleichen und  sich entscheiden,  den Kaufakt  auf direktem oder  indirektem Wege einschließlich der Kenntnis und Bestimmung notwendiger Infrastrukturen  eruieren und  organisieren, die Unterbringung  und Pflege der Waren, über deren Verweildauer entscheiden und letztlich deren Entsorgung . All diese Aktivitäten verlangen umfassendes Wissen, „Ausbildung“,  große Flexibilität,  Einsatz,  Konzentration, Ausdauer und fressen viel Zeit. Insgesamt Anforderungen, die denen eines Berufs nahe kommen. Mit anderen Worten: Nach meinen Erfahrungen  hat sich insbesondere in den letzten zwanzig Jahren  ein mit einem Beruf vergleichbares, abgrenzbares und zusammenhängendes Tätigkeitsfeld herauskristallisiert, das  ich vorläufig – bis ein passenderes Wort gefunden wird – „Warenverwalter bzw. Warenverwalterin“ nenne. Diese Entwicklung findet nur noch in der Dimension des Habens (Erich Fromm) statt und verselbstständigt sich zunehmend. Der oder die Agierende wird zu einem privaten  homo oeconomicus, d. h. die  Firma ist der private Haushalt. Beide sind vom Aufwand her vergleichbar. Wohl gemerkt, es geht hier nicht um das Konsumieren an sich, sondern um den heute so aufwendigen Erwerbsvorgang.

Da dieses Tätigkeitsfeld  als Arbeit noch nicht auf den Begriff gebracht worden ist, ist es nicht verwunderlich, dass selbst die Betroffenen diesen Prozess  als Arbeit und Beruf noch nicht wahrgenommen haben,  zumal die Waren produzierende Industrie und der Handel alles unternehmen, den Arbeitscharakter dieser Tätigkeiten nicht ins Bewusstsein gelangen zu lassen, indem sie dafür sorgen, dass sie als reiner Lustgewinn wahrgenommen und interpretiert werden. 

Eine Pointe dieser Ausführungen liegt im Folgenden:  Es besteht keine Notwendigkeit mehr, von qualitativ verschiedenen Klassen zu sprechen, denn es gibt heute  nicht mehr qualitative, sondern nur noch quantitative Unterschiede, die allerdings massiv sind. Mit anderen Worten: Die gegenwärtige Gesellschaft kennt tendenziell nur noch eine (1) Qualität, die des Konsumerwerbs. Es gibt also nicht zwei oder mehrere verschiedene Qualitäten, die es rechtfertigen, zwei oder mehrere Klassen zu konstituieren bzw. zu bestimmen. Es gibt nur noch quantitative Unterschiede innerhalb der einen vorhandenen Qualität. Es wäre daher unsinnig, von mehreren Klassen zu sprechen oder die Gesellschaft mit einer einzigen Klasse auszustatten.  Diese behauptete Eindimensionalität ist die Haupttendenz  der gesellschaftlichen Entwicklung.   Natürlich gibt es innerhalb dieser dominierenden Dimension Binnendifferenzierungen wie in der Autowelt zwischen Porsche und Smart, zwischen Autos mit konventionellen und Elektroantrieb - oder aus ökonomischen Gründen nur den Wunsch nach diesen Dingen.  Aber  Praxen und Wunschwelten  jenseits dieser Systemgrenzen sind substantiell  nur in Spuren vorhanden. 

Die  gegenwärtigen „hemmenden“ Faktoren für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte ist also nicht mehr die Klassenstruktur einer Gesellschaft,  sondern die noch wirksamen  materiellen und ideellen Werte, die  momentan in breiter Front  höchst wirkungsvoll auf praktischer Ebene demontiert werden. Diese Werte, die man auch als Gebrauchswerte im weitesten Sinne bezeichnen kann, werden durch Tauschwerte ersetzt. Den Tauschcharakter einer Ware erkennt man relativ leicht  an der Verpackung, an der Werbung und  oft am Design. Offensichtlich vollkommen unbemerkt daherkommend ist dagegen die Durchsetzung des Tauschwertes im Denken, Fühlen und Handeln von  immer mehr Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Was ist damit gemeint? Der Tauschwert ist primär keine materielle Eigenschaft, sondern eine Haltung und Einstellung zu Dingen und Waren im Modus des Habens. Diese Haltung des Habenwollens von so vielen Dingen und Waren wie möglich ist das Endziel des Denkens und Handelns. Ein kritisches Hinterfragen des Habens sowohl als Haltung als auch bezüglich Sinnhaftigkeit, Ausbeutung, ökologischer Belastung  von bestimmten Waren ist deshalb unmöglich, weil es eben das letzte Ziel ist. Die Haltung des Habens ist kritikresistent, denn es  gibt nicht die Möglichkeiten der Ablehnung, der Negation, der Abweichung. Der Mensch liebt zwar  immer noch  Dinge, Orte und auch Menschen, aber sie sind tendenziell problemlos austauschbar mit anderen Dingen, Orten und Menschen, die der Markt mit aller vorhandenen Macht anbietet und durchsetzt. 

Indem wir zulassen, dass die Wertewelt auf einen Wert (Konsum) verengt wird, sind zugleich wir aktiver und passiver Teil  dieser eindimensionalen Welt geworden.  Kritik wird somit zugleich unumgänglich Selbstkritik, wobei letztere es immer besonders schwer hat. Deswegen soll dieser Essay mit einer zweifachen Kritik meiner Kritik beendet werden:  Wie vielleicht einige meiner Aussagen suggerieren, ist real die Dialektik nicht festgestellt, denn immer wieder zeigen sich, oft unerwartet, hoffnungsvolle Gegentendenzen, zu denen vorliegender Artikel übrigens auch zählen möchte. In diesem Zusammenhang bin ich übrigens der dogmatischen Meinung, dass unser Rechtsstaat eine unhinterfragbare und unverzichtbare Bedingung für eine nicht still gestellte Dialektik ist.  Und es  gibt allein schon des Todes wegen keine absolut  stabilen und „ewigen“ Beziehungen  zu den Dingen und Menschen, was auch nicht einmal wünschenswert wäre.  Aber es gibt ein jeweiliges Optimum der Stabilität – und das anzustreben wäre die regulative Idee unserer Bemühungen in humaner und ökologischer Absicht. 

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3. Entgegensetzen und Unterscheiden

Es wäre falsch, Eigenbewegung und Fremdbewegung als absolute Gegensätze aufzufassen. Dagegen spricht schon, dass in beiden Begriffen „Bewegung“ enthalten ist, sie also neben Unterschieden Gemeinsames haben wie Ortswechsel, neue Räume erschließen, ein Ziel erreichen, „dabei sein“. Wenn ein weit entferntes Ziel erreicht werden soll, ist Fremdbewegung unverzichtbar. Nicht immer ist ein Entweder-Oder angesagt.
Eine „Entgegensetzung“ ist eine Beziehung, in der die beiden  Pole nichts Gemeinsames, keine gemeinsame Schnittmenge haben. Ein  „Unterschied“ ist  dagegen eine Beziehung,  in der  die  Pole Anteile vom  jeweils anderen Pol haben. Beide Pole der Unterscheidung sind also  immer ein Gemisch von   graduellen Unterschieden. So ist das Begriffspaar „Natur und Kultur“ keine  Entgegensetzung, sondern  eine Unterscheidung:  In  Natur ist  immer Kultur und in Kultur immer Natur enthalten. Denn jedes natürliche Ding ist kulturell überformt: Es  gibt  heute keine von Menschen unberührten Ökosysteme mehr und selbst der Begriff  „Natur“ gehört  eindeutig zur Kultur. Umgekehrt ist jeder kulturelle Gegenstand letztlich aus Natur hervorgegangen. Auch  der Kultur schaffende Mensch hat   nicht nur kulturelle, sondern auch natürliche Anteile in sich.
Und das gilt für jeden Dualismus wie Subjekt und Objekt, Eigenbewegung und Fremdbewegung, Kritik und Kritisiertes. Heinrich Heine hat sich  nie als das Gegenteil von der Masse betrachtet. Er ließ immer durchblicken, dass das von ihm Kritisierte auch in ihm selbst vorhanden war. Oder Thomas Manns Diktum, dass er nach rechts ginge, wenn das Schiff nach links absacke und umgekehrt. Selbstironie, über die beide Autoren reichlich verfügten,  untergräbt ebenfalls die Gefahren einer Verabsolutierung.
Entgegensetzungen erweisen sich bei genauer Analyse als Unterschiede.  Entgegensetzungen gibt es  nur auf der Ebene der Sprache, nicht in der Realität. Setzt  man Sprache mit Realität gleich, ist man also schnell im Irrtum. Es gibt real also nur  Richtungen, Schwerpunkte, Akzentuierungen und damit Hierarchien. Diese Auffassung ist nicht neu, sondern wird beispielsweise in der Dialektik, im Dekonstruktivismus oder  in der Hybrid-Theorie ausdrücklich thematisiert. Dass es trotzdem immer wieder zu Rückfällen in die Entgegensetzung kommt, liegt einerseits in der linearen Struktur der Sprache, andererseits im Wesen des Begriffs begründet, der eingrenzt und ausgrenzt, gleichzeitig etwas sagt und nicht sagt. Das Ausgegrenzte gibt aber keine Ruhe, überwindet die willkürliche Grenze. Ich denke, solange wir sprechen, befinden wir uns in dieser Gefahr und können sie nur relativieren, indem wir sie ständig im Hinterkopf haben und falls nötig, auch artikulieren.



 

4. Der Motor aus anthropologischer Sicht


1. Die uns umgebende Dinge teile ich  nach dem Kriterium „Natur-Technik-Anteile“ in vier Gruppen: a)  reine Natur (wie in einigen Naturschutzgebieten), b)  nichtmaschinelle Gebrauchsgegenstände (von Bett bis Straßen),  c) Werkzeuge und Maschinen, die mit menschlicher, animalischer oder Naturkräften   betrieben werden (von Messer bis Fahrrad) und  d)  motorenbetriebene Maschinen (von Autos, elektrischen Zahnbürsten, automatisch sich öffnenden Türen bis Fernseher).  Die Reihenfolge spiegelt  die historische Entwicklung.

2. In welchem Verhältnis stehen Motore zur Technik? Motore sind eine Teilmenge der Technik. Betrachten wir zuerst die Technik: Jeder  Herstellungsakt bedarf eines Könnens, das die Griechen mit techne bezeichneten.  Technisches Denken ist ein, vielleicht das  konstituierende Merkmal des Menschen.  Die Struktur dieses  inneren Könnens führte schnell zum Erfinden von (äußerlichen) Werkzeugen und später zu einfachen Maschinen wie Wassermühlen, die von Naturkräften angetrieben werden mussten. Mit der Erfindung der Dampfmaschine von James Watt im Jahre 1764 begann das Zeitalter der Motore, die– im Gegensatz zu den bisher von Naturkräften abhängigen Maschinen -  grundsätzlich von Ort und Zeit unabhängig sind und vor allem ständig in ihrer Effizienz gesteigert und in ihrer Ausdehnung verkleinert werden können, so dass sie jetzt überall problemlos selbst ins Körperinnere eingebaut werden können. Der lange noch nicht beendete Siegeszug der Motore hatte seinen Schwerpunkt bis zum Zweiten Weltkrieg primär in der Produktion, danach begann erst langsam, dann immer schneller das Eindringen von Motoren in die Lebenswelt und dann in das Leben selbst.

3. „In das Leben selbst“ meint zweierlei: Zum einen wurde der Einsatz von Tieren zur Verrichtung von Arbeit schlicht abgeschafft und durch Motore ersetzt, zum anderen ersetzen Motore ebenfalls zunehmend Muskelbewegungen des Menschen. Die muskuläre Haupttätigkeit besteht heute darin,  Knöpfe zu bewegen. Ausdauernde Füße und geschickte Hände haben im Produktionsbereich und im normalen Alltagsvollzug keine Funktion mehr. Nicht umsonst spricht man in diesem Zusammenhang von der sitzenden Gesellschaft. Aber es ist nicht zu bezweifeln, dass  Motore die Möglichkeiten der menschlichen Wahrnehmung nahezu ins Unermessliche gesteigert haben (man denke nur an die vielen Fernsehprogramme), jedoch um den Preis der Stillstellung der Muskeln des Menschen, denn Motore erweitern nicht, sondern ersetzen die Muskeln.
  
4. Man kann  diese Entwicklung – wie  faktisch die gesamte Menschheit zumindest  auf praktischer Ebene denken, fühlen und handeln – als naturwüchsig und damit nicht beeinflussbar halten. Dem widerspreche ich entschieden, denn mit dieser universellen Ersetzung, statt des sinnvollen Einsatzes in begrenzten Feldern,  verschwindet meiner Ansicht nach langfristig  der  Mensch als Mensch. Warum diese radikale Aussage?

5. Das entscheidende Kennzeichen der lebendigen Natur ist das Vorhandensein und der Einsatz  von inneren und äußeren Bewegungen. Wenn Motore inzwischen auch zu einem Selbstzweck geworden sind, so besteht ihre wesentliche Hauptfunktion immer noch darin, die Bewegungen des Menschen zu ersetzen – mit der Folge,  dass der Motor sich bewegt, nicht der Nutzer. Nicht „Ich bin beweglich“, sondern meine von mir benutzten Motore sind beweglich. Je mehr  Motore Bewegungen von mir  übernehmen, desto überflüssiger wird mein realer Leib. Was passiert mit meinem Gehirn, meinem Geist oder gar meinem rein geistigen Ich, wenn dieser Prozess der universellen Motorisierung weiter voranschreitet? Wir haben kein empirisches Wissen darüber, wie ein körperloses Gehirn in einem Retortenglas in einer Nährstofflösung „lebt“, geschweige über ein immaterielle Ich. Wir wissen nur aus  sinnlichen Deprivationsexperimenten, wie kurzfristig die Probanden diesen Zustand  aushalten. Körperlosigkeit muss die Hölle, nicht das Paradies des Menschen sein. 

6. Fazit: Nicht die Technik ist das Fremde und das Andere, sondern die Motoren. Motore ersetzen die Muskeln, die Muskeln konstituieren aber den Menschen. Der Motor bewirkt nicht nur die Trennung des Körpers von der realen Umwelt, sondern  die Trennung des wahrnehmenden Ichs von seinem eigenen Körper. Das ist  der Selbstmord des Ichs, weil dieser enteignende Prozess von ihm selbst initiiert wurde und wird. Aber genau analysiert, ist dieser Selbstmord eine  hypothetische Aussage, denn wir (noch) körperlich existierenden Menschen können absolut nicht wissen, wie es ist, ein Ich ohne Körper zu sein. Es gibt fundierte Vermutungen, dass ein körperloses Ich über kein Selbstbewusstsein mehr verfügt, sondern nur noch funktioniert. Wenn das zutrifft, dann wären die Motore die evolutionären Nachfolger des Menschen.  

Zusatz: Es geht hier nicht um die ökologische oder ökonomische Dimension des Motors

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5. Warum der Begriff der Eigenbewegung unverzichtbar ist? -  Das „motorisierte Auge“ ist eine Defizitform


Ich teile die Dinge bzw. Körper  der Welt in anorganische, organische und Artefakte (der Motor ist ein besonderes  Artefakt).  Im Zusammenhang mit der Eigenbewegung sind folgende Prozesse auf und in den Körpern wichtig: 

Der Begriff Eigenbewegung hat aus folgendem Grund bisher nicht die Bedeutung und Verbreitung erlangt, die er haben müsste: Nach  Anson Rabinbach in  "Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne" (2001) haben  die  Pioniere der Theorie der  Krafterhaltung (hier insbesondere Hermann von Helmholtz 1821 – 1894) einen einheitlichen Kraftbegriff herausgearbeitet, so dass jede Energieform in eine andere verwandelt werden kann, denn die verschiedenen Kraftformen  sind  Manifestationen einer einzigen Kraft. Im Rahmen dieses einheitlichen Kraft- und Bewegungsbildes sehen selbst die Biologie und Medizin  keinen Grund, den Bewegungsbegriff zu differenzieren.  Meines Wissens nach war es erst Ivan Illich (1980),  der mit der Unterscheidung von metabolischer und exogener Energie die Notwendigkeit legitimierte, von zwei verschiedenen Qualitäten der  Bewegung zu sprechen, die dann von einigen Autoren, so von Niemann (1996) und auch von mir (Maaßen, 2006) in Eigenbewegung (Lebewesen) und Fremdbewegung (Motore) differenziert wurde. 

Da insbesondere in den letzten Jahrzehnten motorenbetriebene Maschinen nicht nur umfassend  in der Produktion eingesetzt werden, sondern auch massiv das Alltagsleben bestimmen, ergibt sich  zwangsläufig die Aufgabe, zwischen beiden Bewegungsformen zu unterscheiden, um so den Zugang zu notwendigen und alternativen  Handlungsmöglichkeiten zu öffnen.  Die folgende begriffliche Unterscheidung von Eigenbewegung und Fremdbewegung beruht auf folgende Überlegungen:

1.    Für alle Körper gilt: Von außen wirken auf sie Massenanziehungskräfte, in ihnen  wirken Verschleißprozesse (=  Entropie) und sie haben Wirkungen auf ihre Umwelt.    

2.    Im Inneren von Lebewesen und Motoren wird potentielle Energie, z. B. in Form von Nahrungsmitteln oder Benzin, gelagert, die auf  einen Impuls hin freigesetzt und in Bewegung überführt wird: Sie führen  Eigenbewegungen  durch.  Aus dieser Perspektive  gesehen sind beide in ihrer Bewegungsfähigkeit und Realisation   autonom.  Zwischen beiden besteht in dieser Hinsicht kein grundsätzlicher Unterschied.
 
3.    Aber einer anderen  Unterschied ist wesentlich: Motorbewegungen haben auf ihren „Motorkörper“ außer dem oben genannten Verschleiß keine Wirkungen, während menschliche Bewegungen (und die anderer Lebewesen) neben dem Körperverschleiß substantielle Veränderungen auf Körper, Geist und Seele in Form von einzigartigen Aufbauprozessen (= negative Entropie) wie   Muskeln, Willen und Ichidentität stärken und sinnliche Dingerfahrungen vermehren zur Folge haben.

4.    Die Entscheidung für die Realisierung einer motorisierten oder menschlichen Bewegung liegt grundsätzlich im (!) menschlichen Subjekt, während die Bewegung selbst dann ein rein physisch/physiologischer Vorgang ist, der ständig durch neue Entscheidungen in seinem Verlauf und Intensität beeinflusst werden kann.

5.    Wer seine Eigenbewegung auf Motore überträgt, verhindert Aufbauprozesse  und verzichtet auf bestimmte Wirkungen auf die jeweilige Außenwelt. Ein Beispiel für innere und äußere Wirkungen, die gleichzeitig stattfinden:  Wenn ich tanze, verbessere ich  meine körperlichen und mentalen Fähigkeiten (Innenwirkung) und erfreue gleichzeitig  meine Tanzpartnerin (Außenwirkung).

6.    Menschen, die ihre Eigenbewegung den Motoren überlassen, werden faktisch selbst zu   Motoren, die wie  mit einem Filmapparat ausgestattet sind. Man könnte auch von „motorisierten Augen“ sprechen. Diese  bewegungslose Lebensform genügt vielen Menschen offensichtlich.

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6. Banken und Gesellschaft

In einem Kommentar der FAZ wird analysiert: Seit den siebziger Jahren steigen in Deutschland die Ausgaben des Staates schneller als die Einnahmen (z. B. im Gegensatz zur Schweiz). Durch das Öffnen aller Geldschleusen erzeugte man Wachstum aber gleichzeitig trieben sie  durch niedrige  Zinsen und hohe Inflation Staaten, Unternehmen und Privatleute in die Verschuldung. In einer Welt mit zu viel und zu billigem Geld erhöhen alle ihr Risiko. Es entstehen Preisblasen an Vermögensmärkten, bis die Spekulation am Aktien-, Kapital- oder Häusermarkt platzt. Am großen Rad des billigen Geldes drehten alle mit.  Das ist allerdings„nur“ eine von zumindest zwei  Dimensionen. Die aus meiner Sicht entscheidende ökologische Dimension wird überall, übrigens auch von den Grünen, konsequent ausgeblendet:  Die bisher immer größeren Preisblasen realisieren  sich  in Infrastrukturmaßnahmen bis zum privaten Konsum. Das reicht von dem Bau von allgemeinen Krankenhäuser, Konzertsälen, Autobahnen bis hin zu privaten Häusern, Flugreisen und Anzügen. Wobei jeder ausgegebene Euro  zumindest am Ende der Kette   zu geformter Materie und Energie wird, egal, ob Endprodukt oder Mittel. Das dafür notwendige  Quantum von Materie und Energie entspricht genau der? der ökologischen Belastung und Transformation der Natur. Wenn das stimmt, dann wäre Schuldenabbau gleichzeitig eine  genuin ökologische Maßnahme. Aus dieser Logik ergibt sich übrigens:  Die Begründung der Gewerkschaftler, dass massive Lohnzuwächse die Binnennachfrage stärke, stimmt auf dem ersten Blick, auf dem zweiten ist es ein Münchhausen-Trick, sich an seinem eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Warum: Die Lohnzuwächse müssen bezahlt werden, wenn kein reales Äquivalent vorhanden ist, wird eben „in die Blase gepustet“.

Mir geht es aufzuzeigen, dass Ökonomie und Ökologie zwei Seiten desselben Prozesses sind. Ein Wissen, über dass weder bürgerliche noch marxistische Ökonomen und Politiker vor 1970 verfügten und erst durch die danach einsetzende Ökologiebewegung teilweise ins öffentliche Bewusstsein drang und jetzt wieder im Nowhere verschwunden ist bzw. verdrängt wurde.  

 

7. Die gute und die schlechte Seite der Moderne

Jeder Kaufakt von Waren und Dienstleistungen ist auch ein politischer, denn er hat Folgen auf Ökologie und auf die Gesellschaft einschließlich der sozialen und baulichen Strukturen. Die Summe aller dieser Kaufakte auf globaler Ebene hat inzwischen  Größen und Qualitäten angenommen, die ökologisch absolut unverträglich sind:  Die Lebensgrundlagen aller Lebewesen, letztlich auch die das Menschen, sind bereits zerstört oder stehen  vor ihrer Vernichtung. Diese Folgen sind natürlich nicht intendiert, sondern Nebenfolgen eines Handelns, das im Kleide der Normalität daher kommen.
Allgemeiner formuliert: Inhumane Handlungen haben in der Geschichte  in der Regel  verschiedene Quellen:  Die einzigartigen Verbrechen Deutschlands während des Nationalsozialismus oder Gräueltaten während der Stauferherrschaft im Mittelalter (darüber lese ich gerade), sind für mich Beleg dafür, dass der demokratische Rechtsstaat die große, nicht zu kritisierende  Errungenschaft der Moderne ist, was natürlich nicht eine Kritik bestimmter sozialer Prozesse und Zustände ausschließt. Fundamental verändert werden müssen allerdings   Konsums und Umfang und Weise der Produktion, weil sie unmittelbar Ursache der oben genannten ökologische Krise ist.  Wir müssen unsere Leben, unsere Zivilisation,  nachhaltig organisieren, d. h. Welt nicht für unsere Zwecke vollkommen funktionalisieren, den Akzent von materiellen Werten mehr auf geistige und soziale Werte legen. Das sagt sich leicht, aber dieser die Not wendende Umbau ist eine riesige Aufgabe, die von der Größe mit der der Industrialisierung vergleichbar ist.  Das wird man spätestens dann bemerken, wenn  abstrakten Aussagen in konkretes Handeln überführt werden. So z. B. als kleiner Fang:  im Urlaub auf das Auto verzichten.  Mein Fazit: Die Moderne ist politisch hervorragend, sozial verbesserungsfähig und ökologisch eine Katastrophe.  
Es geht primär um eine andere Zivilisation, nicht primär um eine andere Kultur.

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8 .Eigenbewegung (Anthropologie) 

In der Anthropologie, Kognitionswissenschaft und Physiotherapie wird als Eigenbewegung eine aktive Veränderung der eigenen räumlichen Position (oder der Position eines Wahrnehmungsorgans) bezeichnet, die für die Umwelt- und Selbstwahrnehmung von entscheidender Bedeutung ist. Die Eigenbewegung und die ausgeblendete jeweilige Umwelt  bilden eine unaufhebbare Einheit, beide sind gleichwertig. Die  einseitige Funktionalisierung der Eigenbewegung auf körperliche und mentale Stärkung entspricht nicht ihren Möglichkeiten. Die Eigenbewegung  entfaltet  ihren Wert und ihr Potenzial erst in sinnen- und sinnvollen natürlichen, kulturellen und sozialen Umwelten. Sie stärkt und schont gleichzeitig diese Umwelten, so dass sie auch als eine ökologische und ökonomisch-politische Kategorie aufgefasst werden kann.   
Andere Bedeutungen des Ausdrucks Eigenbewegung finden sich in der Physik, der Technik und im Recht der privaten Unfallversicherung.

Inhaltsverzeichnis
•    1 Bewegung und Eigenbewegung in der Physik und Astronomie
•    2 Eigenbewegungen von Lebewesen
•    3 Eigenbewegungen des Menschen und Fremdbewegungen durch Motore
•    4 Eigenbewegung des Menschen als Erlebnis oder als Beschreibung
•    5 Physiologie der Eigenbewegung und ihre Funktion im Erkenntnisprozess
•    6 Bedeutung der Energie im Vermittlungsprozess
•    7 Die Einheit von Eigenbewegung und Weg
•    8 Eigenbewegung und Sport
•    9 Eigenbewegung und Gesundheit
•    10 Geschichte der Eigenbewegung
•    11 Ausblick: Eigenbewegung als ökologische, soziale und ökonomisch-politische Kategorie
•    12 Literatur
•    13 Weblinks
•    14 Belege


Bewegung und Eigenbewegung in der Physik und Astronomie

Das von Newton aufgestellte Trägheitsgesetz besagt, dass jeder Körper im Zustand der Ruhe oder in der geradlinigen, gleichförmigen Bewegung beharrt, wenn nicht eine Kraft auf ihn einwirkt.  Definiert man Ruhe als einen Spezialfall der Bewegung mit der Geschwindigkeit Null, dann befinden sich  alle Körper in Bewegung. In der Astronomie kennt man zusätzlich den Begriff der Eigenbewegung.  Wilhelm Herschel  untersuchte 1783 vierzehn Sterne, wovon sich elf auf einen gemeinsamen Punkt  hin bewegen. Den drei Sternen, deren Bewegung nicht auf diesen Punkt ausgerichtet war, schrieb er eine echte eigene Bewegung zu.
Veränderungen des jeweiligen  Bewegungs- bzw. Ruhezustands   werden  durch einwirkende Kräfte, die  immer verkörpert sind, verursacht. Diese  Gegenkräfte haben ihren Ursprung in atomaren bis kosmischen Kraftfeldern.
Der  Begriff „Energie“ konkretisiert den allgemeinen, ja metaphysischen  Begriff „Kraft“ und macht damit  Kraft anschaulicher und berechenbar. Der Begriff Kraft erscheint erstmals wohl um 1800. Oft werden beide Begriffe synonym  verwendet

Eigenbewegungen von Lebewesen
Alle Dinge der Welt werden bewegt. So sind auch Lebewesen dieser allgemein wirkenden Bewegung unterworfen, sind aber auch in der Lage, zusätzliche Bewegungen durchzuführen, die außerhalb der von der Physik beschriebenen gesetzmäßigen Bewegungen liegen.  Diese "zusätzlichen“ Bewegungen des Menschen sind von der  Bedeutung und der Sache nach  Eigenbewegungen, werden in der Literatur aber unter Benennungen  Wandern, Sport,  Bewegung,  Langsamkeit  Flüchtigkeit, Technikkritik, verinselte Kindheit, Nachhaltigkeit, sanfter Tourismus, Tod der Stadt, Verschwinden der Wirklichkeit, veränderte Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstrukturen, Regionalismus, Kritik des Autos,  Entschleunigung, Cittaslow usw. isoliert und spezifisch definiert behandelt und dargestellt. Folgende Ausführungen führen die bereits bestehenden Theorieelemente zu einer vereinheitlichenden Theorie der Eigenbewegung  zusammen.
Ein Unterschied zwischen (allgemeinen) Bewegungen und lebendigen Eigenbewegungen besteht darin, dass bei ersteren eine Gegenkraft den jeweiligen Körper grundsätzlich immer von Außen angreift – entweder an bestimmten Stellen oder an der gesamten Oberfläche -, während bei Lebewesen der „Angriffspunkt“ der Kraft bzw. Energie im Innern wirksam ist. Eigenbewegungen bedürfen zusätzlicher Energien in Form von Nahrung, um ihre „eigenen“ Bewegungen aufrecht zu erhalten. Man unterscheidet äußere, körperlich-muskuläre von innerer, geistig-neuronaler Eigenbewegung. Die handlungstheoretische Definition „Denken ist internalisiertes Tun“ ist ein Ausdruck für diese Differenzierung.  Im Fortgang vorliegender Ausführung wird wie im alltäglichen Sprachgebrauch unter Eigenbewegung verkürzt die körperlich-muskuläre Bewegung verstanden,  die Ortsveränderung ermöglicht.  Freiheit, Geschichtlichkeit, Sprache und Eigenbewegung machen nach Eugen Fink  die vier Existenzialien des Menschen aus.
Eigenbewegungen des Menschen und Fremdbewegungen durch Motore
Der Begriff Eigenbewegung evoziert die Frage nach seinem Gegenpol, der Fremdbewegung. Fremdbewegungen sind technisch erzeugte statische oder mobile Bewegungen, die in den von Menschen geschaffenen Motoren und deren Maschinen materialisiert bzw. verkörpert sind. Da sie Eigenbewegungen von Menschen ersetzen, macht es aus dieser Perspektive Sinn, die Motorenbewegungen als Fremdbewegung zu bezeichnen. Zwischen Eigenbewegung und Fremdbewegung besteht ein wesentlich existenzieller Unterschied: Lebewesen haben im Energieeinsatz in der Evolution einen „Umweg“ eingeschlagen, indem sie die in der aufgenommenen Nahrung vorhandene Energie in körpereigene umwandeln (Assimilation), diese speichern, um bei Bedarf mit dieser Energie ihre Bewegungen autonom zu steuern. Das ist die materielle Basis für die Freiheitsräume des Menschen. Aber unzweifelhaft bestehen zwischen den Eigenbewegungen von Lebewesen und den Fremdbewegungen durch Motore strukturelle und funktionelle Ähnlichkeiten, da Technik nicht das Andere des Menschen ist, sondern zu seinen Wesensmerkmalen gehört: Menschliches Handeln besteht aus technischer Kausalität und basiert auf Freiheit. Genau diese interne Kausalität hat der Mensch in Maschinen und Motoren veräußert – oft nach dem Modell von Lebewesen. Und umgekehrt den Menschen nach dem Modell Maschine.   Aber nicht nur die Erfindung und Herstellung, sondern die manuelle Steuerung bzw. entsprechende Programme sind immer menschlichen Ursprungs. Es ist begründet, die Technik bzw. ihre Erzeugnisse als die zweite Natur des Menschen  zu bezeichnen. Aber im Gegensatz zu seiner ersten Natur ist die zweite Natur eine vom Menschen selbst geschaffene und damit unter Umständen auch veränderbar, ja rückgängig zu machen z. b. durch Abschaffung oder Nichtindienstnahme.
Eigenbewegung des Menschen als Erlebnis oder als Beschreibung
Man kann die Eigenbewegungen des Menschen unterscheiden in innere Bewegungen des Körpers, um überhaupt zu leben, in Bewegungen der Hand, um Umweltbedingungen zu verändern und Bewegungen mit dem Fuß, um Ortsveränderungen durchzuführen.
Die Eigenbewegungen aktivieren und umfassen immer den ganzen Menschen: seine äußeren Bewegungen wie die von Organen, Händen und Füße und seine inneren Bewegungen wie Bewusstsein, Wahrnehmung, Denken, Kognition, Gefühle, Wollen, Werte, Subjektivität und die Fähigkeit zur Selbstreflexion.
Die äußeren Bewegungen beginnen mit Kopfbewegungen und Bewegungen der Gliedmaßen, wobei zumindest Greif- und Saugreflex  eine angeborene Struktur besitzen. Später differenzieren sich diese Bewegungen zu spezifischen Mustern in den verschiedenen Berufen, Künsten, Freizeitaktivitäten und Alltagsverrichtungen aus.
Alle diese Prozesse haben jeweils eine subjektive und objektive Seinsweise von denkbar höchster Verschiedenheit. Die subjektive Seinsweise heißt hier: Die jeweilige Eigenbewegung erscheint im Bewusstsein eines Ichs in der ersten Person Singular und wird ausschließlich nur hier erlebt. Dieses phänomenale Bewusstsein ist eines der zentralen Probleme der Philosophie des Geistes und wird dort unter dem Begriff Qualia behandelt.  Man versteht darunter den subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes. Das Erleben von Quantität und Qualität der eigenen Bewegungen ermöglicht erst das, was man als Identität bezeichnet. Dieses Erleben macht den eigentlichen und nicht ersetzbaren Wert der Eigenbewegung aus.
Erlebnisse kann man aber auch von außen mündlich oder schriftlich beschreiben, indem man sie objektiviert. Das kann auf zweierlei Weise geschehen: Einmal kann der Akteur sein Erlebnis selbst beschreiben, indem er sich zum quasi-objektiven Beobachter seines Erlebnisses macht. Oder eine Eigenbewegung wird von einem externen Beobachter wahrgenommen und beschrieben. In diesem Fall liegt vollständige Objektivität vor. Zudem entsteht im externen Beobachter – und das ist oft ein nicht wahrgenommenes Phänomen – parallel ein inneres Erlebnis, gewissermaßen eine sekundäre Qualia, sein Erleben von Eigenbewegungen eines anderen Menschen. Es entsteht Täuschung, wenn man sich, wie zum Beispiel beim Fernsehen, diese Differenz nicht bewusst macht.
Physiologie der Eigenbewegung und ihre Funktion im Erkenntnisprozess
Für die Durchführung von Eigenbewegung sind Muskel- und Nervengewebe neben den Deck- und Bindegeweben konstituierend für die Durchführung von Eigenbewegung. Die Nerven sind basal in vegetativen Prozessen, in Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühlen, Willen sowie in Leistungen des Verstandes und der Vernunft wirksam. Muskeln ermöglichen, Objekte von verschiedenen Standpunkten aus wahrzunehmen und Ortsveränderungen sowie Handlungen durchzuführen. Darüber hinaus sind sie substanziell in den Sinnesorganen tätig und beeinflussen bzw. „färben“ zumindest alle Nerventätigkeiten. Die Kognition hat ihren Ursprung und Schwerpunkt im Nervensystem. Dagegen haben Werte und Gefühle ihren Ursprung in den Muskeln und nicht in den Nerven - Nerven machen sie nur bewusst. Dass es Übergänge von Sein zum Bewusstsein, von Physiologie und Psychologie gibt, ist unbestritten. Der Mensch (und alle Lebewesen) ist auf eine gelingende Zusammenarbeit beider Systeme existenziell angewiesen - zumindest auf minimaler Ebene: Selbst der Fußballspieler (hier Betonung auf Muskeln) muss wissen, welche Funktion ein Tor hat und wo es steht, selbst der Philosoph (hier Betonung auf Nerven) muss zumindest seine Augen bewegen und die Seiten des Buches umschlagen bzw. die Knöpfe seines Computers bedienen.
In welchem Verhältnis stehen das Nerven- und Muskelsystem physiologisch zueinander? Auf der Ebene der Zellen lassen sich beide Systeme eindeutig unterscheiden, denn sie sind durch einen Hiatus, d. h. durch einen unüberwindbaren Graben voneinander getrennt. Zwischen ihnen gibt es, von Reflexen abgesehen, keine substanzielle Einheit. Beide Systeme befinden sich nicht in einem naturwüchsigen, prästabilisierten Gleichgewicht.
Jakob von Uexküll mit dem Funktionskreis und Viktor von Weizsäcker mit dem Gestaltkreis haben wichtige Einsichten für das Verstehen der funktionalen Einheit von Wahrnehmen und Bewegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegt. Dass zwischen Geist und Körper eine intensive und starke „Zusammenarbeit“ bestehen muss, zeigen auch Forschungsergebnisse der Kognitionspsychologie, Entwicklungspsychologie, Deprivationstheorie und Neurophysiologie, die Arbeiten der Philosophen Schopenhauer  und Nietzsche  sowie der Pädagogen Hugo Kükelhaus und Horst Rumpf und humanistische Psychologen wie Moshé Feldenkrais und Alexander Lowen - um die bekanntesten zu nennen.
Angemerkt werden muss, dass es bis jetzt nicht eindeutig und zweifelsfrei gelungen ist, das Zusammenwirken von Muskel- und Nervensystem, den Übergang von Sein zum Bewusstsein zu beschreiben. Hier gilt immer noch das Wort von Emil Heinrich Du Bois-Reymond „Wir wissen nicht“ (ignoramus), wofür sicherlich auch das Moment der Freiheit eine Ursache ist. Da der Mensch nur über eine residuale Instinktausstattung verfügt, kann und muss er über Lernen beide Systeme stark machen und in ein Gleichgewicht bringen.
Erkenntnistheoretische Systeme, die aus der Aufklärung kommen oder ihr verpflichtet sind, haben große Schwierigkeiten, den sich bewegenden Körper systematisch-konstitutiv zu verorten. In der Einleitung zur transzendentalen Logik schreibt Kant: "Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen; so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontanität des Erkenntnisses, der Verstand"[1].  Sinnlichkeit und Verstand sind also die zwei Quellen der Erkenntnis. Natürlich ist auch hier die Sinnlichkeit an Sinnesorgane, insbesondere an die Augen (und damit auch an den Körper) gebunden, aber es ist eine reduzierte Sinnlichkeit, die, vom Verstand geleitet, dessen Vorgaben in der Außenwelt lediglich bestätigt. Das erkennende Subjekt wird zu einem punktförmigen, fast körperlosen Selbst und der sich bewegende Körper aus erkenntnistheoretischer Perspektive überflüssig. Wegen dieser Einseitigkeit hatten es ganzheitlich-praktische Ansätze in der Erkenntnisvermittlung an Schulen und Hochschulen schwer, angemessen berücksichtigt zu werden.
Ein weiteres Argument für die Position, dass der sich bewegende Körper eine condition humaine im Erkenntnisprozess ist, liefert folgender Hinweis: Nach der Theorie der verkörperten oder situierten Künstlichen Intelligenz scheiterten bisher alle Versuche, autonome künstliche Intelligenzsysteme zu realisieren auch daran, dass diese Systeme über keinen Körper verfügen.  Warum ist das ein Problem? Nur über den sich bewegenden Körper kommen die notwendigen und unverzichtbaren Werte in das kognitive System hinein. Diese Werte entscheiden über Setzungen, Selektionen, Präferenzen aus der unendlichen Zahl aller kombinatorischen Möglichkeiten. So ist selbst die Setzung, die Logik zur Richtschnur von wahren und falschen Verknüpfungen zu machen, eine wertende. Ginge man nicht von einem Leib aus, müsste man auf idealistische Konzepte zurückgreifen - was ja im kognitivistischen Wissenschaftsverständnis nicht zulässig wäre - oder emergenzphilosophische Konstrukte heranziehen. Als reale Quelle und als Erklärung bleibt dann nur der sich bewegende Körper übrig. Das kinästhetische System ist unverzichtbar für die Weltaneignung nicht nur in der Kindheitsphase (wie es die Entwicklungspsychologie mit Recht lehrt), sondern in allen Lebensphasen. Mit der Reduzierung kinästhetischer Aktivitäten werden gleichzeitig Ding- und Raumerfahrungen reduziert und damit auch Sinn und Bedeutungen (bekanntlich besteht eine enge Beziehung zwischen Sinne und Sinn).
Bedeutung der Energie im Vermittlungsprozess
Die Energieflüsse bewirken, dass aus Strukturen Prozesse, dass aus Muskeln Bewegungen werden. Sie schaffen im Gehirn Synapsen in Form von Bahnungen, durch die äußere und innere Bewegungen geleitet werden.  Als Beispiel möge der Greifreflex dienen, der über das vorbegriffliche Greifen mit dem begleitenden Spüren und Fühlen zum verbalen Begriff mit dem begleitenden Denken, Ordnen und Sprechen führt. Die Bahnungen zerfallen, wenn nichts für ihren Erhalt getan wird. Der Weg der Information aus der Umwelt ins Bewusstsein überquert zwei entscheidende Übergänge, gewissermaßen Brücken: a) die zwischen materieller Umwelt und Muskeln und b) die zwischen Muskeln und Nerven. Die Prozesse am ersten Übergang kann man analog der Prägung beschreiben und erklären: Die Muskeln werden in der körperlichen Auseinandersetzung von der jeweiligen physischen Umwelt im Verhältnis ein-zu-eins geprägt. Steige ich eine Treppe hinauf, wird deren funktionale Form in mir muskulär abgebildet. Beim zweiten Übergang findet keine Prägung, sondern eine Konstruktion statt: An den Muskeln befinden sich der Tastsinn, der innere Bewegungssinn und der Gleichgewichtssinn. Die jeweils muskulär erfahrene Umwelt wird von diesen Sinnen „aufgenommen“ und mit Hilfe zusätzlicher neuronaler Systeme zu Informationen verarbeitet. Inwieweit die muskuläre Prägung und die zusätzlichen Sinneserfahrungen abgebildet, modifiziert oder gar neu konstruiert werden, ist erkenntnistheoretisch nicht eindeutig zu beantworten. Hier findet der bereits angedeutete geheimnisvolle Übergang vom Sein zum Bewusstsein statt. Bei diesen Prozessen handelt es sich aber nicht um eine Einbahntrasse: Die über die Muskeln vermittelte Umwelt wirkt auf das Nervensystem ein wie umgekehrt das innere Bild der Umwelt über das Nerven- und Muskelsystem als Handeln verändernd auf die Umwelt einwirkt. Zumindest am Endpunkt dieses Prozesses ist die Energie nicht mehr neutral, entqualifiziert, homogen, sondern von inneren Anlagen und äußeren Bedingungen geformt und gerichtet: aus körperlicher ist geistige Energie geworden. Deutlicher und verständlicher werden die existenziellen Veränderungen der energetischen Prozesse in der Eigenbewegung, wenn man die in Maschinen und Motoren wirkenden Energieprozesse analysiert. Die Energie, die das Auto bewegt, fließt an den Fahrenden vorbei, berührt und verändert sie nicht, während durch Eigenbewegung ein Prozess in Gang gesetzt wird, der den Menschen in seiner Ganzheit erfasst. Erst in ihr und aus ihr konstituieren sich Körper, Geist und Seele, ja existenzielles Selbstbewusstsein. Das ist die entscheidende Differenz zwischen Eigen- und Fremdbewegung.
Die Einheit von Eigenbewegung und Weg
Die isolierte Bewegung eines Körpers ist eine Abstraktion, die es so in der Realität nicht gibt. Eigenbewegung ist ein hochkomplexer und ganzheitlicher Vorgang, an dem nicht nur Körper, Seele und Geist, sondern auch natürliche, soziale und kulturelle Umwelten als Gegenwart, Erinnerung und Hoffnung beteiligt sind. In diesem Prozess beeinflussen und verändern die beteiligten Funktionen und Dimensionen sich gegenseitig.
In der konkreten Bewegung verengt sich der Raum zu einem Weg.  Dessen Ausdehnung beschränkt sich nicht auf seinen materiellen Untergrund. Der Weg schließt ein, was auf und an ihm, wobei das »an« weit in den Tiefenraum gehen kann bis hin zum Horizont. Er umfasst Steigungen, Untergründe, Menschen, Autos, Gebäude, Tiere, Pflanzen, Regen, Sonne, Wind, Gerüche, Stille, Geräusche und spezifische Atmosphären wie eine Stimmung am frühen Sonntagmorgen in der Allee, also Phänomene, die man als halbobjektiv auffassen kann. Und an diesen Dingen »kleben« Bedeutungen, also individuelle und kollektive Geschichte, Assoziationen, Werte, Wünsche usw. In metaphysische Dimensionen gelangt man, wenn man materiellen Untergrund und Nichtmaterielles weiter hinterfragt. Der Weg ist also nicht linear, nicht zweidimensional, sondern zumindest dreidimensional, ja mehrdimensional, wenn man Zeit, Leben und Metaphysik hinzunimmt. Wege sind sehr verschieden. Das Spektrum reicht von Trampelpfaden bis zu Autobahnen, von bestehenden zu neu zu bahnenden, von bekannten zu unbekannten, von reizvollen zu reizarmen, von schwierigen zu leicht begehbaren, von aufsteigenden zu absteigenden Wegen, mit und ohne Menschen, mit verschiedenen Natur-, Kultur- und Sozialanteilen. Wege sind Projektionsfläche von funktionalen, ästhetischen und sozialen Wünschen und Zielsetzungen.
Eigenbewegung und Sport
Das große Anregungspotenzial einer vielfältigen Umwelt gilt es in der Eigenbewegung zu nutzen. Sportliche Tätigkeiten tun dies nicht! Die Beziehung des Sports zur Umwelt kann man gut mit den Begriffen Assimilation und Akkommodation aus der Theorie Piagets, die den Geist aus dem Handeln ableitet, erklären.  Akkommodation besteht in der Schaffung neuer Begriffe, Assimilation in der Auffüllung dieser Begriffe. Wenn ein Kleinkind für alle größeren vierbeinigen Haustiere den Begriff »Hund« benutzt, wird es eines Tages gezwungen sein, einen zweiten Begriff »Katze« aufzubauen (Akkommodation) und jeweils mit verschiedenen Katzen und Hunden zu füllen (Assimilation). Nach diesem Prinzip verläuft der gesamte Bildungsprozess: Neue Begriffe bilden und diese mit Inhalten füllen, wobei es auch hier wieder auf ein Gleichgewicht zwischen beiden Prozessen ankommt.
Der Sport hat zur Umwelt ein Verhältnis der Assimilation, das heißt, die Umwelt muss bekannt und berechenbar sein, so dass sie mühelos in die Bewegungsabläufe integriert werden kann. Sonderformen des Sports wie Querfeldeinrennen, Wildwasserfahrten, Bergtouren mit Mountain-Bikes usw. müssen eine sehr differenzierte Umwelt berücksichtigen und sich ihr anpassen (Akkommodation). Aber diese Anpassung gilt nicht dem Kennenlernen der Umwelt als Selbst- und Bildungszweck, sondern dient der Weiterentwicklung der körperlichen Fähigkeiten, so dass man auch von einer sekundären Assimilation sprechen kann. Selbst sinnen- und sinnreiche Umwelten werden im Sport zu subjektiv monotonen Umwelten. In der Regel sind sie es auch real wie z. B. Sportarenen. Dieser grundsätzliche Einwand gilt, was die soziale Umwelt betrifft, nicht für den Mannschaftssport, der ein idealer Ort für soziales Lernen ist.
Eigenbewegung und Gesundheit
Die vollkommene Ruhe, die vollkommene Bewegungslosigkeit ist der Tod, aber auch die zunehmende Ersetzung der Eigenbewegung durch technische Bewegungen wäre aus der Perspektive Gesundheit und Subjektivität Verlust: Eigenbewegung ist ein Existenzial wie Sprache und Freiheit. In und durch die Eigenbewegung hat der Mensch einerseits die Möglichkeit des direkten Zugangs zur Welt und zu sich selbst, andererseits wie ein Handwerker aber auch Veränderungen durchzuführen.
Insbesondere neuere Befunde aus der Onkologie, Orthopädie, Psychiatrie, Kardiologie und Demenzforschung haben zu einer positiven Einstellung gegenüber der Eigenbewegung geführt und zu einer Abkehr von Therapien auf Basis „Ruhe“. Das gilt auch für die Vorbeugung: Eigenbewegung hat positive Auswirkungen auf Knochen, Haut, Muskeln, Harnwege, Lungen, Herz-Kreislauf-System, Verdauung, Sexualität und Schmerzempfindungen. Die Risiken bei Diabetis, Krebs, Bluthochdruck verringern sich, Gedächtnisschwund und Alterungsprozesse verlangsamen sich. Die Beziehung zwischen Bewegungsmangel und Übergewichtigkeit ist gut erforscht. Die positiven Auswirkungen der Eigenbewegung auf die seelisch-geistige Gesundheit sind vielfältig: Sie fördert Stressabbau, wirkt gegen Melancholie, Depressionen, Aufmerksamkeitsdefizitstörungen. Durch den direkten Kontakt zu sich selbst werden Identität und Selbstbewusstsein beeinflusst sowie die Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten gefördert. Für den Aufbau von Erkenntnisvoraussetzungen, Intelligenzentwicklung und primärem Erfahrungswissen sind Eigenbewegungen konstitutiv.
Geschichte der Eigenbewegung
Am Anfang steht die Eigenbewegung: Nichtmenschliche Lebewesen führen sie ausschließlich durch, außer wenn sie transportiert werden. In der Geschichte der Menschheit gibt es zu Beginn und über eine lange Periode hinweg allein die Eigenbewegung. Erst mit der Domestikation von Tieren, insbesondere des Pferdes, der Entdeckung und Nutzung der Wind- und Wasserkraft und der Erfindung von komplizierten Werkzeugen gelang es, teilweise die Eigenbewegung bei Herstellungsprozessen und Ortsveränderungen durch mechanische Apparaturen zu ersetzen, die allerdings noch direkt, d. h. vor Ort von natürlichen Energiequellen wie Wind, Wasser, Tier oder Mensch gespeist werden mussten: Mit der Erfindung der Dampfmaschine von James Watt im Jahre 1769 löste sich die starre Verknüpfung von zu betreibender Maschine und Energieträger. Die notwendige Energie konnte nun an jedem Ort und zu jeder Zeit freigesetzt und eingesetzt werden.
Im Fortgang dieser Entwicklung wurden alle Prozesse, die algorithmisch verlaufen, zunehmend von motorenangetriebenen Maschinen übernommen. Die Geschichte der Eigenbewegung ist eine Geschichte der Verdrängung durch die Technik. Exemplarisch dazu drei Befunde: Während vor ca. 10 000 Jahren unsere Vorfahren bis zu vierzig Kilometer täglich laufen mussten, um den Energiebedarf der Sippe zu decken, läuft der Bundesbürger heute außerhalb von Häusern täglich durchschnittlich 650 Meter. Jährlich werden allein in der Bundesrepublik acht Milliarden Fahrten unter einem Kilometer mit dem Auto durchgeführt. Die gegenwärtige Gesellschaft wird zunehmend zu einer sitzenden Gesellschaft. Diese Entwicklung besteht aus einem Bündel von Ursachen, die sich teilweise ergänzen und überschneiden: Bequemlichkeit als die zumeist unbewusste Antwort auf die körperlichen Mühen und Anstrengungen des Großteils einer Gesellschaft in der Vergangenheit (im klassischen Athen waren nur ca. fünfzehn Prozent der Bevölkerung freie Bürger); die Befreiung von harter körperlicher und geistig stupider Arbeit durch technische Erfindungen, die teilweise Selbstzweck wurden; Technik als Ware mit den entsprechenden Verkaufsstrategien; die real bestehenden Effizienzvorteile in bestimmten Bereichen wie Schnelligkeit, Ausdauer und quantitativer Output; die Technik wird richtig als eine Erweiterung menschlicher Fähigkeiten bestimmt, aber fälschlicherweise werden die realen technischen Produkte einem Kritiktabu unterworfen. Eine Kritik, dass durch die Technik der Mensch reduziert und gefährdet werden könnte, ist innerhalb dieses Denkrahmens nicht möglich.
Trotz vieler positiver Errungenschaften, wird es zunehmend Aufgabe sein, den Anteil an Fremdbewegung zu begrenzen, um der subjekterzeugenden und –stabilsierenden Eigenbewegung notwendigen Raum und Zeit sowie Eigenwert zu geben.
Ausblick: Eigenbewegung als ökologische, soziale und ökonomisch-politische Kategorie
Grundsätzlich verbrauchen Eigenbewegungen neben dem normalen Stoffwechsel keine zusätzlichen Energien, zudem sind sie nicht materialaufwendig. Den Anteil der Eigenbewegung insbesondere bei Ortsveränderungen zu vergrößern, ist effektiver Klimaschutz.  Eigenbewegungen liefern ebenfalls einen Beitrag zur Reduzierung internationaler und nationaler politischer Probleme, denn der ständig größer werdende Bedarf an Energie weltweit erzwingt imperiale Interventionen, zunehmend riskantere Formen der Energiegewinnung wie Atomstrom und Ölbohrungen in Tiefseebereichen und zukünftige Subventionen für billige Energie, um drohende Aufstände zu verhindern.
Die Auswirkungen von Eigenbewegungen auf Landschaft sowie auf Städte sind schonend. Ein altes Stadtviertel kann problemlos den Besuch vieler Menschen verkraften. Ein Mehr an Eigenbewegung ist effektiver Umweltschutz. Durch ihre konkrete Leiblichkeit ermöglichen und fördern Eigenbewegungen spontan entstehende soziale Gebilde und face-to-face-Öffentlichkeit.
Die Förderung der Eigenbewegung ist eine zentrale politische Aufgabe mit ökonomischen Implikationen. Die bereits formulierten und praktizierten, aber isolierten Alternativen in der Medizin, in Sport- und Freizeitwissenschaften, in Kommunikation und Interaktion, in Stadt- und Siedlungsentwicklung, in Umwelt- und Klimaschutz, in der neuen Wanderbewegung und steady-state-economy haben als gemeinsamen Kern die Eigenbewegung - oft selbst noch unbegriffen.
Literatur
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•    Benner, D.: Allgemeine Pädagogik, 2. verbesserte Aufl. Weinheim 1991, ISBN
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•    Dijksterhuis, E. J.: Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin 1983, ISBN 3-540-02003-9
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Weblinks
•    Über den Zusammenhang von Bewegung und Wahrnehmung bei Jakob von Uexküll Universität Hannover, Erziehungswissenschaften
•    Promenadologie - Spaziergangswissenschaft
•    Wandern
Belege
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2. Aebli, H.: Denken: Das Ordnen des Tuns. Bd I: Kognitive Aspekte der Handlungstheorie, 2. Aufl. Stuttgart 1993, ISBN 3-608-91664-4, S. 13 – 18;  Leroi-Gourhan, A.: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a. M. 1988, ISBN 3-518-28300-6, S. 42 - 83
3. Fink, E.: Grundphänomene des menschlichen Daseins, 2. Aufl. Freiburg 1995, ISBN-13: 978-3495473993; Benner, D.: Allgemeine Pädagogik, 2. verbesserte Aufl. Weinheim 1991, ISBN 3-7799-0340-7, S. 293 (Fußnote 6)
4. Bammé, A. u.a.: Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen. Grundrisse einer sozialen Beziehung, Reinbek 1983, ISBN 3 499 17698 x, S. 52 – 61 und 155 - 173; Rabinbach, A.: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001, ISBN 3-85132-270-3, S. 31 - 58
5. Städtler, M.: Selbstbestimmung zwischen Natur und Technik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie,  58 Jg., 2010, Heft 2, Berlin (Akademie Verlag), S. 257
6. Ayres, A. J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung, 2. Aufl. Berlin 1992, ISBN 3-540-55809-8, S. 21; Zimmer, R.: Handbuch der Bewegungserziehung. Didaktisch-methodische Grundlagen und Ideen für die Praxis, 9. Aufl.  Freiburg i. Br. 1993, ISBN 3451-26906-6, S. 68 - 76
7. Metzinger, T. (Hrsg): Bewußtsein.  Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, 2. Aufl. Paderborn 1996, ISBN 3-506-75513-7, S. 21 - 27
8. Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd.I , 2. Aufl. Stuttgart 1968, ISBN 3-534-18263-4, S. 151 - 156
9. Nietzsche, Fr.: Also sprach Zarathustra, 2. durchgesehene Aufl.,  München 1988, ISBN 3-423-59065-3, S. 40
10. Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1966, ISBN 978-3-15-006461-0, S. 120
11. Dieser Hinweis geht auf eine schriftliche Mitteilung von Manuela Lenzen, Wissenschaftsredakteurin in der FAZ zurück, die zu dieser Problematik veröffentlicht hat.
12. Spitzer, M.: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg 2002, ISBN 3-8274-1396-6, S. 65
13. Bollnow, O. F.: Mensch und Raum, 8. Aufl.  Stuttgart 1997, ISBN 3-17-014585-1, S. 96 – 99; Merleau-Ponty, M.: Phänomenologie der Wahrnehmung, 6. Aufl. Berlin 1974 ISBN 978-3-11-006884-9, S. 91 - 96
14. Piaget, J.: Psychologie der Intelligenz, 2.  Aufl. Zürich 1947, S. 140 - 175; Piaget, J.: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1973, ISBN 3-518-27606-9, S. 96 - 104
15. Blech, J.: Bewegung. Die Kraft, die Krankheiten besiegt und das Leben verlängert, Frankfurt a. M. 2007, ISBN 978-3-10-004414-3. Eine fundierte und gut lesbare Zusammenfassung der Ergebnisse.
16. Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie: Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2008, ISBN 978-3-596-17892-6, S. 34 - 51

 


9. ".....und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge." Einige Vorüberlegungen zum Sich-Bewegen in pädagogischer Absicht

Wenn im Folgenden von Bewegung  gesprochen wird, ist die Eigenbewegung, das Sich-Bewegen gemeint. Wenn  in dieser Arbeit von Körper gesprochen wird, ist der Leib, also der  beseelte Körper gemeint.  Mit dieser zugegebenerweise etwas prosaischen Ausdrucksweise  soll ausgesagt werden, dass der Körper dann Leib ist, wenn Subjekt und Objekt, wenn Geist und Körper identisch sind. Also nur aus der Binnenperspektive entstehen Aussagen von und über den Leib, während die Fremdperspektive nur über Körper zu reden vermag. Die äußerst schwierige und immer noch nicht entschiedene erkenntnistheoretische Frage, was  diese Binnenperspektive ausmache und wie sie sich konstituiert, ob das Subjekt plural oder einheitlich konstituiert,  was das Bewusstsein überhaupt sei, wie sich beide zueinander verhalten, lasse ich hier offen. Der „beseelte“ Körper ist immer ein sich bewegender: Bewegung und  Leib bzw. Körper bilden eine unauflösbare Einheit.

Johann Gottfried Seume (1763 – 1810), der berühmte Spaziergänger nach Syrakus, von dem dieses im Titel aufgeführte Zitat stammt, war kein Naturschwärmer und auch nicht ein von romantisch-ziellosem Fernweh Ergriffener, sondern beschrieb in seinen Reiseberichten die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse der jeweiligen Länder in durchgehender aufklärerisch-kritischer Perspektive. Er wanderte nicht, sondern er ging. Gehen war für Seume die intensivste Form von Wirklichkeitserfahrung (vgl. Kesting, 2001).
Dieses gewichtige Zitat gewinnt an Plausibilität, wenn man es im Kontext liest. Die entscheidende Passage aus dem Reisebuch „Mein Sommer“ lautet:
 
„Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch (von Menschen und der Welt, wäre meine Interpretation; BM) mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen darüber machen nach Belieben; es ist mir  ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Mann (und natürlich auch in der Frau. Nach einigen römischen Autoren  wird übrigens im Gang  (bestimmter) Frauen das Göttliche offenbar, BM)   und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge ....Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht, man sehe sich nur um! Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich um einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt.“

Die Gedanken Seumes sind aktueller denn je, da das Gehen, das ausschließlich auf Eigenenergie beruhende Sich-Fortbewegen, immer häufiger durch Formen des passiven Transports ersetzt wird. Körperliche Betätigungen und Bewegungsaktivitäten in der alltäglichen Lebenswelt sind signifikant geringer geworden. Dass dieser  in der Regel von Wirtschaft und Konsumenten unisono als Fortschritt und Gewinn interpretierte und gelebte Prozess Verluste impliziert, die weit über die gerade noch wahrgenommenen Rückenschmerzen und Gewichtszunahmen hinausgehen, die, wie Seume meinte, die Humanität und damit zentral Pädagogik tangieren, versucht  vorliegender Aufsatz bewusst zu machen.  Es wird dabei  kein Anspruch auf  Systematik oder gar Vollständigkeit erhoben, sondern  auf einige wenige Dimensionen  in Tiefenstrukturen hingewiesen  und für die Pädagogik diskutierbar gemacht - Dimensionen, die meiner Ansicht nach  in der einschlägigen Literatur einschließlich der  von Hans Günther Homfeldt herausgegebenen, nur am Rande oder gar nicht thematisiert werden.  
Inwieweit man  im bereits erreichten Stadium der Entkörperlichung und tendenziellen Bewegungslosigkeit  überhaupt  in der Lage ist, diese Frage angemessen zu begreifen und  umzusetzen, ist  offen. Denn es geht nicht primär um  Sport, Fitnesstraining, Brain-Gym usw.,  sondern um die   Stärkung des sich bewegenden Körpers im Alltag, in alltäglichen Lebenszusammenhängen und auch in und als Lernsituationen. Es geht um den Leib, mit dessen Hilfe man etwas realisiert, über sich selbst und die Welt etwas erfährt und sich aneignet, mit anderen interagiert und kommuniziert.  Hier könnte man sicherlich auch von Kindern lernen. Wenn wir dafür  Möglichkeitsräume  öffnen wollen, dann müssen wir diesen Entkörperungsprozess (ein Stück) aufheben und in neue, fruchtbare Bahnen lenken.

Vielleicht haben  Sie als Leserin oder Leser inzwischen gedacht, dass die Rede  über das Verschwinden des   menschlichen Leibes  (von den Körpern in der Welt ist hier nicht die Rede) und die  drastische Reduzierung seiner Eigenbewegung  in der gegenwärtigen Informationsgesellschaft sattsam bekannt und von daher gegenstandslos sei. Handelt es sich  hier nicht wieder um  eine  kulturkritische Position, die über Rousseau, Reformpädagogik bis hin zur Erlebnispädagogik auch in Theorie und Praxis der Erziehung  eine immer wiederkehrende Konstante darstellt? Ein solcher Einwand ist bedenkenswert: Skepsis und Einspruch sind  notwendig, wenn Ideologiebildung bis hin zu Mystifizierungen im Spiele sind. In diesem Zusammenhang muss zumindest Folgendes  klar sein:
a) Der Blick in die Vergangenheit, zumindest in die geschichtliche, bringt mehr Problematisches  (Foucault, Elias, Rutschky mögen hierfür stehen) als Wünschenswertes zum  Vorschein.
b) Die Wiedereinsetzung des Körpers und der Bewegung sind  keine Garantie für die Entfaltung von mehr Humanität (so z. B. im Faschismus). Der Körper ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Humanität.
c) Wie integriert das System "beseelter Körper" auch gedacht wird, zwischen den einzelnen Elementen besteht keine Kausalität.
d) Auch der Körper ist nicht die letzte Grundlage, der Archimedische Punkt für Erkenntnis, Moral und Glück. Denn er ist  fragil, störanfällig, von  Sorge durchdrungen.

Dass aber der Körper überhöht, mit seinem Konzept Missbrauch getrieben wurde, ist  kein  Grund, auf eine rationale Analyse seiner Bedeutung zu verzichten. Vielmehr gilt es,  genau hinzusehen, was da  eigentlich verschwindet und denkend einzuhalten, um eventuell andere Wege einzuschlagen.
Es wäre technologisch-kausales   Denken, umstandslos auf  Zukunft schließen zu wollen.  Hölderlins vielzitiertes Wort "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" trifft zu, weil der Mensch als conditio sine qua non über Freiheit verfügt, die aus ihm unkontrollierbar immer wieder hervorbrechen kann. Auch der gefesselte  Körper kann  ein Speicher und ein  Generator für Möglichkeiten sein, gesetzte Grenzen zu überwinden. Wissend, dass eine solche Emanzipationsbewegung immer auch  auf Geist angewiesen ist,  gilt es,  neue Perspektiven kennen zu lernen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und so seinen eigenen körperlichen Stand- und Entwicklungspunkt zu gewinnen. Die folgenden Abschnitte habe ich bewusst "Perspektiven" genannt, um ihre prinzipielle Unabgeschlossenheit,   Subjektivität und das Faktum der unvermeidbaren Überschneidungen  einzufangen. Auch versteht sich, dass  die jeweilige Perspektive nur in Teilbereichen ausgeleuchtet wird.

Im Folgenden werden  sechs   Perspektiven   thematisiert: die der künstlichen Intelligenzforschung (1), die systematisch-erkenntnistheoretische (2), die kognitionswissenschaftliche (3), die anthropologische (4), die kinästhetische  (5)  und schließlich die gesellschaftliche (6).

1. Die Perspektive der künstlichen Intelligenzforschung: Der Leib als Wertelieferant
Um deutlich zu machen, dass der Körper eine  condition humaine  ist, folgender erster, wenn auch indirekter  Beleg: Nach der Theorie der sogenannten verkörperten und situierten Künstlichen Intelligenz scheiterten bisher alle Versuche,  autonome künstliche Intelligenzsysteme zu realisieren auch daran, dass diese Systeme über keinen Körper verfügen (Brooks 1991, S. 139 – 160), Dennett 1990, S. 147- 171),  Gold/Engel 1998).  Warum ist das ein Problem? Nur über den Körper  kommen die notwendigen und unverzichtbaren Werte in das kognitive  System hinein. Diese Werte entscheiden über Setzungen, Selektionen, Präferenzen aus der unendlichen Zahl aller kombinatorischen Möglichkeiten. So ist selbst die Setzung, die Logik zur Richtschnur von wahren und falschen Verknüpfungen zu machen, eine wertende.   Ginge man nicht von einem Leib aus, müsste man auf idealistische Konzepte zurückgreifen -  was ja im  kognitivistischen  Wissenschaftsverständnis nicht zulässig wäre - oder  emergenzphilosophische Konstrukte  heranziehen. Als reale Quelle und als Erklärung bleibt dann nur der sich bewegende Körper übrig. 
Das Paradoxon besteht also darin, dass eine der avanciertesten und abstraktesten Wissenschaften wie die Kognitionswissenschaften  händeringend nach einem Körper sucht. Hier ist aber  nicht der "theoretische", isolierte Körper, sondern der in  Gesellschaft und Natur, in die jeweiligen Lebenswelten  eingebettete gemeint.  Verzichten wir auf den Körper, so verzichten wir  auf  rationale Bejahung,  Kritik, Modifikation, Weiterbildung oder Negation. Es bliebe  ein  einziger Wert bestehen:  die einmal überkommene und übernommene Aufgabe, alle intern-geistigen  und äußerlich-materiellen Hindernisse, die die technologisch eingeschlagene  Entwicklungsrichtung  behindern, zu beseitigen.

Haupteinsicht aus der künstlichen Intelligenzforschung:
Es gibt keine leib-losen Werte

2. Die systematisch-erkenntnistheoretische Perspektive:  Der Leib im Erkenntnisprozess
Hier geht es im Wesentlichen um eine (a) systematische und  b) zeitliche Dimension.

a) Erkenntnistheoretische Systeme, die aus der Aufklärung kommen oder ihr verpflichtet sind, haben große Schwierigkeiten, den  Körper systematisch-konstitutiv zu verorten. In der Einleitung  zur transzendentalen Logik schreibt Kant: "Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine Weise affiziert  wird, Sinnlichkeit nennen; so ist dagegen das Vermögen,  Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand"(Kant 1966, S. 120).  Sinnlichkeit und Verstand  sind also die zwei Quellen der Erkenntnis. Natürlich ist auch hier die Sinnlichkeit  an Sinnesorgane, insbesondere an die Augen  (und damit auch an den Körper) gebunden, aber es ist eine  reduzierte Sinnlichkeit, die,  vom Verstande geleitet, dessen Vorgaben in der Außenwelt lediglich bestätigt. Das erkennende Subjekt wird zu einem punktförmigen, fast  körperlosen  Selbst. Der Körper wird aus erkenntnistheoretischer Perspektive überflüssig.

                 Sinnlichkeit                  Verstand





                                    Erkenntnis

Die radikalste Kritik dieser Auffassung kulminiert sicherlich  in Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie. Um die große  Bedeutung des  Körpers  im Erkenntnisprozess  möglichst tief  zu fundieren, halte ich es für sinnvoll,    auf das Modell des Gestaltkreises   (V. von Weizsäcker) bzw.  des  Funktionskreises  (J. v. Uexküll) zurückzugreifen. Nach diesen Autoren bilden Muskelsystem und  Nervensystem  die physiologische  Basis der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen.

Erweitert man Wahrnehmen um die  höheren psychischen Funktionen wie Fühlen, Behalten und Denken, dann kann man diese Einheit als verschiedene Stufen von  Erkenntnismöglichkeiten  interpretieren. Die psychischen Funktionen sind im Nervensystem, die  Bewegungen im Muskelsystem lokalisiert. Beide Systeme müssen intern und wechselseitig interagieren, wenn  Erkenntnis entstehen soll.


Nerven                                                     Muskeln

Vernunft

Verstand

Gefühl                                                        Bewegung 

Wahrnehmung
  
vegetative Prozesse


An dieser Graphik ist  deutlich erkennbar, dass das Modell der Aufklärung (Sinnlichkeit und Verstand) zumindest begrifflich ausschließlich im Nervensystem ruht, dass es gewissermaßen einen Sonderfall darstellt.  Aber man kann auch erkennen, dass  das hier vorgestellte Modell nicht ganzheitlich ist. So wird z. B. das Knochensystem nicht berücksichtigt, obwohl es sicherlich auch eine funktionale Bedeutung im Erkenntnisprozess hat ("der aufrechte Gang" als Metapher für charaktervolles  Denken und Handeln). Den Körper gibt es isoliert nur dann, wenn es sich um einen toten handelt. Bewegung macht das Wesen des Körpers aus. Es gibt aber  keine  vollkommen isolierte Körperbewegung: Bewegung findet immer in Räumen statt. Von daher müssen Bewegung und Raum  systemisch gesehen werden, wobei der Raum  auch den gesellschaftlichen Raum umfasst, der über Rollen und Habitus wiederum den Körper modelliert: Eine Rolle wird verkörpert.

b) Im vorgestellten  Modell wird allerdings  die zeitliche Beziehung zwischen gehirnphysiologischen  und Bewusstseinsprozessen nicht thematisiert. Empirisch geleitetes Denken lässt fast keinen anderen Schluss zu , als vom zeitlichen Primat des Gehirns, also letztlich vom Körper, auszugehen und das Bewusstsein  als  sekundär einzustufen.  Dazu unübertrefflich ein  Gedicht von Robert Gerhardt "Noch einmal: Mein Körper" (FAZ, 24. 11. 01):

Mein Körper rät mir:
Ruh dich aus!
Ich sage: Mach ich
altes Haus!

Denk aber: Ach, der
sieht`s ja nicht!
Und schreibe heimlich
dies Gedicht.

Da sagt mein Körper:
Na, na, na!
Mein guter Freund,
was tun wir da?

Ach gar nichts! sag ich
aufgeschreckt,
und denk: Wie hat er
das entdeckt?

Die Frage scheint recht
schlicht zu sein,
doch ihre Schlichtheit
ist nur Schein.

Sie läßt mir seither
keine Ruh:
Wie weiß mein Körper,
was ich tu?

Die  Peripatetiker im antiken Athen wussten es, wenn sie diskutierend in den Säulengängen wandelten. Der in der Abenddämmerung beginnende Flug der Eule der Minerva ist die Metapher Hegels für das Verhältnis von Praxis und Theorie.  Der Mensch ist  nicht  Herr  des Bewusstseins.
Das Ich-Denke ist dem Es-Denkt nachgeordnet, das wiederum von gehirnphysiologischen und körperlichen Prozessen beeinflusst bzw. bestimmt wird, die ihrerseits  materiell-gesellschaftlich bedingt sind. Zu fragen und zu problematisieren bleibt aus der Perspektive unseres Themas, welche Qualität Erfahrungen und Erkenntnisse annehmen, wenn der Körper marginalisiert wird.

Haupteinsichten aus der systematisch-erkenntnistheoretischen  Perspektive:
a) Den isolierten  Körper gibt es  in der Realität nicht. Er ist immer ein in materiellen und gesellschaftlichen Räumen sich bewegender, wobei Raum und Gesellschaft  formend auf ihn einwirken und umgekehrt. 
b) Durch die Leugnung des  Primats des Bewusstseins wird die theoretische Stellung des Körpers gestärkt. 

3. Die kognitionstheoretische Perspektive: Die Bedeutung des enaktiven Repräsentationsmodus im  Prozess der Bedeutungsbildung
Nach Jerome S. Bruner repräsentieren wir auf Bewusstseinsebene  Welt in drei Systemen: im symbolischen, im ikonischen und  im enaktiven Repräsentationssystem. Vom  Körperthema aus gesehen  ist  das Verhältnis zwischen diesen Systemen besonders interessant. Es gibt gute Gründe, das  Symbolsystem als das dominierende zu bewerten. Analysiert man den  (allgemeinen) Begriff, d. h.  keine Eigennamen, dann stellt man fest, dass dieser Begriff  zwar ein Gebiet begrenzt, d. h. de-finiert, dieses Gebiet selbst aber inhaltlich leer ist. "Bevölkert" wird es erst durch Aktivitäten,  die ikonische und  enaktive  Repräsentationen zur Folge haben . Dazu gehören auch anschließende  symbolische Repräsentationen, die aber nur dann bedeutungsvoll sind, wenn sie bereits ikonisch und enaktiv "gefüllt" sind. Daraus ergeben sich  zumindest vier Aspekte:
 
a) Der Prozess der „Füllung“ kann minimal (ein einziges Foto vom Eifelturm) oder optimal (vielfältige ikonische, enaktive und symbolische Repräsentationen), jedoch  nie vollkommen sein.

b) Die Befunde in den einzelnen Systemen sind unterschiedlich: Die   symbolischen und  enaktiven Anteile haben  abgenommen. Im ikonischen Bereich fallen die Ergebnisse unterschiedlich aus: Der über Bildmedien vermittelte Anteil  hat  stark zugenommen, während der über Eigenwahrnehmungen erworbene  zurückgegangen ist. Beeinträchtigend kommt hinzu, dass die medialen  Wahrnehmungen  zunehmend kürzer und flüchtiger werden. Realität wird mehr und mehr aus der Distanz , im  Auto-, Zug-  oder Flugzeugsessel  auf vorgeschriebenen Wegen,  panoramisch  (Schievelbusch) visuell wahrgenommen. Zu hören  sind nur die Motoren des Fortbewegungsmittels, aber nicht das   Lachen der Kinder aus dem Vorgarten. Andere Sinnesqualitäten werden ausgeblendet.

c)  Ein  Minimum an Enaktivität ist   unaufhebbar, weil ein „Restkörper“ immer noch mit der Welt in Verbindung stehen muss. Die  Finger müssen noch kleinste Bewegungen auf der Tastatur machen, und auch der Wagen mit Vollautomatik verlangt ein Geringes an Veränderung der materiellen Welt mit Hilfe meines Körpers wie das Öffnen der Tür oder das Umdrehen des Zündschlüssels. Geht man von einem ganzheitlichen Menschenbild aus, das ein Anrecht  auf die Entfaltung aller Fähigkeiten hat, ist dieser Sachverhalt nicht akzeptabel. Aus der Sicht  kognitivistischer Entwicklungstheorien, in denen   Denken als internalisiertes Tun beschrieben wird, Welt erst im handelnden Umgang  im Subjekt entsteht, ist dieser Zustand weder  für Kinder  noch für Jugendliche akzeptabel. Auch für Erwachsene gilt, dass  dieser Prozess prinzipiell unabgeschlossen ist und deshalb ständig  bei jedem kognitiven Neuerwerb fundierend stattfinden könnte und sollte. Sehr viel spricht  dafür,  dass  zwischen  äußeren und inneren Bewegungen starke Wechselbeziehungen bestehen.

d) Die Bedeutung (Begriff, Gedanken, Idee,  Wesen, Natur, Information u.s.w.) eines Gegenstandes bzw. Sachverhaltes entsteht nach meinen Überlegungen durch die Synthese aller drei Repräsentationssysteme und durch die Integration zusätzlicher Bedeutungen. Diese
(Gesamt-)Bedeutung ist im Gegensatz zu den einzelnen Repräsentationen  der Introspektion nicht zugänglich. Denn welche direkt erkennbaren  Qualitäten sollte die Synthese aus enaktiven, ikonischen und symbolischen Anteilen  annehmen? Schon Karl Bühler stellte fest, dass ein Gedanke etwas wäre, das einen hohen  Klarheits-, Sicherheits- und Lebhaftigkeitsgrad hätte, aber keine sinnliche Qualität aufweise. Platon spricht davon, dass Ideen gestalt- und farblos seien.
Zu vermuten ist, dass ein  geringer Anteil von Handlungserfahrungen und Eigenwahrnehmungen von Wirklichkeit  Bedeutungen erzeugen, die hochgradig anfällig für Heteronomien sind, wobei zu fragen bleibt, welchen innerpsychischen Status solche wenig eigenfundierten Bedeutungen einnehmen.

Haupteinsicht aus  der kognitiven Perspektive:
Die körperliche Aneignung  und sinnliche Primärerfahrungen sind im Erkenntnisprozess unverzichtbar. Selbst für einen so kognitiv-geistigen Begriff wie Bedeutung sind Körper und Sinne konstitutiv. Ihr Anteil wird aber in der dominanten Weltaneignung immer kleiner.

4. Die anthropologische Perspektive: Weltbezogenheit und Körper
Hier werden zwei Aspekte thematisiert: a) das existentielle Verhältnis des Menschen zur Welt und b) die Bedeutung des Augen-blicks.

a)Wir sind in der Welt. Die Welt ist mit Sicherheit auch  materiell. Sie ist voller Gegen-stände, mit denen wir umzugehen haben. Wir sind zu materiellen Beziehungen verurteilt. Mit Hilfe von Symbolen oder Maschinen vermögen  wir, einen Teil dieser Beziehungen zu indirekten zu machen - aber nicht alle. Selbst wenn ich lese, ist immer noch Materielles unaufhebbar im Spiel, nämlich die materiellen Zeichen und das Medium Buch – von meiner eigenen Körperlichkeit ganz abgesehen.  Die  inzwischen berühmt gewordene Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von Perry Barlow "Endlich gewinnen die Kräfte des Geistes die Oberhand über die rohe Macht der Dinge. Unsere Welt (des Cyberspace, BM) ist überall  und nirgends; und sie ist nicht dort, wo Körper leben. Es gibt im Cyberspace keine Materie"(nach Münker 1997, S. 111)  stimmt nicht und wird nicht stimmen, zumindest solange Menschen einen Körper haben.

Der Mensch ist ein Wesen des Dazwischen:  Einssein mit der materiellen Welt ist für ihn schon deswegen existentiell unmöglich, weil   Erfahrungen, die prinzipiell auf Unterscheidungen beruhen, dann nicht gemacht werden können. Aber auch die absolute körperliche Trennung von Welt ist  unmöglich, weil wir existentiell auf Welt verwiesen sind - ob wir es wollen oder nicht,  es gut finden oder nicht.  Das prekäre  Dazwischen ist  unsere eigentliche Lebenswelt, wir haben keine absolute Heimat, sind aber auch nie absolut in der Ferne.

Auch wenn man die   Einwände gegen eine  absolut geistige Welt des Menschen teilt, könnte man trotzdem dieses  Manifest als orientierendes Ideal für die Überwindung des Körpers nehmen. Es gibt dafür einige Argumente:  Ohne Zweifel hat sich die große Mehrzahl der Bevölkerung noch vor fünfzig Jahren körperlich geschunden. Ein Bauer, der mit sechzig Jahren nicht körperlich verschlissen war, galt als faul. Befreiung von körperlicher Fron ist zweifelsfrei ein  humanes Ziel. Abzulehnen ist aber das  explizit oder implizit bestehende  dominierende  Ziel der "Befreiung" von jeglicher körperlicher Betätigung im Alltag und die Verweisung der Bewegung in Reservate (Stichwort Fitnesszentrum), eine Auffassung, in der körperliche Tätigkeiten im Alltag obsolet, folgenlos und den Charakter des  Sich-Lächerlich-Machens annehmen. Der Kern der  inneren Logik der Bequemlichkeit ist der Tod, d. h. die absolute Bewegungslosigkeit.  

b)Die phänomenologisch deutlichste Einheit von Geist und Körper ist vielleicht der Augenblick, der, wenn es einer ist, immer der wechselseitige Blick zweier lebendiger Menschen ist:  Meine Augen sehen in die Augen eines anderen Menschen, und der Andere und ich nehmen diese Wechselseitigkeit  wahr. Der Blick auf den  Nachrichtensprecher oder auf den hinter getönten Autoscheiben Sitzenden ist kein Augenblick, sondern eine Wahrnehmung. Augenblicke, die an Häufigkeit abnehmen, sind von höchster anthropologischer Bedeutsamkeit. Menschen als   Elementarteilchen (Houellebecq) sind in der  Produktions- und Konsumsphäre funktional nicht mehr auf Augenblicke  angewiesen.  Hier liegen übrigens Wert, Chance und  Stärke der Schule, denn man kann Schule auch als einen Ort der Augenblicke interpretieren.

Haupteinsichten aus der anthropologischen  Perspektive:
a)Es gibt ein jeweiliges Optimum von  Kontakten zwischen menschlichem Körper und den ihn umgebenden belebten und unbelebten Dingen und Körpern.
b) Der Augenblick ist immer einer zwischen zwei lebendigen Menschen. Seine Bedeutung in der seelischen Entwicklung und für die sozialen Beziehungen wird oft unterschätzt.

5. Die kinästhetische  Perspektive: Die Eigenenergie in Lern- und Bildungsprozessen
Aus der Lern- und Bildungsperspektive ist die Thematisierung der  Eigenbewegung bzw. des Sich-Bewegens mit metabolischer Energie (I. Illich) im Gegensatz zur Fremdenergie, externer Energie oder zum Transportiert-Werden deswegen so wichtig, weil hier auch die physiologische Fundierung von Selbständigkeit und Weltabbildung stattfindet. Wie das? Die den   Menschen zur Verfügung stehende Energie kommt  entweder aus ihm selbst oder aus anderen lebenden Organismen  oder wird künstlich ge- bzw. entfesselt  (von Wind über Brennmaterialien bis zum Atom). Wenn der Mensch seine eigene Energie in innere  oder äußere Sinn-Formen gießt, schafft er selbst  Voraussetzungen für Fertigkeiten und Fähigkeiten, für effektives Handeln und für Bildung. Fremdenergie und Fremdformung leisten das nicht. Aneignung ist immer ein aktiv-subjektiver Vorgang des Suchens, der Unsicherheit, des Zweifels, des Scheiterns, aber auch des Findens und Gelingens. Erst in dieser ganzheitlichen und riskanten Auseinandersetzung mit Welt und mit sich selbst entsteht Vertrauen zu sich  und damit selbstsicheres, weil ausgewiesenes Können und Wissen. Auch Mühe scheint ein integraler Bestandteil dieses Wachstums zu sein. Darin liegt sicherlich auch der Reichtum und Intensität kindlicher Welten  begründet. Die  Welt muss  noch  mit Eigenenergie erkundet  werden, nass und  vollkommen erschöpft wird doch noch  das rettende Versteck erreicht.  Ins Grundsätzliche gewendet: Woher kommt bzw. wie entsteht Selbstsicherheit? Sicherlich aus  Zuschreibungen, Glauben oder Reflexionen, aber auch aus  Beobachtungen und vor allem aus dem eigenen Tun. Dieses Tun erzeugt eine Qualität von Sicherheit, über die die anderen  Erkenntnissysteme nicht verfügen: Denn nur im Tun  wird Welt direkt, wenn Unmittelbarkeit überhaupt möglich ist, abgebildet. Im Medium der Eigenenergie als  Eigenbewegung findet eine gestalthafte Abbildung der jeweiligen Realität statt. Mit eigenen Händen bauen, zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad fahren, all das sind Tätigkeiten, die mit Eigenenergie realisiert werden. Es macht einen Unterschied, ob der Schüler das Arbeitsmittel selbst aus dem Regal holt oder es  auf dem "Stationstisch" vorfindet. Wenn ich mit dem  Fahrrad über den Berg fahre, also auf das Auto verzichte, werden bestimmte Muskeln aktiviert, die genau die Struktur des  eingeschlagenen Weges speichern.  Zwischen erfahrener Welt und aktiviertem Muskelsystem  besteht ein Verhältnis der genauen Entsprechung (der Isomorphie). Eine solche „muskuläre Abbildung“ ist die physiologische Aneignung von Welt, wobei viele Wiederholungen diese Aneignung differenzieren und stärken. In der Literatur wird diese Fähigkeit dem Bewegungs- und Stellungssinn zugeordnet. Das kinästhetische System hat "kein eindeutig lokalisierbares Sinnesorgan, über das die entsprechenden Reize aufgenommen werden können. Die für die Tiefensensibilität zuständigen Rezeptoren liegen vielmehr über den ganzen Körper verstreut in den Muskeln, Sehnen, Bändern und Gelenkkapseln" (Zimmer 1995, S. 115). Diese   breite Sensibilität ermöglicht eine relativ differenzierte körperliche Abbildung. Übrigens liegt in diesem Modell die Fruchtbarkeit der von mir oben vorgestellten fundamentalen Dualität von Muskeln und Nerven: Die  sinnliche Wahrnehmung des eigenen Muskelsystems, nicht der Welt,  ist die Quelle des  kinästhetischen Systems. Weltaneignung über das kinästhetische System ist tiefer fundiert, weil drei Systeme beteiligt sind: Muskel-, Nerven- und Weltsystem. Während bei der Beobachtung nur zwei Systeme, Nerven und Welt, und bei der logischen Analyse nur eins, nämlich das Nervensystem allein beteiligt ist.


Wichtig  in diesem Zusammenhang, weil oft ausgeblendet, ist auch folgender Aspekt: Das  kinästhetische System ist unverzichtbar für die  Weltaneignung nicht nur in der Kindheitsphase (wie es die Entwicklungspsychologie mit Recht lehrt), sondern   in allen Lebensphasen. Mit der   Reduzierung kinästhetischer Aktivitäten werden   gleichzeitig  Ding- und Raumerfahrungen  reduziert und damit auch Sinn und Bedeutungen (bekanntlich besteht eine enge Beziehung zwischen Sinne und Sinn). 

Haupteinsicht aus der kinästhetischenPerspektive:
Die kinästhetische Fundierung schafft, neben Welterkenntnis,  Selbstvertrauen und Selbstsicherheit. Eigenschaften, die für Lern- und Bildungsprozesse von größter Bedeutung sind.
Handlungs- und schülerorientierte  Unterrichtskonzepte weisen in diese Richtung.

6. Die gesellschaftliche Perspektive: Der vermittelte  Körper im Alltag

„Da es  dem König aber wenig gefiel,
dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend,
sich querfeldein  herumtrieb,
um sich selbst ein Urteil über die
Welt zu bilden,
schenkte er ihm Wagen und Pferd.
"Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen",
waren seine Worte.
"Nun darfst du es nicht mehr",
war sein Sinn.
"Nun  kannst du es nicht mehr",
deren Wirkung.“

        Aus "Kindergeschichten" (Anders 1980,   S. 97)

In der bisherigen Behandlung  der fünf  Perspektiven hat sich immer wieder implizit gezeigt, dass grundsätzlich  von der  gesellschaftlichen Modellierung des Körpers nicht  abstrahiert werden kann und darf.  Heute  haben  viele  Körpernormierungen  ihren Ursprung  in Jugendkulturen. An dem Beispiel erkennt man gut, dass  Normierungen heute nicht  mehr primär durch äußere Regeln (wie die Militarisierung in der Wilhelminischen Gesellschaft) oder durch äußere Bedingungen (wie das Fließband) durchgesetzt werden, sondern die Formierung und Reduzierung der Möglichkeiten des Körpers und seiner Bewegungen  aus einem Wechselspiel sich gegenseitig stärkender  Subkulturen und Wirtschaft entstanden sind.
Die Frage nach den gesellschaftlichen Bestimmungsfaktoren der Körper- und Bewegungsmodellierungen ist sicherlich nur plural und systemisch zu beantworten. Ich meine aber, dass die  von Peter Sloterdijk in Anschluss an Heidegger entwickelte anthropotechnische Perspektive als eine Antwort  besonders fruchtbar und geeignet ist: Der Mensch war und ist zum Bauen von Behausungen und deren Weiterentwicklung gezwungen. Da er heute ausschließlich auf durch Technik Gemachtes (Vico) stößt, werden  Anthropologie und die Rede von der  Natur zu  Ideologien, weil es die reine Natur und den Menschen an sich nicht mehr gibt (wenn es ihn überhaupt jemals gab). Die Trennung zwischen Subjekt und Objekt (Welt) wird obsolet. Die ursprünglich vermittelnde Technik wird zur  unabhängigen Variablen des Gesamtprozesses. Der Mensch wird zu einer Funktion der Technik. Nur im Scheine, als Täuschung meint er, Subjekt zu sein. Er kann sich  offensichtlich den jeweiligen technischen Ausformungen und Anforderungen   über einen längeren Zeitraum hinweg nicht entziehen. Ihre Auswirkungen  auf den Körper und  seine  Bewegung sind – wie bereits gesagt – ambivalent: Entlastung und Belastung. Um dies zu bewerten, bedarf es des genauen analytischen und ideologiekritischen Blicks verbunden mit großer Selbstkompetenz, Ich-Stärke und Eigenverantwortung. Ein wesentliches  Problem hierbei besteht darin, dass fast jede Entkörperlichung aus evolutionären Gründen als Wohlbefinden verarbeitet wird. Lediglich die sexuelle Praxis scheint  dieser Auffassung gegenüber noch relativ resistent zu sein.

Damit wäre auch das für mich so schwer zu begreifende Phänomen erhellt, dass die sich durchsetzende Entkörperlichung und Bewegungslosigkeit (im obigen Sinne) nicht nur nicht bedauert, sondern  begrüßt, bejubelt und (nahezu) von allen gewollt wird: Hinzu kommt - gewissermaßen flankierend sichernd -, dass  die Zerstörung des realen  beweglichen  Körpers mit seinem vielfältigen realen Können zeitgleich begleitet wird mit einer  ungeheuren Entfaltung des Körpers im Modus des  Bildes  als  abgezogene Wirklichkeit, als Schein. Der Körper im Schein erlangt   eine omnipräsente Realität in Zeitungen, Zeitschriften, Werbebeilagen, an Plakatwänden. Überall sehen wir wohlgestaltete Körper und Gesichter aus  unterschiedlichsten Perspektiven, Distanzen und Ausschnitten,  die natürlich wieder in die Bewusstseine als Aufgaben und Zwänge zu   Körpermodellierungen im Habitus und im Outfit zurückwirken. Das Subjekt wird dadurch auch  bezüglich seines Leibes zum Konsumenten. Seine Hauptleistung besteht darin,  den   Leib  in einer einzigen Dimension, in der bildlich-ästhetischen zu rekonstruieren, während  alle anderen Funktionen  vernachlässigt werden und auf  das Notwendigste beschränkt bleiben. Das Streben nach eigener Schönheit hat es sicherlich immer schon gegeben, aber die tendenzielle Verabsolutierung dieser Dimension und deren Normierung  ist wohl neu, mit Sicherheit aber inhuman.  An einem historischen Beispiel erläutert: Abraham Lincoln wäre unter heutigen Bedingungen trotz seiner überragenden geistigen und sittlichen Potenzen nicht Präsident der Vereinigten Staaten geworden - sein Aussehen hätte das nicht zugelassen. Das Entscheidende besteht darin, dass Lincoln sicherlich wusste oder ahnte, dass er kein schöner Mann sei. Aber er hat diese Dimension nicht verabsolutiert und internalisiert, hat eben nicht gedacht, dass sie  ein wesentlicher Hindernisgrund für seine Kandidatur sein könnte. Ein moderner Politiker dagegen muss diese Dimension bedenken, muss seine reale Gestalt gegen eine gestylte tauschen – wobei bekanntlich Tausch und Täuschung sehr nahe beieinander liegen können.       

Aber das scheint  kein großes, gar existentielles Problem mehr zu sein - im Gegenteil. Aus evolutionärer,  technologischer oder wirtschaftlicher Perspektive kann man den Körper unter gegenwärtigen Bedingungen plausibel als ein  nahezu überflüssig gewordenes Gesamtorgan  interpretieren: Körperliche Eigenkraft und körperliches Können werden  nicht mehr in nennenswertem Ausmaße in der Produktion und  für die Ortsveränderung  gebraucht. Wie der Aktenordner im Büro oder das Buch im Dozentenzimmer als materiale Körper überflüssig geworden sind  und unnötigerweise Räume ausfüllen, die für andere Dinge und Prozesse sinnvoll genutzt werden könnten, so kann diese Sicht auch auf menschliche Körper ausgedehnt werden. Man  könnte fragen, warum überhaupt Institutionen wie (Hoch-) Schulen, Theater, öffentliche Räume oder Geschäfte mit Menschen füllen, sie also in der Zeit durch Orts- und Raumwechsel "vervielfältigen",  statt sie ein für allemal in einem bestimmten Raum zu  belassen, von wo aus sie in virtuellen Räumen, die realen nachgestaltet wären,  tätig werden würden.   Chatrooms und Onlineshopping zeigen, dass es sich hier nicht mehr um  Utopien handelt, sondern um eine neue Realität, die ständig ausgebaut wird, allein weil diese Entwicklung innerhalb  der Logik der technologischen Moderne liegt, die - um es noch einmal deutlich zu betonen - idealiter gänzlich ohne menschlichen Körper auskäme.

Aber der Körper, genauer der Restkörper,  fügt sich nicht umstandslos. Er ist immer noch vorhanden und erhebt Ansprüche. In der Regel systemkonform befriedigt er diese in Diskotheken, in Einkaufszentren, auf Fernreisen mit dem garantierten Flug über die jeweiligen Naturschönheiten und in abgeschwächter Form, wenn der Fernsehzuschauer mehr Life-Sendungen statt Konserven fordert. Realität scheint immer noch einen  Wert zu besitzen, auch wenn sie  inszeniert, von  allen Zufällen, subjektiven Steuerungsmöglichkeiten und  Unzumutbarem gereinigt  ist. Nur in diesem Bedingungsrahmen dürfen und können Körper Realitäten erfahren.  Hier gibt es noch Alternativen, hier gibt es noch Streit. Forderungen nach anderen Realitätserfahrungen gelten allerdings undiskutiert als  anachronistisch oder   ideologisch, zumindest sind sie folgenlos.

Aber nicht nur Bilder und die konstruierten Wirklichkeiten sind ambivalent, sondern Gleiches gilt auch für die Sprache,  die bekanntlich Wirklichkeit entdecken, aber leider auch verdecken kann. An  dem Gebrauch des Begriffs "Erfahrung" sei aufgezeigt, dass  bestimmte sprachliche Strukturen Analyse und Rationalität behindern können:  Wenn ich Auto fahre,  mache ich eben wenige Erfahrungen mit kinästhetischer Fundierung. Der inhaltlich korrekte Satz : "Ich werde  vom Auto zu dem von mir bestimmten Ziel transportiert bzw. bewegt" klingt  zumindest in der Alltagskommunikation mehr als gekünstelt, wäre aber notwendig, um falsches – von interessierten gesellschaftlichen Kräften befördertes – Bewusstsein abzubauen. Der  Einwand, dass über falsches bzw. richtiges Bewusstsein aus prinzipiellen Gründen nicht geredet werden dürfe, halte ich für das Ende von Politik und Humanität, wenn man nicht von einer prästabilisierten Harmonie zwischen diesen  zivilisatorischen Ausformungen einerseits und Technik-Kapital-System andererseits ausgeht. Dass die Auseinandersetzung um die gute Lösung  nicht auf diesem hohen Abstraktionsgrad, sondern primär in konkreten Situationen geführt werden muss („Wollen wir heute selbst Tennis spielen oder Tennis im Fernsehen `erleben´“), versteht sich von selbst.  Das Gerangel bzw. Ringen um die ganz  großen Menschen– und  Weltbilder, um absolute Wahrheiten ist in der Praxis oft nicht hilfreich. Der wertende Vergleich von ähnlichen (kleinen) Situationen hat eben größere Erfolgschancen auf rationalen Diskurs und Einigung.

Der Alltag mit seinen Räumen und Zeiten ist meiner Ansicht nach die entscheidende Dimension:  Erst  wenn der Körper sich aus Verpanzerungen und Bewegungslosigkeit in Normalsituationen, in denen  wir arbeiten, uns fortbewegen, unsere Freizeit gestalten, uns ausdrücken, etwas miteinander tun usw., befreit,  erst dann wird er sein fruchtbares Potential entfalten können und als unverzichtbare Quelle des Genusses, der Erfahrung, der Erkenntnis wirken.  Poetisch ausgedrückt und auf menschliche Begegnungen gewendet: 

„Nur, wo sich der Mensch am Menschen stößt und reibt, entzündet sich Witz und Scharfsinn,
nur, wo sich der Mensch am Menschen sonnt und wärmt, entsteht Gefühl und Phantasie,
nur, wo der Mensch zum Menschen  spricht, nur in der Rede, einem gemeinsamen Akt, entsteht die Vernunft.“ (Quelle unbekannt)

Haupteinsicht aus der gesellschaftlichen Perspektive:
Die tendenzielle Stillstellung des Körpers ist, auch wenn sie subjektiv als Befreiung wahrgenommen wird, eine Enteignung, die auch negative Folgen auf die geistige Freiheit hat. Ein genauer analytischer Blick und Ich-Stärke können diesen Prozess in selbstbestimmte Bahnen lenken.

Pädagogischer Ausblick 
In der Theorie und Praxis der Pädagogik hat sich in der  Körper- und Bewegungsdimension vieles zum Besseren gewendet und zwar umgekehrt proportional zu den realen gesellschaftlichen Entwicklungen. Was hier  an Bewegungskulturen verschwindet, wird dort  wieder (zumindest teilweise) aktiviert. Bewegte Schule, Bewegungserziehung, Bewegungspausen, Offener Unterricht, Gestaltpädagogik, Handlungsorientierter Unterricht,  Projektmethode, Gesundheitserziehung, Spielpädagogik, Öffnung der Schule  sind Konzepte, die Körper und  Bewegung Raum geben, aber nicht als Selbstzweck, sondern als Bedingung für gelingende Lernprozesse.
Ziel und Hoffnung  dieser Abhandlung in pädagogischer Absicht ist,  positive Trends durch einige nicht im Zentrum der Diskussion stehende  Aspekte und Strukturen zu stärken.




Literatur:

Anders, G., 1980:  Die Antiquiertheit des Menschen. München: Beck

Brooks, R., 1991: Intelligence without representation.  Artificial Intelligence 47

Dennett, D., 1990: Cognitive Wheels. The Frame Problem. In:  Boden, M. (ed.): The Philosophy of Artificial Intelligence: Oxford

Gold, Engel (Hrsg.) 1998: Der Mensch in der Perspektive der Kognitionswissenschaften. Frankfurt am M.: Suhrkamp

Kant, I.,1966: Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart: Reclam

Münker, S.: Was heißt eigentlich: "Virtuelle Realität"? In: Münker, S./Roesler, A.(Hrsg.), 1997: Mythos Internet. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Zimmer,  R., 1995: Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung. Freiburg i. Br.: Herder

(erschienen in: Schulze-Krüdener, J., Schulz, W., Hünersdorf, B.: Grenzen ziehen – Grenzen überschreiten. Baltmannsweiler 2002 (Schneider-Verlag)
 
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Veröffentlicht in: Schulze-Krüdener, J., Schulz, W., Hünersdorf, B. (Hrsg): Grenzen ziehen – Grenzen überschreiten. Pädagogik zwischen Schule, Gesundheit und Sozialer Arbeit. Baltmannsweiler 2002 (Schneider Verlag Hohengehren)


10. „Konservativismus bei CDU und Grünen
Nach der Wahl des  Grünen-Politikers   Fritz Kuhn zum Oberbürgermeister von Stuttgart  findet in den Medien eine breite Diskussion  über zentrale politische Kategorien statt,  zu denen mit Sicherheit auch die Kategorie des Konservativen gehört.
Als einer der fünf Abgeordneten, die in der Kommunalwahl 1978 in Schleswig-Holstein in den Kreisen Nordfriedland und Steinburg zum ersten Mal für die Grünen die  Fünf-Prozent-Hürde überwanden, gestatte ich mir, hierzu einige Bemerkungen zu machen: Die marxistische Linke in den Grünen konnte zumindest in der Gründungszeit mit dem Konservativen nicht nur nichts anfangen, sondern lehnte ihn strikt als reaktionär ab. Dagegen hat die CDU das Konservative immer für sich in Anspruch genommen,  ohne sich mit diesem Begriff nach innen und nach außen inhaltlich auseinanderzusetzen:  Die „Konservativen“ haben  keinen Begriff für das Konservative,  sondern nur ein binnenstrategisches Verhältnis zu ihm.  So gehört auch zu einem genuinen Konservativismus die Anerkennung des Konservativen in anderen Kulturen.
Das rächt sich nun, denn die  Grünen Baden-Württembergs zeigen der CDU, was konservativ heute sein kann: Die Grünen haben hier die wichtige Unterscheidung Erhard Epplers zwischen wertkonservativ und strukturkonservativ ernst genommen. Sie sind nicht uneingeschränkt  dem Imperativ einer  bedingungslosen Zeitgemäßheit gefolgt, nämlich der Ausstattung mit dem technisch Neuesten auf allen Ebenen und Bereichen. Ich jedenfalls habe keinen  Widerspruch von CDU-Seite gegen den ADAC-Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“  oder von einer ernsthaften Problematisierung des Wirtschaftswachstums um jeden Preis oder Einwände gegen die zunehmende Mediatisierung der Lebenswelt gehört.
In der Anfangszeit der Grünen ging es uns nicht um Parteipolitik, sondern zuallererst um den Entwurf, Praxis und Durchsetzung eines alternativen Lebensstils. Dieses nach wie vor sinnvolle Ziel ist heute –auch bei den Grünen -  tendenziell verengt auf die Kritik der Atomkraft bzw. Entwicklung von alternative Energien. Deswegen  haben auch die Grünen, nicht nur die CDU Grund, sich intensiv mit dem Konservativen auseinanderzusetzen.“


11. Gedanken zum Verzicht
Wer verzichtet schon gerne? Kleine Kinder sowieso nicht, Erwachsene fühlen sich eingeschränkt,  und auch der Autor dieser Zeilen tut sich mit dem Verzicht schwer. Aber ist die Einstellung, möglichst auf jeden Verzicht zu verzichten, überhaupt sinnvoll?
Klar ist, dass man gerne auf Krankheiten, auf schlechte Luft, auf Hunger oder auf schlechte Stimmung am Arbeitsplatz  verzichtet. Klar ist auch, dass es  menschliche  Bedürfnisse wie Nahrung,  Wohnung, soziale Geborgenheit,  Liebe, Schönheit und Bildung gibt, die in der Tat unverzichtbar sind. Weiterhin  klar ist auch,  dass man ungern auf das verzichtet, was man an vermeintlich Wertvollem hat oder vielleicht noch zusätzlich  bekommen wird, sei es das Eigenheim, den  Fernseher, das Auto, die Reise oder eine Beförderung. Klar ist aber auch, dass viele Menschen  nicht zu wenige, sondern zu viele Dinge besitzen. Das zeigt sich in  Kinderzimmern, am Sperrmüll, an weggeworfenen  Lebensmitteln, an verrottetem Obst in den Gärten und an Wegrändern, an den vielen nicht gelesenen Büchern und an dem Besitz  mehrerer Autos. Wirklich widersinnig wird jegliche Ablehnung von Verzicht, wenn in bestimmten materiellen Bereichen  Sättigung erreicht ist.
Die Wartung dieses  Überflusses an Dingen und die Sorge um sie  sind nicht nur anstrengend, sondern behindern auch ihre  Aneignung. Deshalb auf das Sehen beliebig vieler Sendungen im Fernsehen verzichten und sich stattdessen auf eine oder zwei konzentrieren, damit auch etwas „hängen bleibt“. Die Alternative heißt also, nicht viele Dinge zu besitzen, sondern sich viel anzueignen - nicht Quantität, sondern Qualität.
Im Verzicht stecken   auch Momente der Freiheit,  verbesserte Möglichkeiten zum geistigen Wachstum und zur Erhöhung von Zufriedenheit. Grundsätzlich jeglichen Verzicht abzulehnen, ist ein Zeichen von kindlichem Verhalten,  Denkfaulheit, vielleicht auch Angst sowie Ich-Schwäche und   letztlich auch der Verzicht,  eigene Interessen zu verwirklichen.
Die  tiefste Begründung  für den  Verzicht ist das Leben selbst, denn im Leben findet ständig und unabwendbar Verzicht in Form von Auswählen oder Zerstören  statt: Man muss den Garten umgraben, bevor man Kartoffeln pflanzt, man muss das Grundstück erst roden, bevor man das Haus baut, man muss sich beim Kauf eines Hundes für einen einzigen aus dem Welpenwurf entscheiden, man muss auf einen Urlaub im  Bayerischen Wald verzichten,  wenn man stattdessen nach Spanien fährt. Verallgemeinert: Jede Handlung, soll sie gelingen, verlangt auch Verzicht im weitesten Sinne. Weil das so ist, müssen wir mit der Möglichkeit des Verzichts souverän umgehen, ihn je nach Situation überlegt  bejahen oder ablehnen.
(Erschienen am 12. 2. 13 im Flensburger Tageblatt)

12. "Warum  macht es Sinn,  Fußgängern und Fahrrädern Vorrang vor Autos zu geben?

Kritisiert man einen Fußgänger, kritisiert man einen Menschen. Kritisiert man ein Fahrrad oder ein Auto, kritisiert man zwei verschiedene Maschinen: eine, die sich mit Hilfe menschlicher Kraft bewegt, und eine, die von einem Motor bewegt wird. Im Plural bilden Fußgänger, Räder und Autos jeweils ein System.

Diese terminologische Vorbemerkung und die folgenden Gedankengänge sollen auf die Frage lenken, in welchem Rangverhältnis Fußgänger, Fahrrad und Auto stehen sollten. Die Frage wird beantwortet durch die Bestimmung der Auswirkungen, die die drei Verkehrssysteme jeweils auf die Umwelt und deren Benutzer haben: Fußgänger haben keine negativen Auswirkungen auf die natürliche Umwelt, aber positive auf die soziale und die eigene Gesundheit. Fahrräder stoßen keine schädlichen Emissionen aus, sie fördern die Gesundheit, sind aber ein Gefahrenpotenzial, wenn sie zu schnell und unachtsam in unmittelbarer Nähe von Fußgängern fahren. Dass das Auto katastrophale Folgen auf das Makro- aber auch Mikroklima hat, zeigt deutlich ein Auto mit laufendem Motor in der Garage. Mehr dazu zu sagen, ist überflüssig. Autos haben zusätzlich massive negative Einflüsse auf Landschaften und Siedlungen, auf das Zusammenleben der Bürger und letztlich auch auf die Menschen selbst, sei es in leichten bis tödlichen Unfällen oder Krankheiten mangels Bewegungslosigkeit. Öffentliche Verkehrsmittel sind übrigens problematisch wie Autos, was sie aber durch den hohen Auslastungsgrad erheblich mildern. Ein anderer Gewinn besteht in der Möglichkeit sozialer Erfahrungen.

Dass alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt seien, wie es der ADAC behauptet, ist juristisch-formal wahr, aber faktisch reine Ideologie. Das Auto beherrscht die öffentlichen Räume. Notwendig und sinnvoll dagegen wäre, Fußgängern und Radfahrern faktisch und rechtlich Vorrang einzuräumen, wobei die konkrete Gewichtung vor Ort entschieden werden müsste.
Warum hat diese Position es in unserer Gesellschaft so schwer? Worin besteht ihre argumentative Basis ihrer Gegner? Dazu der Befund: Die Gleichwertigkeit des Autos gegenüber Fußgängern und Radfahrern kann nur auf höchster Abstraktion behauptet werden, nämlich die Fähigkeit zur Ortsveränderung unter Ausblendung der Folgen auf Mensch und Umwelt. Dass diese „Logik“ letztlich unwidersprochen den gesellschaftlichen Diskurs dominiert, liegt primär in folgenden Sachverhalten: Die Dominanz des Autos wird als naturwüchsig und damit unkritisierbar interpretiert. Die Werbung für Autos wird umfangreicher und aggressiver. Die Lebenswelt wird zu einer Autowelt. Das Bequemlichkeitsverlangen vieler Menschen nimmt keine Rücksicht auf sich selbst und der natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelt."



13. Abstraktion und Reduktion

Arbeit hat das Ziel, einen Teil der natürlichen oder bereits vom Menschen geschaffenen Umwelt so zu verändern, so dass sie für den Menschen mehr Vorteile  als der vorherige Zustand hat.

An seinem  Ziel gemessen  erzeugen  diese Veränderungsprozesse zwangsläufig „Abfall“ – so Michelangelos  David Abfall als  abgeschlagener Marmor, Pflaumenmus Abfall als Pflaumensteine, ein bearbeiteter Text  Abfall als durchstrichene Wörter und Sätze, eine Autobahn Abfall als Pflanzen und Bodenunebenheiten . Ob man diese  Prozesse als Abstraktion oder als  Reduktion bezeichnet, beschreibt  und bewertet, ist eine Sache der Perspektive. So ist die neu gebaute Autobahn für den Autofahrer ein Segen, für die betroffene Landschaft ein schwerwiegender Eingriff.  

Abstraktion und Reduktion sind also beschreibende und gleichzeitig bewertende Begriffe. Wie heißt der Oberbegriff von Abstraktion und Reduktion? Ich nenne ihn Zielprozess, denn jede Arbeit hat ein Ziel und entfernt deswegen alle Elemente, die diesem Ziel im Wege stehen. Wenn die „Opfer“ dieses Prozesses  als Verlust im Mittelpunkt der Beschreibung und Bewertung stehen, dann ist es eine Reduktion, wenn das Ziel allein einen positiven Wert darstellt, dann ist es eine Abstraktion. So gesehen ist eine Reduktion  als eine schlechte Abstraktion.  Nie ist  eine Abstraktion ohne Reduktion zu haben. Und: In der Wahrnehmung und im Bewusstsein finden  immer Abstraktionen bzw. Reduktionen statt, sie sind nie real ganzheitlich..

Zielprozesse in der Natur sind aus ökologischer und wertkonservativer Sicht  fast immer eine Reduktion, d. h. eine Minderung bis hin zur  Katastrophe. Zielprozesse  in der zivilisatorischen Umwelt sind je nach Standpunkt sinnvoll oder auch überflüssig.  Zielprozesse im Bewusstsein, die als  geistige Abstraktionen zu Begriffen, Kategorien und Theorien führen, sind  grundsätzlich positiv einzuschätzen, sind es aber leider nicht immer, so als negativer Prototyp Rassetheorien. 

Jede Abstraktion ist faszinierend und löst bei Menschen den Wunsch aus, sie real werden zu lassen. Das kann für die Lebenswelt verhängnisvoll sein. Als Beispiel seien motorisierte Verkehrssysteme in Form von Auto, Zug und Flugzeug genommen. Das Modell für ihre ständige Fortentwicklung liefert das mechanische  Beharrungsgesetz, dessen Endformulierung von Newton kommt „Jeder Körper beharrt im Zustande der Ruhe oder geradlinigen, gleichförmigen Bewegung, wenn nicht eine Kraft auf ihn einwirkt.“ Die  Ruhe kann man  physikalisch als den Spezialfall der Bewegung mit Geschwindigkeit null auffassen. Diese etwas gewaltsam anmutende Definition deckt sich zumindest mit der Dominanz der Bewegung in der  Evolutionstheorie  und in der geschichtlichen Auffassung  gesellschaftlicher Veränderungen. Die motorisierten Systeme erreichen ihr Optimum im Sinne des Beharrungsgesetzes, wenn die auf sie einwirkenden Kräfte minimalisiert bzw. gänzlich ausgeschaltet werden. So wird der Untergrund der Straßen  glatt und steigungsfrei, die Straßen selbst mehrspurig und kreuzungsfrei gebaut und das  Straßennetz  ständig erweitert und verdichtet. Um unnötige Bremsungen zu vermeiden, werden die Straßen frei gehalten von eigen-willigen Lebewesen wie Rehen, Kindern und störrischen Erwachenen. Das Auto selbst wird strömungsorientiert gestaltet, wenn nicht eine aggressive Ästhetik überdimensionierte SUV-Fahrzeuge und busartige Limousinen verlangt.  Verallgemeinert: Die Natur ist für viele Menschen Chaos mit großer Unübersichtlichkeit. Deswegen wollen sie die Klarheit und  Schönheit der Abstraktion auch in der Natur verwirklichen. Meine  Vermutung dazu: Die Imperative des Beharrungsgesetzes inhaltlich transformiert als Bequemlichkeit, Schnelligkeit, Erreichbarkeit, und Hindernislosigkeit machen aus der komplexen Lebenswelt  eine auf Waren und Motoren reduzierte Zivilisation, die auch im Bewusstsein als instrumentelle  Rationalität eine passende Entsprechung findet.  In diesem Zusammenhang sinnvoll noch von Lebenswelt zu sprechen, ist nicht begründbar, denn eine im heutigen und erst recht zukünftigem Ausmaße reduzierte  Lebenswelt  ist keine.

 



14. Die unerträgliche Leichtigkeit des motorisierten Seins

 

Die Schwere des Erdenlebens zu überwinden und  das Sein leicht zu machen,  ist  ein Bedürfnis, das den Menschen nie verlässt.  Leichtigkeit hatte es in den Präferenzen der Menschen immer leicht, die Schwere immer schwer. Die Leichtigkeit  wird gesucht, die Schwere gemieden. Schwere gehört zum Realitätsprinzip, Leichtigkeit zum Lustprinzip. Der Ikaros-Mythos und Paradiesvorstellungen sind frühe  sprachliche Ausdrücke dieses Wunsches. Die Religionen versprechen diesen Zustand im „Himmel“, die motorisierte Technik hier auf Erden, die Unterhaltungsmedien helfen zumindest, die Schwere zu verdrängen. Übrigens ist dieses nie zu befriedigende Bedürfnis der Menschen nach  Leichtigkeit  ein wesentlicher Antrieb  für ständiges Wirtschaftswachstum.

 

Die  Schwere aus physikalischer Perspektive: Die Gravitationskraft bewirkt, dass alle Körper auf der Erde zum Erdmittelpunkt streben und dadurch die Eigenschaft der Schwere erlangen. Schwerelosigkeit   von Körpern ist prinzipiell nicht herstellbar, weil die Masse nicht reduzierbar ist, d. h. Masse kann nicht entmaterialisiert werden.  Aber  die  Schwerkraft eines Körpers verringert sich in ihren Wirkungen, wenn eine Gegenkraft auf sie einwirkt. Ist diese Gegenkraft  zumindest etwas größer als die jeweilige Schwerkraft eines Körpers, wird dessen Wirkung neutralisiert. Diese Gegenkraft kann  die direkt wirkende oder indirekt über Werkzeuge  eingesetzte  Kraft  sein. Sie kann aber auch von  motorenbetriebenen Maschinen  ausgehen, die  unabhängig von Menschen arbeiten. Die Schwerkraft eines  Körpers wird also – und das ist wichtig –  nicht beseitigt, sondern auf begrenzte Zeit neutralisiert. Gehen wäre also eine lebendige, direkt wirkende Gegenkraft,   Fahrradfahren eine lebendige, indirekt wirkende Gegenkraft und motorisierte Fahrzeuge eine vom Menschen unabhängige, mechanische Gegenkraft.

 

Die Schwere aus technischer Perspektive: Die technische Inanspruchnahme der  natürlichen Energien von Sonne, Wind und Wasser waren die ersten erfolgreichen Maßnahmen, sich von der Schwere der Dinge ein Stück zu lösen. Allerdings war nur die direkte Ausnutzung vor Ort möglich, wenn die Sonne schien, das Wasser floss und der Wind moderat wehte. War das nicht der Fall, war die  Überwindung der Schwere   nur über anstrengende und Schweiß treibende Arbeit von Arbeitern, Sklaven und Tieren möglich. Erst mit der Erfindung und Fortentwicklung des Motors werden diese Arbeiten überflüssig, denn Motore  sind prinzipiell an jedem Ort und zu jeder Zeit unbegrenzt einsetzbar. Die vollkommene Ersetzung menschlicher und tierischer Arbeit durch Motore ist bisher eine Utopie, steht aber  unmittelbar vor ihrer Vollendung.

 

Aber! Ist das Streben nach Leichtigkeit, also die Überwindung der Schwerkraft, ein uneingeschränktes, unhinterfragbares sinnvolles und weiterführendes Ziel?    Spaziergänger, Wanderer, Tänzer, Gesundheitsexperten,  Sportler, aber auch Handwerker und selbst Intellektuelle   wissen, ahnen zumindest, dass allgegenwärtige Leichtigkeit kein erstrebenswerter, ja letztlich ein inhumaner  Zustand wäre. Direkter Widerstand mit dem eigenen Körper und Geist gegen die Schwere der Dinge und Prozesse ist eine zentrale Fähigkeit des Lebens und   notwendige  Bedingung für die Erhaltung und Entwicklung von Fähigkeiten, die  Ich-Stärke  fördern und Möglichkeiten  schaffen, anderen zu helfen. Diesen Widerstand mit Hilfe von Motoren gegen Null fahren zu lassen, hat zur Folge,  dass der Mensch als Subjekt sich selbst antiquiert  (Günther Anders) und  überflüssig macht, so dass er  widerstandslos  in das Reich der Fakes und virtuellen Welten gestellt werden kann, wo er seine Restfähigkeiten und -bedürfnisse befriedigen darf. Aber hier gilt es,  sich vor unsinnigen Verallgemeinerungen zu hüten:  Es ist einerseits eine Ideologie zu behaupten, die Prozesse der Überwindung seien grundsätzlich lustvoll. Jede längere Wanderung kennt auch Phasen der Unlust. Andererseits gibt es in der Arbeitswelt sehr wohl Aufgaben, in denen der Einsatz von Motoren auch humanen Zielen dient.

Mein Fazit: Die unerträgliche Leichtigkeit des motorisierten  Seins  ist letztlich mit Leere gleichzusetzen. Leichtigkeit nähert sich dem Nichts. Das könnte der Tod sein. Deswegen sprach  Erich Fromm nicht ohne Grund von einer nekrophilen Gesellschaft, in der wir ein Teil sind.



„Da es  dem König aber wenig gefiel,

dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend,

sich querfeldein  herumtrieb,

um sich selbst ein Urteil über die

Welt zu bilden,

schenkte er ihm Wagen und Pferd.

"Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen",

waren seine Worte.

"Nun darfst du es nicht mehr",

war sein Sinn.

"Nun  kannst du es nicht mehr",

deren Wirkung.“

(G. Anders)

 

 

Boje Maaßen   

 

15. Den Motoren im Allgemeinen und dem motorisierten Individualverkehr im Besonderen müssen Grenzen gesetzt werden. Leere ohne körperliche und geistige Eigenbewegung bleibt stabil leer

 
Ausgang dieses Aufsatzes ist ein von mir verfasster Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „E-Bike - ein trojanisches Pferd“, der  eine implizite Motorenkritik enthält, die im Folgenden expliziert werden muss, weil Zukunft öffnend: Motorisierte Bewegungen ersetzen zunehmend die körperlich-geistigen Bewegungen der Menschen mit immer deutlicher sich abzeichnenden destruktiven Folgen für Mensch und Umwelt. Diesen im Ganzen unbemerkten bzw. verdrängten Prozess zu stoppen und zu wenden, ist  eine der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart. Und das bedeutet zumindest dreierlei: Die grundsätzliche Anerkennung des Vorrangs der Ökologie  vor  der Ökonomie, die Anerkennung der Eigenbewegung als humane Bedingung und politische Kategorie bei gleichzeitiger Reduzierung des Einsatzes von Motoren und  die Rehabilitierung eines differenzierten Wirklichkeitsbegriffs, der verschiedene Grade der Wirklichkeit unterscheidet.   

Ich staune, nicht so sehr in der Tiefe des  aristotelischen Staunens, sondern aus dem Gefühl der Schönheit des Lebens heraus, wenn  mein Nachbar bei schönstem Sommerwetter am Sonntagmorgen zum dreihundert Meter entfernten Bäcker mit dem Auto fährt, statt sich zu Fuß oder mit dem Rad auf den Weg macht.  Verallgemeinert: Ich staune,  dass ohne Not auf  Eigenbewegung im Alltag nicht nur  verzichtet,  sondern freudig als Fortschritt begrüßt wird. Eigenbewegung  überlebt  allerdings in Nischen wie im Sport, aber auch dort besteht die große  Mehrheit passiv aus  Zuschauern.  Die  Ersetzung  der Eigenbewegung durch Motore ist  eine drastische Verringerung des Lebensgefühls und der  Lebensqualität. Jede Erweiterung des motorisierten Individualverkehrs ist eine  Niederlage für Mensch und Umwelt. Die Fähigkeit und Realisation von Eigenbewegung ist  das höchste Gut des Menschen. Jedes Kind lebt es und jeder Kranke weiß es.

Motorenkritik im Allgemeinen und Autokritik im Besonderen ist deswegen fortschrittlich, während das Beharren auf den motorisierten Individualverkehr  konservativ im schlechten Sinne ist. Gleiches gilt für die gegenwärtig  angebotenen Waren und Dienstleistungen, die längst nicht alle sinnvoll und lebensnotwendig sind – und auch nicht glücklich machen. Das muss von Fall zu Fall analysiert und bewertet werden. Das verlangt die Fähigkeit zur Wertekritik, die zum Gegenstand die Qualität und den Umfang  der hergestellten Waren und Dienstleistungen hat, denn diese sind – man kann das in der heutigen Gesellschaft gar nicht  deutlich genug betonen - nicht eo ipso Güter im Sinne von gut. Auf der Ebene der Reflexion und Politik muss deshalb Wertekritik,  personalisiert in Heidegger und Frankfurter Schule, zeitlich vor der Mehrwertkritik,  personalisiert in Marx durchgeführt werden. Die Umkehrung macht, wie wir aus Erfahrung wissen, keinen Sinn. In dieser Analyse  ist  unaufhebbar die Frage nach der Erodierung des  Wirklichkeitsbegriffs  enthalten (dazu später), die erst  den Verzicht auf Eigenbewegung und die Zerstörung der Erde erklärt, weil der analysierbar tiefste Grund.

Es ist eine Position, die mit Sicherheit nicht zum Hauptstrom gegenwärtigen Denkens und vorherrschender Praxis gehört. Die folgenden Aussagen haben die Funktion,  die Relevanz der Motorenkritik und das Plädoyer für Eigenbewegung ins Bewusstsein zu heben und zu einer politischen Kategorie zu machen. Notwendigerweise zielt dieser  Anspruch auf das Ganze und handelt sich dadurch unvermeidlich „Lücken“  ein, die von den konstruktiven Lesern beseitigt werden müssen.  Aber zuerst der Leserbrief:

 

„E-Bike - ein trojanisches Pferd

Der  Artikel „Das ändert sich mit dem E-Motor“ (18. 8. 15)  erschien genau in dem Teil der von mir so  geschätzten Frankfurter Allgemeinen, wo er hingehört, nämlich in die Abteilung „Technik und Motor“.

Das E-Bike ist kein Fahrrad,  sondern ein momentan noch  partielles, aber in seiner Entwicklungslogik angelegtes Motorrad. Schon jetzt  erreicht es eine Geschwindigkeit von 45km/h  und wird  zunehmend  als Motorrad einsetzbar sein. Wer will und kann hier die weitere Entwicklung aufhalten?

Das Wesen des Fahrrads ist der Einsatz von körperlicher und geistiger  Eigenenergie (Ivan Illich spricht hier präziser von metabolischer Energie). Die Nutzung des Fahrrades setzt massiv menschliches Potential frei. Am Ende steht das für den Mensch so wichtige Identität stiftende Moment „Das habe ich geschafft“. Zudem ist das Fahrrad umweltkompatibel. Es ist nicht auf externe Energie mit all ihren Problematiken angewiesen. Die Hinwendung zum aktiven Menschen und die Sorge um die Umwelt sind übrigens die Gründe, aus denen  sich die Renaissance des Fahrrads speist.

Ich bin ohne Einschränkung für technische Verbesserungen am Fahrrad, aber vehement gegen seine Umwandlung in ein Motorrad. Das trojanische Pferd beherbergt ein Motorrad, kein Fahrrad. Leider wird diese tief greifende Täuschung von vielen Käufern und Medien  nicht reflektiert (übrigens auch nicht vom ADFC).“

 

A. Die  Eigenbewegung

Eigenbewegung, der zentrale, aber schwierige  Begriff dieses Essays, wird  in der Literatur immer noch  selten thematisiert. Ich nähere mich ihm über eine  indirekte  und eine direkte  Bedeutungsdimension.

 

Der Begriff Bewegung bei Newton 

Das von Newton aufgestellte Trägheitsgesetz besagt, dass jeder Körper im Zustand der Ruhe oder in der geradlinigen, gleichförmigen Bewegung beharrt, wenn nicht eine Kraft auf ihn einwirkt. Das Phänomen der Eigenbewegung ist unter diesen Voraussetzungen  nicht denkbar.  Definiert man Ruhe als einen Spezialfall der Bewegung mit der Geschwindigkeit Null, dann befinden sich  alle Körper in Bewegung. Da  das höchste übergeordnete System, das Weltall, sich bewegt und aus einer Bewegung, dem Urknall entstanden ist, gibt es den Zustand der Ruhe an sich nicht.   Ruhende  Körper sind also eine Abstraktion.

Die einwirkenden Kräfte, die  immer verkörpert sind,  haben ihren Ursprung in atomaren bis kosmischen Kraftfeldern. Bewegungen, die von natürlichen Energien (Wasser, Wind, Sonne) ausgelöst werden, sind zwar keine Eigenbewegungen, aus ökologischer Perspektive aber wertvoll, da sie keine schädlichen Emissionen ausstoßen. Der  Begriff „Energie“ konkretisiert den allgemeinen, ja metaphysischen  Begriff „Kraft“ und macht damit  Kraft anschaulicher und berechenbar.  Oft werden beide Begriffe synonym  verwendet.

 

 

Nur wo sich der Mensch am Menschen stößt und reibt,

entzünden sich Witz und Scharfsinn,

nur wo sich der Mensch im Menschen sonnt und wärmt,

entstehen Gefühl und Phantasie,

nur wo der Mensch zum Menschen spricht,

entsteht die Vernunft.

(Unbekannte afrikanische Quelle)

 

Die biologisch-geistige Bedeutung der Eigenbewegung

Da im System Newtons ein Körper sich nur dann bewegt, wenn eine Kraft auf ihn einwirkt, ist Eigenbewegung physikalisch gesehen ein unmöglicher Begriff. Es ist aber nicht so, dass im Zustand der Eigenbewegung keine äußeren Kräfte wirken. Alle Dinge der Welt werden bewegt. So sind auch Lebewesen dieser allgemein einwirkenden Kräfte unterworfen. Sie  sind aber auch in der Lage, zusätzliche Bewegungen durchzuführen, die außerhalb der von der Physik beschriebenen gesetzmäßigen Bewegungen liegen.

Die "zusätzlichen“ Bewegungen der Lebewesen und damit der  Menschen sind also von der  Sache und Bedeutung  her  Eigenbewegungen. Fremdbewegung nenne ich im Folgenden Transportiertwerden mit Hilfe von Motoren oder mit Hilfe der  Naturkräfte  Wind, Wasser und  Sonne oder,  wenn  Tiere  in Anspruch genommen werden.

Eigenbewegung wird in diesen Ausführungen  eingeengt auf größere Ortsveränderungen per Fuß und Rad in der privaten Zirkulation und Konsumtion. Die Situation in der Produktion wird wegen der Komplexität und Vernetzung mit allen anderen gesellschaftlichen  Praxen nicht behandelt.

Natürlich gibt es auch Formen der Eigenbewegung mit der Hand und dem gesamten Körper, die  hier ebenfalls nicht thematisiert werden. In Analogie zur Handlungstheorie könnte man übrigens  auch vereinseitigend von einer „Fußlungstheorie“ sprechen. 

Eigenbewegung ist also exakt der Bewegungsbegriff, der in  der Biologie  als ein entscheidendes Merkmal des Lebens bezeichnet wird. Ein wesentlicher Unterschied zwischen physischen Bewegungen und lebendigen Eigenbewegungen besteht darin, dass bei ersteren die Gravitationskraft den jeweiligen Körper  von Außen her in Bewegung setzt. Wenn Lebewesen die in ihrer Nahrung gespeicherte  Energie  in körpereigene umwandeln (Assimilation) und speichern, um bei Bedarf mit dieser Energie ihre  körperlich-muskulären und  geistig-neuronalen Eigenbewegungen  auszulösen, zu unterhalten  und zu steuern, handelt es sich um Eigenbewegung.  Das ist der Kern relativer Autonomie von Lebewesen und insbesondere des Menschen gegenüber der jeweiligen Umwelt. Ivan Illich bestimmt die dazu notwendige Energie als metabolische, die erst im Körper entsteht, während die exogene Energie den Lebewesen grundsätzlich unverfügbar gegenübersteht.  Kohle  kann man eben nicht essen. 

Für das Verständnis der Eigenbewegung ist es wichtig zu wissen, dass das menschliche Gewebe aus  Deck-, Binde-, Muskel- und Nervengewebe besteht. Insbesondere Muskel- und Nervengewebe sind für die Aneignung von Welt konstituierend. Das Nervengewebe ermöglicht Vernunft, Verstand, Gedächtnis, Gefühl, sinnliche Wahrnehmung und Wollen, kurz: Orientierung. Das Muskelgewebe ermöglicht interne und externe Körperbewegungen und Ortsveränderungen.

In welchem Verhältnis stehen das Nerven- und Muskelsystem zueinander? Auf der Ebene der Zellen lassen sich beide Systeme, die durch einen Hiatus (ein unüberwindbarer Graben) getrennt sind, eindeutig unterscheiden. Zwischen ihnen  gibt es keine substanzielle, aber eine funktionale Einheit durch  wechselseitige Beeinflussungen und Bestimmungen. Denn der Organismus einschließlich seiner Aufgaben ist auf eine gelingende Zusammenarbeit beider Systeme existenziell angewiesen – zumindest auf minimaler Ebene: Selbst der Fußballstürmer (hier Betonung auf Muskeln) muss wissen, welche Funktion ein Tor hat und wo es steht,  selbst der Philosoph (hier Betonung auf Nerven) muss zumindest seine Augen bewegen und die Seiten des Buches umschlagen bzw. die Knöpfe seines Computers bedienen, um zu bestimmten Informationen zu gelangen.

Aufnahme, Verarbeitung und Ausscheidung oder  Eindruck und Ausdruck sind strukturelle Merkmal von allen Lebensprozessen, so auch für die Eigenbewegung im weitesten Sinne. Eigenbewegung hat keine lineare, sondern eine zirkuläre Struktur: sie „fließt“  von Innen nach Außen und von Außen nach Innen, so dass Rückkoppelung entsteht.  Die Eigenbewegung ist nicht nur das isolierte Ergebnis einer ganzheitlichen Handlung, sondern wirkt  auch  auf  Körper, Geist und Seele des Sichbewegenden verändernd zurück. Als Metapher: Ausholende Schritte lösen weit reichende Gedanken aus. So entsteht  Identität.  Ausdrücke wie „Ich-kann-das-selber-Machen“ von Kindern  bis „Das-habe-ich Geschafft“ von Erwachsenen sind  Aussagen der Identität durch Eigenbewegung. Alle diese Prozesse setzen eine wie auch immer geartete und intensive Selbstwahrnehmung, die Wahrnehmung der Wahrnehmung,  voraus. Deshalb beruht übrigens Identitätsgewinn durch „gekaufte“ Fremdbewegung  auf Selbsttäuschung. Hier  entsteht eine Identität im täuschenden Schein.

Förderliche  Eigenbewegungen  gelingen  nur, wenn eine autonome Mitte vorhanden ist, die den körperlichen und geistigen Bewegungen orientierenden Halt gewährt. Halt ergibt sich aus einem Zusammenspiel von Körper, Geist, Seele und einer wohlmeinenden Umwelt. Diese Mitte ist keine Substanz, keine Konstruktion, sondern eine funktionale Fähigkeit (vgl. Ralph Konersmann). Die Mitte  kann man nicht sehen,  bestenfalls  fühlen oder  ahnen.  Die Mitte ist vielleicht ein anderer Ausdruck für das Ich, vielleicht sogar für die Seele. Übrigens hat jeder gute Text  eine explizite oder implizite Mitte, von der aus die  Wortfolgen bestimmt werden. Seit das Tier „Mensch“ versuchte, aufrecht zu gehen, musste es (das Tier), später er (der Mensch), eine funktionale Mitte entwickeln, die einen aufrechten Gang und das Streben nach Vertikalität   erst ermöglichte.   Diese  Mitte ist komplex, sehr fragil, stets in Gefahr, sich zu verlieren, stets auf Stabilisierungsleistungen angewiesen. Das erklärt die auf Dauer nicht zu beseitigende Unruhe des Menschen. Die Mitte, durch Eigenbewegung entstanden und stabilisiert,  ist der labile Kern des Menschen – aber es ist ein gewissermaßen dynamischer Kern mit guten und schlechten Zeiten. Die Folge der schlechten Zeiten: „Wir sind immer auf der Flucht“ (Magnus Enzensberger). Das ständig zunehmende  Reisen ist ein Ausdruck dieser Flucht und Beleg dafür, nirgendwo einen  „echten Ort“ gefunden zu haben.  „Die meiste Zeit bewegte sich seine bloße heimatlose Hülle ohne Verstärkung und Gewicht durch ein Selbst“ (Peter Handke). Der Mensch ohne Eigenschaften ist nicht fähig, tiefere Kontakte zu seiner jeweiligen Umwelt zu bilden, da durch die Abwesenheit von körperlicher und geistiger Eigenbewegung keine „Aufnahmeschale“ sich bilden konnte. Anders gesagt: Innere  Leere ist, keine lebendige Mitte zu haben, Grenzen weder  nicht zu sehen, nicht zu haben und nicht anzuerkennen. Passive Fremdbewegung und medial erworbenes Wissen, sei es relevant oder irrelevant,  kennen ebenfalls keine Grenzen, weil auch sie keine  Mitte haben. Das ist das  Faszinosum des motorisierten Fortschritts. Aber Erfahrungen, die immer eigene sind,  kann man nur in einem sehr begrenzten Ausschnitt der Welt im Sinne von Erleben machen (die Vorsilbe „er“ zeigt Vertiefung an). Jeder Nah- oder Fernurlaub  belegt das: Man erlebt nur eine begrenzte Anzahl von  Urlaubsbekanntschaften, nettem Personal, ästhetischen Gebäuden und schönen Landschaftsteilen. Zusätzliche Fahrten mit motorisierten Fahrzeugen vermitteln nur noch Oberfläche in äußerster Verdünnung.  Auch der zeitgemäße  Mensch muss erkennen, dass seine jeweilige Wirklichkeit  eine sehr begrenzte ist, wenn in ihm eine Mitte wirkt.

 

B. Der Begriff der Wirklichkeit

Ich bin davon überzeugt, dass Erfahrungen in einer lebensweltlichen Wirklichkeit zur unverzichtbaren condition humaine gehören.

Mein anfänglich geäußertes Erstaunen, dass das Aufgeben der Eigenbewegung und ihre Ersetzung durch Motore im Allgemeinen und durch das Auto im Besonderen nicht nur nicht auf  Zwang, sondern auf freudige Bejahung beruhe, ist meine  provokative Aussage zum gegenwärtigen Zeitgeist. 

Die traditionelle „rechte“ , gewissermaßen anthropologische Erklärung, diese Entwicklung entspräche der Logik der Technik, die letztlich die Mühen der Lebenserhaltung zum Verschwinden brächte und damit das Leben bequem mache, ist nicht von der Hand zu weisen, aber kommt als Hauptursache nicht in Frage. Die traditionelle „linke“ gesellschaftspolitische Erklärung, diese Entwicklung sei letztlich der kapitalistischen Verfassung der Gesellschaft geschuldet, die zwar uneingeschränkt dem technischen Fortschritt huldige, aber vor Fehlentwicklung durch  falsches Bewusstsein gefeit sei, kommt als  Hauptursache auch nicht in Frage. Sie liegt tiefer: Menschliches Denken und Praxis haben  sich zunehmend von einem lebensweltlichen Wirklichkeitsbegriff verabschiedet, der im Folgenden näher bestimmt werden soll.

Jede Handlung und damit jede Eigenbewegung finden in einer bestimmten Umwelt statt: Wenn ich jetzt durch den Wald laufe, ist die Wirklichkeit dieser Wald, der von mir durchlaufen wird. Wenn ich jetzt  durch die Stadt laufe, ist die Wirklichkeit diese Stadt, genauer der Teil der Stadt, den ich durchlaufe. Durch den  räumlichen und zeitlichen Bezug der Wirklichkeit auf die jeweilig vollzogene Eigenbewegung (bzw. Handlung)  ist die hier vorgelegte Bestimmung der Wirklichkeit, die ungelöste philosophische Frage,  fast unanständig vereinfacht. Ich subjektiviere den Wirklichkeitsbegriff und „objektiviere“ das Ich radikal. Die Position, entweder alles sei Wirklichkeit oder gar nichts, was ja auf Gleiches hinausläuft, wird dadurch verworfen. Der Wirklichkeitsbegriff  wird zu einem lebensweltlichen, indem ein Mensch und die jeweilige natürliche, soziale und kulturelle Umwelt eine interaktive Einheit mit der Mitte dieses  Menschen bilden. Denn Welt wirkt unaufhebbar auf den Menschen und umgekehrt bestimmt der Mensch unaufhebbar die Welt. Der handelnde Mensch und die jeweilige Umwelt bestimmen bzw. synthetisieren  die jeweilige Wirklichkeit. An der Wirklichkeit  sind Mensch und jeweilige Umwelt konstitutiv beteiligt.  Das ist eine Konstante.

In diesem lebensweltlichen Wirklichkeitsbegriff haben weder der körperlich und geistig still gestellte Mensch noch eine wie auch immer geartete objektive Wirklichkeit einen systematischen Platz. Aber der lebensweltliche Wirklichkeitsbegriff ist nicht die  einzige Wirklichkeit, denn es  gibt „neben“ dieser Wirklichkeit zumindest  a) eine  abstrakte in den Wissenschaften, b) die Warenwelt, c) eine virtuelle Wirklichkeit und d) eine reduktive Wirklichkeit im Modus des Transportiertwerdens. Und eine Wirklichkeit im Sinne des Dings an sich,  die uns Menschen nicht zugänglich ist und deshalb hier nicht weiter erörtert wird. Die lebensweltliche Wirklichkeit ist die einzige, die  der Mensch als Gattungswesen und als Individuum am Anfang erfährt. Später „erscheinen“ die anderen Wirklichkeiten  und nehmen unterschiedliche Funktionen wahr. Jede dieser Wirklichkeiten hat ihren sinnvollen Platz, es geht allein um ihre  Größe und ihren Einsatz. Meine begründete Furcht besteht darin, dass die lebensweltliche Wirklichkeit durch die reduktive und virtuelle Wirklichkeit ersetzt wird. Diese Wirklichkeiten,  konkretisiert als  motorisierter Individualverkehr und als Bildmedien,  gilt es, zurückzudrängen. Abstraktes Denken dagegen, ein Merkmal des Menschen, gilt es zu pflegen und weiterzuentwickeln, zumal es die Lebensvollzüge intensiviert und vor Irrwegen bewahren kann.

Im Folgenden soll versucht werden, den Begriff der lebensweltlichen Wirklichkeit zu bestimmen: Die Wirklichkeit an sich, ob über Ideen oder wie sie auch immer bestimmt wird,  ist wie bereits gesagt, dem Menschen nicht zugänglich. Diese Position radikalisiert:  Es gibt für den Menschen keine ihm gegenüberstehende objektive Wirklichkeit. Es macht auch keinen Sinn,  sie als gegeben vorauszusetzen. Aber, obwohl nicht zugänglich, wirkt sie auf den Menschen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, sich ihr zu nähern, allerdings in sehr verschiedenen Graden: Der Einsatz von möglichst allen Sinnen und möglichst vieler auf das Ding  bezogener Bewusstseinsinhalte ermöglicht intensive  Annäherung. Die Rolle des Ichs im Prozess  der jeweiligen Wirklichkeit-Entstehung  kann sehr verschieden sein. Wenn wenige Sinneseindrücke und Erfahrungen vorliegen,  ist die Einbildungskraft des Ichs als Quellpunkt von Wirklichkeit gefragt.  Wird diese nicht aktiv, wird die Wirklichkeit schwach und verblasst schließlich. Gleiches passiert, wenn das Ich schwach ist, sei es ungebildet (wortwörtlich) oder schlicht müde. Ob die jeweilige Annäherung letztlich wirklich eine sei, kann man zumindest bis jetzt nicht  beantworten, weil hier keine Metatheorie vorhanden ist. Wenn Wahrheit  eine Erkenntnis, und Wirklichkeit  ein Objekt der Erkenntnis ist, dann gilt: Weder Wahrheit und Lüge noch Wirklichkeit und Virtualität sind  identisch. Die Übergänge von dem einen Reich  zum anderen sind oft dunkel bzw. werden verdunkelt. Ihre Kerne aber sind eindeutig: Diese Einsicht ist ein Plädoyer für Kontinua.  Das ist eine alteuropäische Wahrheit, die trotz großer Abwehr immer und überall wieder auftaucht. Gäbe es sie nicht, müsste man sie erfinden, denn sie ermöglicht letztlich die Unterscheidung von Gut und Böse.

Daraus ergibt sich: Die lebensweltliche Wirklichkeit ist das Fundament und der elementarer Bezugspunkt des Menschen. Eigenbewegung und Umwelt sind konstitutiv  für diese Wirklichkeit. Die Umwelt ist  nicht die ganze Wirklichkeit, sondern ein Teil von ihr. Nicht der Mensch, sondern die Synthese von Mensch und Umwelt ist das eigentliche Subjekt. Konkret: Autofahrer und  Kreuzfahrtpassagiere  sind nicht in der von ihnen durchfahrenen Umwelt. Die  Umwelt des Autofahrers ist das Auto und die Umwelt des Schiffpassagiers ist das Schiff. Das Auto wirkt auf den Autofahrer, das Schiff auf den Passagier.  Diese  Verhältnisse bilden zwei verschiedene Wirklichkeiten. Weil hier die Eigenbewegungen in ihrer Wirkkraft so gering sind,  entsteht keine lebensweltliche Wirklichkeit, sondern  bestenfalls eine stark reduzierte Realität, die nicht mehr ganzheitlich wirkt.

Diese Interpretation des Wirklichkeitsbegriffs entspricht strukturell der Auffassung Goethes, dass eine direkte Anschauung der Natur möglich sei. Sie  entspricht dem  auf der empirischen Anschauung basierenden Entwurf, wonach das Sein der Dinge von der Anschauung untrennbar, ja sogar mit dem Wahrgenommenen identisch sei (esse est percipi). Trennt man aber analytisch Anschauung und Sein und ist sich dieser Trennung nicht bewusst, entsteht falsches Bewusstsein: The map is not the territory (Alfred Korzybski). Aktualisiert: Weder die im Fernsehen gezeigte Welt noch die im Auto erfahrene Landschaft sind keine Wirklichkeiten im lebensweltlichen Sinne.  Das Bewusstsein für diese Differenz hat übrigens auch die Begriffe Natur und Kultur ergriffen.

Der lebensweltliche  Wirklichkeitsbegriff ist der ursprüngliche und immer noch  die entscheidende Wirklichkeit. Der  lebensweltliche Wirklichkeitsbegriff  ist die primäre Wirklichkeit, der abstrakte Wirklichkeitsbegriff ist aus dem lebensweltlichen hervorgegangen.

Die Umwelt hat in meinem Ansatz durch die Bestimmung der Wirklichkeit als einer Einheit von Mensch und jeweiliger Umwelt eine  hervorragende Bedeutung. Nicht die Bewegung an sich, sondern die Eigenbewegung in einer einzigartigen Umwelt ist wie gesagt das Fundament und Quelle des Lebens und der Persönlichkeit. Eigenbewegung in der jeweiligen Umwelt bilden eine untrennbare Einheit, d. h. die Qualität der in der Eigenbewegung mitschwingenden Gedanken und Gefühle einerseits und die Eigenschaften der jeweiligen Umwelt andererseits sind das Ganze. Akzeptiert man diesen Ansatz, wird eine isolierte Umwelt zu einem  reinen,  kontingenten und abstrakten Gedankending bzw.  Schattending. Zur Eigenbewegung  gehört also  nicht, reale oder virtuelle  Welten  vom Sessel aus zu betrachten (auf dem Kreuzfahrtschiff durch den Suezkanal) oder auf Knöpfe (Filme über die Natur im Fernsehen Tierfilme) und Gaspedale (mit dem Auto durch Europa) zu drücken.

Eigenbewegung hat diejenige Geschwindigkeit, die die intensivsten Wahrnehmungen der jeweiligen Umwelt ermöglicht.

Dieser Wirklichkeitsbegriff ist theoretisch  im gegenwärtigen Mainstream der Erkenntnistheorie an den Rand gedrängt worden, praktisch nicht mehr handlungsorientierend oder gar normierend, denn in der ziel- und wertlosen Welt  ist alles möglich. Vom Menschen geschaffene Konstruktionen, Waren und Medien füllen das Vakuum. Alles ist gleichwertig. Über Sinn und Unsinn kann man nicht vernünftig diskutieren, so auch nicht über die jetzt stattfindende Veränderung und Ersetzung der Lebenswelt durch zunehmenden Motoreneinsatz - insbesondere in den Verkehrsmitteln und in den Medien.

Das erklärt auch die vorherrschende unreflektierte und deshalb resignative Haltung:   Es lohnt  sich nicht, sich für die Eigenbewegung als Selbstwert einzusetzen oder gar zu kämpfen, weil  Wirklichkeit immer ein kontingentes Konstrukt sei. Wert habe sie nur für den einzelnen Menschen. Deshalb hat sich etwas wie eine universalisierte repressive Toleranz durchgesetzt: Individueller Spaß und Lust genügen zur Legitimation jeglichen Verhaltens. Everything goes!

Differenziert man hier nicht wertend, kommt es  zu der so verhängnisvollen  Gleichsetzung  und Gleichwertung von lebendiger Eigenbewegung und motorisierter Fremdbewegung. Diese  Gleichsetzung äußert sich dann  in einer Formulierung wie „Ich bin mobil“, obwohl man still gestellt ist. Zwischen der durch Eigenbewegung im weiten Sinne entstandenen  Wirklichkeit und der im Modus der Fremdbewegung entstandenen Wirklichkeit gibt es ein Kontinuum mit abnehmender Wirklichkeit, deshalb ist eine eindeutige Zuordnung nicht immer möglich. Festpunkte auf diesem Kontinuum wären: reine Natur  – Lebenswelt  – inszenierte Realität -  virtuelle Welten. Wichtig: Nicht jede  „aktive Einheit“ muss eo ipso für das Objekt der Aktivität günstig, ja, es kann  tödlich sein, denn ein guter Jäger kennt sein Wild.

Der lebensweltliche Wirklichkeitsbegriff wird zunehmend relativiert, ja die  Wirklichkeit wird überhaupt in Frage gestellt. „Warum soll der radikale Konstruktivismus nicht Recht haben?“  könnte man  methodenpluralistisch tolerant dieser Frage aus dem Weg gehen. Will man die Eigenbewegung retten und stärken, so meine Position, muss man parallel gleichzeitig Begriff und Sache der Wirklichkeit  verteidigen. Mit dem Verschwinden der  Wirklichkeit verschwindet gleichzeitig  die Differenz zwischen Leben und Motor. Aber gerade diese Differenz ist für mich die alles entscheidende, die  über die Zukunft der Erde und der Menschheit entscheidet. 

Aber auch die hier vorgestellte Route ist nur auf dem ersten Blick eine sichere. Genau besehen ist es eine höchst gefährliche Fahrt  zwischen den verschlingenden Meeresungeheuern Scylla, hier die Relativität, und Charybdis, hier der Absolutismus. Eine eindeutige Synthese aus Relativismus und Absolutismus, die hier verlangt wird, ist zumindest bis jetzt noch nicht gefunden bzw. entwickelt worden. Falsch und richtig sind die ständigen Begleiter dieser Fahrt. Aber diese Fahrt muss unternommen wird, unterlässt man sie, macht man sich schuldig. Sich nicht entscheiden ist kein Weg, sondern Fatalismus und Feigheit.

Nicht unvorbereitet sich auf den Weg machen. Jederzeit können sich falsche Wege, oft unbemerkt, öffnen oder entwickeln. Es bedarf der Klugheit, Wissen, Erfahrung, Selbstkritik, Bescheidenheit,  kurz: einer  Entscheidungskompetenz mit entsprechendem reflexiven Niveau, um unverletzt im Hafen zu landen. Aber diese Hafen ist nur das Ergebnis einer (1) Fahrt: die Zahl der Fahrten ist groß. Aber tröstlich  muss gesagt werden, dass viele  Dinge und Prozesse im Alltag gar nicht auf ihren Wirklichkeitsgrad hinterfragt werden müssen. Und tröstlich auch der Labsal spendende Konjunktiv, der es  erlaubt, Wirklichkeit und Wahrheit  in Als-Ob-Aussagen (Vaihinger) auszudrücken, d. h. nicht die ganze Verantwortung für sie zu übernehmen.