DIE POSITION:
Unter “Selbst- und Eigenbewegung” werden hier Ortsveränderungen verstanden, die mit eigener Muskelkraft durchgeführt werden. Gehen und Fahrradfahren sind deren Hauptformen.
Der Mensch wird bewegt bzw. bewegt sich auf drei verschiedenen Weisen: a) im Modus der Fremdbewegung (Auto, Zug, Flugzeug usw.), b) im Modus der Scheinbewegung (Filme, Fernsehaufzeichnungen usw.), c) im Modus der Eigenbewegung.
Klimawandel und Fremdbewegung bedingen einander. Ein Lösungssegment heißt Eigenbewegung.
Maxime: So viele Aufgaben und Funktionen wie möglich im Modus der Eigenbewegung durchführen, wo wenig wie nötig im Modus der Fremdbewegung.
Ziel ist zu helfen, das reale Leben gegen ein Leben im Scheine, zu stärken. Ein Leben im Passivum ist ein Widerspruch. Ein Leben in virtuellen Welten, sei es in der Werbung und im Second Lift, ist kein Muß. Das reale Leben ist ein positiver Wert, den es zu verwirklichen gilt.
Nach Aristoteles ist ein Freund jemand, der das Bessere und Gesündere im anderen befördert. Das kann auch Kritik beinhalten. In diesem Sinne verstehe ich meine Aussagen.
Das mögliche Verdienst vorliegender Gedanken besteht zum einen
darin, Helligkeit in Bereiche und Verbindungen zu bringen, die wichtig
für die Zukunft sind, zum anderen zu zeigen, dass Nachhaltigkeit
fördernde Verhaltensbewegungen wie Eigenbewegung in natürlichen,
sozialen und kulturellen Alltagswelten ohne persönliche Verluste
realisierbar sind, ja ein Mehr an Lebensqualität zur Folge haben.
Letzteres wird nicht abstrakt behauptet, sondern von mir in
Alltagssituationen quasi experimentell gelebt. Leben ist nur dann
erfüllt und gestaltet sich nur dann nachhaltig, wenn ein Leben auf
anderes Leben trifft, sei es Mitmensch, Tier oder Wald. Deswegen lebt
ein Mensch im Umgang mit dem Auto, Fernseher oder Konsumartikel nur
kurzfristig auf - nach anfänglicher Begeisterung folgt die oft nicht
eingestandene Langeweile, weil Täuschung vorliegt. Zuallererst also
finden die Leser Analysen, Gedanken und Vorschläge, die erfülltes Leben
erst ermöglichen. Negativ ausgedrückt: Es werden die Bedingungen
benannt, die erfülltes Leben verhindern, ja zerstören.
Mein Ansatz verlangt letztlich Änderungen im habitualisierten Handeln.
Aber Gewohnheiten infrage zu stellen oder gar zu ändern, fällt uns
Menschen offensichtlich sehr schwer. Deswegen trifft diese Position,
obwohl sie ein Mehr an Lebensqualität bietet, auf sehr viel Widerstand
bzw. wird nicht zur Kenntnis genommen.
Blitzlichtartige Einführung in die Thematik:
In der Alltagspraxis wird die Eigenbewegung immer häufiger und umfangreicher durch die Fremdbewegung ersetzt. Zum Kaufmann geht man nicht zu Fuß oder benutzt das Rad, sondern fährt mit dem Auto. Diese Transformation der Alltagsbewegung ist aber nicht nur eine private Angelegenheit, sondern im Gesamt ihrer Auswirkungen auf den Menschen selbst und auf seine natürliche, soziale und kulturelle Umwelt höchst destruktiv. Destruktionen, die im individuellen und kollektiven Bewusstsein nicht nur verdrängt bzw. vergessen, sondern als Fortschritt begrüßt werden. Es gibt für diese Abläufe nahezu kein kritisches Bewusstsein und keine Abwehr. Sie haben global alle Gesellschaften in allen Schichten in ihren kulturellen und politischen Ausprägungen erfasst.
Orientierende Aussagen zur hier vertretenen Position:
-
Meine Theorie der Eigenbewegung umfasst zugespitzt: a) Erst durch Eigenbewegung wird der Mensch zum Menschen und b) Erst durch Eigenbewegung wird der destruktive Druck auf die Erde zurückgedrängt.
- Es geht um die Stärkung des Lebens, der Vita activa, der Selbstkonstruktion, der Aneignung von “wirklicher Wirklichkeit” - es geht um eine angestrebte geglückte Einheit von Mensch und Umwelt.
- In der Eigenbewegung ist ein hohes Potenzial an Freiheit enthalten.
- Nur in der Eigenbewegung entstehen und erhalten sich Landschaft, Dörfer und Städte, Heimat und Urbanität. Wer geht oder Rad fährt, nimmt wahr und wird wahrgenommen, d. h. ist sichtbarer Teil des Ganzen.
- Fernsehen und Buch lesen sind wie das Auto Kontaktvernichter - aber mit jeweils anderen Verlusten und Gewinnen.
- Eigenbewegung fällt leichter, wenn sie mit Sinnhaftigkeit und Bedeutungen verknüpft wird.
- Wirklichkeit und Wirklichkeit als Zahl sind nicht identisch. Gleiches gilt für Eigenbewegung und Fremdbewegung.
- Eigenbewegung stärkt die körperliche Kondition und psychische Stabilität.
- Eigenbewegung legt Grundstrukturen für das Denken.
- Das Verschwinden der Eigenbewegung ist nicht ohne Rekurs auf die warenproduzierende Gesellschaft zu erklären.
- Ohne unterstützende “Auswilderungsprogramme” wird die Transformation von Fremd- zur Eigenbewegung nicht gelingen.
Physiologische Grundlagen für eine Theorie der Eigen- und Fremdbewegung
Die Schwierigkeit, die Struktur dieses Buch zu verstehen, besteht darin, dass so verschiedene Dimensionen und Aussagen wie Übergewicht, Unwirtlichkeit der Städte, Vereinzelung der Menschen, Konsumorientierung, Landschaftszerstörung, aber auch Glück, Gesundheit, Funktionieren usw. nicht isoliert dargestellt, sondern auf das Zusammenspiel von Muskeln mit Nerven zurückgeführt, neu bestimmt und bewertet werden. Diese neuartige Auffassung entsteht dadurch, dass die Muskeln im Handeln und insbesondere in psychischen Prozessen des Fühlens, Wertens, Wahrnehmens, Erinnerns und Denkens entschieden aufgewertet werden. Muskeln und Nerven sind konkret, jeder Mensch hat sie und kennt sie, sie sind also gar nicht „theoretisch“. Die Verstehensschwierigkeiten des Buchinhaltes liegen wohl nicht am Stil, sondern in den ungewohnten Verknüpfungen, wenn beispielsweise die Unwirtlichkeit der Städte auf unsere Muskeln und Nerven zurückgeführt werden. Das nachzuvollziehen verlangt Offenheit und Unvoreingenommenheit. Denn ich behaupte, dass viele, nicht alle! Probleme der Gegenwart und viele, aber nicht alle Momente der Zufriedenheit und des Glücks vom gelingenden oder nicht gelingenden Zusammenspiel der Muskeln und Nerven abhängen.
Man unterscheidet beim menschlichen Gewebe zwischen Deck-,
Binde-,
Muskel- und Nervengewebe. Insbesondere Muskel- und Nervengewebe sind
für die Aneignung von Welt konstituierend. Das Nervengewebe ermöglicht
Vernunft, Verstand, Gedächtnis, Gefühl, sinnliche Wahrnehmung und
Wollen, kurz: Orientierung. Das Muskelgewebe ermöglicht interne und
externe Körperbewegungen und Ortsveränderungen.
In welchem Vrhältnis stehen das Nerven- und Muskelsystem zueinander?
Auf der Ebene der Zellen lassen sich beide Systeme, die durch einen
Hiatus, einen unüberwindbaren Graben getrennt sind, eindeutig
unterscheiden. Zwischen ihnen gibt es keine substanzielle, aber eine
funktionale Einheit durch wechselseitige Beeinflussungen und
Bestimmungen. Denn der Organismus ist auf eine gelingende
Zusammenarbeit beider Systeme existenziell angewiesen - zumindest auf
minimaler Ebene: Selbst der Fußballstürmer (hier Betonung auf Muskeln)
muss wissen, welche Funktion ein Tor hat und wo es steht, selbst der
Philosoph (hier Betonung auf Nerven) muss zumindest seine Augen bewegen
und die Seiten des Buches umschlagen bzw. die Knöpfe seines Computers
bedienen.
Wahrnehmung ist auf Bewegung und umgekehrt Bewegung auf Wahrnehmung
angewiesen. Als vereinfachtes Bild: Die Muskeln “tragen” die Nerven,
die Nerven “verstehen” die Muskeln. Jeweils auf sich allein gestellt,
vermögen sie bezüglich der Erkenntnis nichts auszurichten.
Muskuläre und neuronale Kultur
Trotz der lebenserhaltenden und damit notwendigen
Zusammenarbeit von
Muskelsystem und Nervensystem, die eine funktionale Einheit bilden, ja
bilden müssen, behaupte ich, dass beide Gewebe idealtypisch in Theorie
und Praxis zwei verschiedene Lebensorientierungen, ja Kulturen
hervorgebracht haben: eine neuronal und eine muskulär orientierte
Kultur. Im Alltag dominiert die neuronale Kultur, während die muskuläre
Kultur überwiegend durch sportliche Aktivitäten realisiert wird.
Die gegenwärtig dominierende Aneignung von Welt ohne muskuläre
Tätigkeit stellt eine große Gefahr dar, bis hin zur möglichen
Abschaffung des Menschen im Sinne bisheriger Menschenbilder. Der Mensch
wird antiquiert. Es kann also gar nicht intensiv genug betont werden:
Beim Gehen und beim Autofahren entstehen zwei verschiedene “Welten” und
zwei verschiedene “Menschen”: Im Auto haben die Fahrenden, von
reduzierten visuellen Außenkontakten abgesehen, nur Kontakt mit der
Autoinnenwelt. Das Auto hat mit der Umwelt lediglich substanziellen
Kontakt über vier dynamische Punkte, d. h. mit den vier Rädern, die in
der Drehung den Untergrund berühren. Für den Menschen entsteht
insbesondere kein taktiler Kontakt mit der Außenwelt - der ersten und
tiefsten unverzichtbaren Grundlegung jeglicher Bewegung. Der Verlust
besteht in zweierlei: Der Mensch verliert sich selbst, und er verliert
Welterfahrung.
Bedeutung der Energie im Vermittlungsprozess
Eigenbewegung, im Wesentlichen auf Muskel- und Nervengewebe
angewiesen, funktioniert nur, wenn ihr Energie zur Verfügung steht.
Diese Energie bewirkt, dass aus Strukturen ( Gewebe) Prozesse
(Bewegungen) werden. Als Muskelenergie ist sie keine neutrale,
entqualifizierte, homogene Energie, sondern von inneren Anlagen und
äußeren Bedingungen geformt und gerichtet. Bei den inneren Anlagen
stellt sich die Frage, ob diese Formung und das Gerichtetsein den
muskulären und neuronalen Strukturen, gewissermaßen dem “Energiebett”
(den physiologischen Strukturen) zuzuordnen sind, oder ob die
spezifischen Qualitäten bereits in der jeweiligen Energie vorhanden
sind oder zwischen beiden eine konstituierende Wechselbeziehung
besteht. Diese metaphysischen Fragen bleiben hier unberücksichtigt, was
aber nicht heißen muss, dass diese Dimension nicht existiere oder
unwichtig sei. Es geht “nur” um die äußeren Formungsprozesse, die durch
unterschiedliche Elemente der Umwelt über muskuläre Tätigkeiten im
Körper und in der Psyche des Menschen in Gang gesetzt werden. Ein
Beispiel: Ich gehe eine Treppe mit hohen Stufen hinauf. Diese Treppe
bildet sich in mir ab, denn die äußere Situation formt über muskuläre
Tätigkeit die Körperenergie und - das ist das Entscheidende - sie
beeinflusst den Geist direkt. Wahrscheinlich stellt sie in diesem Fall
die strukturelle Grundlage des geistigen Inhalts dar. Zugespitzt
gedacht: Die Körperenergie ist der Geist. Erst in ihr und aus ihr
konstituieren sich Körper, Geist und Seele, ja existenzielles
Selbstbewusstsein.
Deutlicher und verständlicher wird diese zentrale Position, wenn man
ihr Gegenteil, die in Maschinen und Motoren wirkende Fremdenergie
analysiert. Ihr Wirken verändert im Falle des Autos die Insassen nicht
direkt. Die Energie, die das Auto bewegt, fließt nämlich an den
Fahrenden vorbei, berührt sie nicht. Diese Energie macht keinen
Unterschied in den Fahrenden, egal ob sie in einem kleinen oder in
einem großen Auto fahren. Aber das hat, paradox formuliert, zumeist
unbewusste, indirekte Wirkungen. Es wird fatalerweise gelernt: Du
kannst Welt erfahren ohne wirkliche, taktile Begegnung, ohne
körperliche Anstrengung. Eigenbewegungen sind überflüssig. Eine
Autofahrt ist in Bezug auf Wahrnehmungen letztlich eine Bewegung ohne
Weg. Eine Bewegung ohne Weg ist idiotisch (grch. idiotes “Privatmann,
Stümper”).
Hinweise:
In
"Radio-Flensburg" ist unter "Salonfähig" eine
informative und amüsante Sendung von Richard Wester u. a. zu meinem
Buch enthalten, die als Podcast abgehört werden kann (mein Part beginnt
28.51 min.).
In
dem unabhängigen Onlinemagazin http://iley.de
findet man mehrere Artikel von mir u. a. mit dem
Titel "Nostalgischer Rückblick in konstruktiver Absicht", "Sich bilden
und aneignen". "Zum Wesen des Gartens", "Bewegung im Alltag macht die
Fahrt ins Fitness-Studio überflüssig" "Welcher Lebenstandard ist wünschenswert?" und "Der
Tod des Autos wäre das Ende vieler Krankheiten".
Inhaltlicher Ausgangspunkt dieser Beiträge ist: Maaßen, Boje: geht los. Argumente für Eigenbewegung in Alltagswelten und eine Kritik des Autos.
Ergänzungen, Kritik und Lob erwünscht an "boje.maassen@t-online.de".
Wenn Du meinst, diese Homepage enthält (auch) Wesentliches, dann empfehle sie weiter.