Stand: 21. 4. 23

         „Fertige Beiträge zur Zeitanalyse“ -  Einladung statt Aussagen im Indikativ  

 Begriffe, von denen ich denke, dass sie zum Verständnis der ökologischen Krise und zur Erkenntnis der Ursachen   eines entfremdeten Lebens beitragen


1.   
„Fertig" in Gänsefüßchen, weil es nichts Fertiges gibt, aber als Bestrebung sehr wohl. Die hier vorliegenden Beiträge verstehen sich als solche. Da bisher unveröffentlicht, suchen sie eine „Heimat“. Sie finden sie unter folgenden Bedingungen: Die Heimat muß Stil haben. Wenn das der Fall ist, kann sie sofort übernommen werden, allerdings bittet der Autor um den Hinweis auf Autorenschaft und wo und wann der in Frage kommende  Artikel erscheint.

2.   
„Einladung statt Aussagen im Indikativ“ “ soll anzeigen, dass die Aussagen nicht indirekt über den Indikativ beanspruchen, wahr zu sein, denn das sollen die Leser entscheiden.  

3. Zum unten stehenden Text mein Verständnis von Philosophie: Fühlen, Denken und Handeln sind immer von Grundwerten (Grundüberzeugungen) abgeleitet. Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, ist, diese Grundwerte  zu bestimmen, zumindest sich ihnen zu nähern, was in der Regel wohl hohe Abstraktionen verlangt.

Inhaltsangabe

1. Naturschönheit - Verstandesgeometrie - Warenästhetik
2. Zeitgemäße Mobilität sind Bewegungen ohne menschlichen Körper
3. Zum Verhältnis von ökologischer Politik und Sozialpolitik
4. Abstraktion als Gewinn und Verlust. Eine Zeitanalyse
5. Elektrifizierte und biologische Nachteulen
6. Subjektivierung statt Wahrheit. Persönliche Anmerkungen zur Religion
7. Sozial-ökologischer oder ökologischer Politikansatz
8. Verhexung der Sprache durch die Gleichsetzung von Realabstraktionen und Naturdinge
9. Ein ökologisches Manifest
10. Ökologie und politisches Denken - Was muss sich ändern?
11. Die vernachlässigte Ressource der Nachhaltigkeit: Du kannst mehr, als Du denkst! Geschichten und Reflexionen zum Gehen





Inhaltsverzeichnis


Essay Nr. 1

Naturschönheit, Verstandesgeometrie und Warenästhetik



 Der dominierende Blick auf ökologische Probleme und auf den Klimawandel beruhte  bisher hauptsächlich auf rational-empirischen Erkenntnissen. Im Folgenden  führt vielleicht ein  Blick von der Schönheit her zu neuen Perspektiven und Lösungen. Ich vermute und hoffe, dass durch  diesen Blick wesentliche Dimensionen des ökologischen Themas sichtbar werden.

 

A. Die Hauptthese

 

Ausgang dieses erhofften Erkenntnisgewinns ist die These, dass es drei unabhängige Quellen für die Empfindung und Wahrnehmung von Schönem gibt: die  eine liegt in der Natur,  die andere im menschlichen Verstand und die dritte in den jeweils herrschenden Kräften in der  Gesellschaft. Alle drei bilden in Analogie zum   Duplex einen Triplex,  d. h. sie stehen in einer Entweder-oder-Beziehung. Was aber ist Naturschönheit, was Verstandesgeometrie, was Warenästhetik?

Die in der Natur liegende Schönheit ist die Naturschönheit. Die vom menschlichen Verstand geschaffene  geometrische Schönheit ist bei genauerer Betrachtung anfänglich nicht Schönheit, sondern besteht aus vom Verstand hervorgerufenen geometrischen Strukturen, die erst im Nachhinein als schön oder eben nicht als schön bewertet werden, sondern als reine Strukturen stehen bleiben. Diese Ästhetisierung  beruht auf menschlichem Urteilen. Die jeweilige dominierende  gesellschaftliche Schönheit ist die von Wolfgang Haug in seinem gleichnamigen Buch bezeichnete Warenästhetik, die sich primär auf das Gestalten der Konsumgüter bezieht. Letztes Ziel ist hier nicht die Schönheit an sich, sondern die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, gekauft zu werden, also Schönheit als ein Hilfsmittel. Das Kunstschöne ist also in die Waren „gesprungen“ und hat in ihnen eine Eigenlogik entwickelt, nicht als statische Schönheit, sondern als eine dynamische.

Die Naturschönheit ist  primär schön, die geometrischen Strukturen werden gegebenenfalls erst durch ein ästhetisches Urteil sekundär schön, die Warenästhetik entzieht sich jeder Bestimmung, da sie eine Funktion des Marktes ist.   Es handelt sich um drei, vom Herkommen vollkommen verschiedene Schönheiten:  eine gegebene, eine von individuellen  Menschen und eine von der dominierenden Gesellschaftsmacht geschaffene, die wiederum einer ontologischen und einer anthropologischen  Erkenntnisweise entsprechen. Rudolf Steiner und Friedensreich Hundertwasser haben aus meiner Sicht  in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen Naturschönheit und geometrischer Schönheit nicht begriffen,  weil sie etwas vermitteln wollten, was nicht vermittelbar ist.  Aber beide Formen können sehr wohl nebeneinander existieren.

Die folgenden unsystematisch vorgestellten Notate sollen die Hauptthese vertiefen, zumindest sie plausibler und damit verstehbarer machen. Sie sind den drei Polen der Hauptthese zugeordnet, was aber nicht immer möglich ist, weil oft Überschneidungen vorliegen.

 

B. Zur Sache und Begriff der Schönheit

 

  1. Die Frage, was  Schönheit sei bzw.  was etwas schön macht, hat sich die Menschheit schon immer gestellt. Dürer resignierte: „Was aber die Schönheit sei, daß weiß ich nit.“ Über Umschreibungen und Vermutungen ist man, soweit ich es verstehe, noch nicht hinausgekommen. Jedenfalls ich nicht. Von daher formuliere ich in den folgenden Ausführungen ausschließlich Notate. Einige wenige von ihnen haben vielleicht aphoristischen Charakter,  um zumindest der Notwendigkeit einer systematischen Darstellung zu  entgehen. Aber ich gebe gerne zu, dass hier die Möglichkeit der Rationalisierung von Unfähigkeit ins Spiel kommt. Wenn ich nicht auf die oben dargestellte Grundvermutung gekommen wäre, dass die Schönheit drei verschiedene Ursprünge habe, hätte ich nie die Chuzpe besessen, mich öffentlich zur Ästhetik zu äußern.
  2. Begrifflich sperrig zur Naturschönheit und geometrischen Schönheit ist das Kunstschöne. Es kann beide zum Gegenstand haben. Wozu gehört das Kunstschöne, dargestellt in objektivierter Schönheit in Form von Kunstwerken? Von der Form subjektiv, vom Inhalt Natur oder Geometrie. Natürlich gibt es „vertiefende“ Einzelbilder (Gemälde) und auch filmische  Kunstwerke, aber Bilderfluten und Serienmails sind Zeit- und Intelligenzvergeudung. In  meiner Definition sind Bilder von der Form her geometrische Strukturen, weil auch das Medium menschlichen Ursprungs ist.
  3. Schönheit entsteht a) durch Tun (Involviertheit), b) durch leibliches Spüren oder c) durch Atmosphären in gestimmten Räumen. Die Subjekt-Objekt-Trennung gibt es hier nicht, sondern immer nur Ereignisse. Die Schönheit der Natur, obwohl vorhanden, muss auch erst bemerkt werden, wobei Bemerken nicht Schaffung ist.
  4. Als ein untrügerisches Merkmal zur Erkennung von Schönheit gilt seit Kant „interesseloses Wohlgefallen“. Wobei mir  Interesselosigkeit  zu negativ, zu subjektiv, zu inhaltslos ist, um Schönheit zu bestimmen und zu erklären. Ist Sinnlichkeit nicht immer interessegeleitet, weil sie der Selbsterhaltung dient?
  5. Naturschönheit ist objektiv  in der Welt im Sinne von Ontologie.
  6. Schönheit dient letztlich der Orientierung: Zur Schönheit fühlt man sich hingezogen. Vielleicht liefert Ästhetik bessere Orientierung als die Vernunft. Die Schönheit der Natur ist autonom, die Schönheit des Verstandes  ist es nicht. Sie dient dem Überleben des Menschen, ist also nicht autonom.
  7. Schönheit hat in der Wahrnehmung in der Regel keine lange Dauer im Sinne von Präsenz. Das macht sie so anfällig.
  8. Der Begriff der Natur hat in den  Naturwissenschaften leider die Eigenschaften von  leblosen Stoffen.
  9. Geometrie beruht im Sinne von  Kant auf gattungsspezifischer Subjektivität. Naturschönheit ist objektiv  in der Welt im Sinne von Ontologie. Geometrie und Natur bzw. Leben  sind nur auf Zeit und in der Sache kompatibel, zumindest beeinträchtigen geometrische Strukturen die Natur und das Leben. Zwischen geometrischen Strukturen  und Natur gibt es keine Einheit, aber verschiedene Mischungen.
  10. Beide Schönheiten, die  Naturschönheit  und die geometrische Schönheit sind grundsätzlich je nach Situation gleich wertvoll,  haben beide ihren Eigenwert.
  11. Die Darstellung von Artefakten ist auch in der Herstellung geometrisch fundiert.
  12. Der Mensch hat in der Gegenwart vermittelt über Motore absolute Macht über die Natur. Er muss sich selbst begrenzen, damit die Natur ihren angemessenen Raum bekommt.

 

 

C. Notate zur  Naturschönheit

 

  1. Naturschönheit ist grundsätzlich unabhängig vom Menschen, ist in diesem Zusammenhang frei, kann aber natürlich von ihm für seine Zwecke eingesetzt werden. Sie ist zumindest frei von dem, was Menschen als schön bezeichnen. Das Naturschöne kann  eine Blume, eine Landschaft  oder Wildnis sein.
  2. Das Naturschöne kann, muss aber nicht bemerkt werden.
  3. Jackson Pollocks Bilder sind  reine menschliche Natur. Natur „liegt“  unter dem Verstand und der Vernunft.
  4. Reine Naturschönheit ist Wildnis. Reine Naturschönheit gibt es zumindest bei uns nicht mehr. Zu Beginn der Evolution war die Naturschönheit dominierend, jetzt wird sie immer schwächer.
  5. Die Wahrnehmung und Darstellung von Naturschönem müssen sich streng an die sinnliche Wahrnehmung anpassen und das Geometrische in sich zurückdrängen.
  6. In Naturschönheit ist Freiheit enthalten, in statischen (künstlichen) Systemen nicht.
  7. Wichtig: Sich ständig mit Natur und Lebewesen in Kontakt befinden, die den Geist  unter Umständen korrigieren. Leben will mit anderen Lebewesen Kontakt haben. Lebendiger Kontakt  ist sein Lebensbedürfnis, weil er selbst Leben ist. Leben muss im Fundament das Ziel der Politik sein.
  8. Der Geist ist der Widersacher der Seele (L. Klages), d. h. des Lebens und der Natur. Die Seele ist in ihrem Wesen Leben und Natur.
  9. Die Aggression eines Tieres ist begrenzt, aber die des Menschen mit Hilfe der Technik  nicht mehr.
  10. Autonome Eigenbewegung ist reine Naturschönheit.
  11. Poesie ist, im Einklang mit dem Weltklang zu sein. Der Verlust von Poesie ist auch für die Natur ein Riesenverlust.
  12. Naturschönheit hat einen hohen Wert:  Jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch ist schön.
  13. Man muss einen Blick für unspekulative, „kleine“ Schönheiten haben. So für einen Landschaftsausschnitt, für ein Lächeln.
  14. Auch die Darstellung der Naturschönheit ist von der Form subjektiv, vom Inhalt Natur.
  15. Was Natur ist, ist für uns Menschen immer vom menschlichen Geist vermittelt.

 

D. Notate zur Verstandesgeometrie

 

  1. Meine These beantwortet die Frage, warum Schottergärten und die Form von Autobahnen geliebt werden.
  2. Geometrische Strukturen sind nicht an sich schön,  weil ihnen keine Freiheit eigen ist. Geometrische Strukturen dienen real oder angeblich dem menschlichen Leben. Ein Mensch vermag nicht mehr, in reiner Natur zu leben. Sofort transformiert er sie mehr oder weniger stark  in geometrische Strukturen, sei es die quadratische Hütte oder eine Idealstadt wie im Barock. Kultur im allgemeinen Sinne  besteht aus geometrischen, zumindest aus geometrieähnlichen Strukturen. Zunahme von geometrischen Strukturen und somit Zurückdrängung von Naturschönheit gilt  seit jeher als Fortschritt. Im Entscheidungsfall hat die Naturschönheit zunehmend fast immer das Nachsehen. In diesen Prozessen setzt sich die Selbstverabsolutierung des Menschen durch: Der Mensch ist nicht nur in der Erkenntnis das Maß aller Dinge, sondern auch in seinen Bedürfnissen.
  3. Geometrische Strukturen gelten in der Moderne als die eigentliche Schönheit. Und sie rufen  Begierden bis Süchte hervor, weil sie viel leichter erkennbar sind als Naturschönheit insbesondere in ihrer natürlichen Umgebung. Autobahnen, militärische Paraden, Krimis, Abstraktionen, Systeme, Duplexe und Dualismen, Äcker, Wiesen, Wohnräume usw., sind materielle Artefakte - generell auch  geistige Produkte.  Wo geometrisches Denken sinnvoll ist? Soziologen denken „berufsmäßig“ nur in Klassen, Schichten, Gruppen, also den Menschen im Plural. In der gegenstandslosen  Malerei sind der Schwerpunkt geometrische Formen, also Modalitäten des Verstandes. Ohne geometrische Strukturen gäbe es keinen begründeten Eigentumsbegriff, der immer ein begrenzter ist.
  4. Geometrische Strukturen sind dem Menschen wegen ihrer Herkunft nahe und deshalb vertraut und lieb. Geometrische Figuren wie Kreis, Dreieck, Rechteck, einfaches Mehreck, Linie, Parallele  erkennt man ohne große Mühe  schnell, obwohl  höchste Form der Abstraktion.
  5. Kubische Bauten sind nicht ästhetisch, sondern reine Geometrie. So auch im Sinne von Adolf Loos, dass  ein Ornament ein Verbrechen sei. Ihre Schönheit speist sich aus der Liebe zur Mathematik. Kubisches Bauen richtet sich gegen Naturschönheit.
  6. Das geometrisch Schöne will ausgedrückt, d. h. dargestellt werden. Es ist ein Teil der Kultur.
  7. Die motorisierte Bewegung ist von der Form her geometrische, also abstrahierte  Schönheit. 
  8. Naturschönheit kann bis zur Selbstaufgabe geometrisiert werden.
  9. Architektur ist reiner menschlicher Verstand, die geometrische Ästhetik des Verstandes. Das Gegenteil ist die Naturästhetik. Die Kunst kann dazwischen liegen. Schottergärten werden allein durch die geometrische Ästhetik bestimmt.    
  10. Geometrie verbessert nach menschlicher Auffassung und Werten die Natur. Sie dient ,so die Überzeugung,  dem menschlichen Leben. Wenn sie sich als Wert verselbständigt in Form von Motorentechnologie, stimmt das ökologisch und human  offensichtlich nicht mehr – im Gegenteil.
  11. Technik ist dynamisierte Geometrie. Beide haben die gleichen Ziele: direkt, schneller, leichter, effektiver, …Das ist das Wesen der technischen Rationalität.
  12. Handeln in geometrischer Schönheit reicht von "Beschnippeln" bis hin zu Rasenflächen, Schottergärten,  von Militär,  Zerstörung (war games),  Autos, Markenklamotten, Parks, Englische Gärten.
  13. Die Dominanz von Geometrie und damit Homogenisierung ist ein Merkmal der gegenwärtigen Zivilisation.
  14. Ein Rasen ist zweidimensional, ein ökologischer Garten dreidimensional.
  15. Versiegelte Oberflächen sind absolute Geometrisierung, entweder durch Asphalt oder Steine. Im Gebirge sind Steine Träger von Natur, in der Zivilisation verhindern sie Natur, man nimmt den Lebewesen ihren Lebensraum.  Ein Natur belassener Weg lässt Natur zu, eine Straße nicht.
  16. Der Unterschied zwischen Autofahren und Wandern: Beim Autofahren sind alle „unnötigen“ Hindernisse beseitigt. Die  Geometrie ist  die Verabsolutierung des Verstandes und damit des Subjekts. Das ist  auch das Wesen der abstrakten Malerei,
  17. Eine Realkonstruktion verhält sich  genau so wie die Idee zu dieser Konstruktion, genau wie abstrakte Gesetze, die immer auch ideal verlaufen. Also gleichmäßig wie technische Prozesse. 
  18. Wahrscheinlich schafft der Geist nur Abstraktionen, nicht nur bei Prozessen, sondern auch bei Dingbeschreibungen. Das kann Gewinn, aber auch eine große Gefahr sein, weil Wesentliches ausgeblendet wird. Abstraktionen  bilden nie die Wirklichkeit ab.  Das ist das Verhältnis von Theorie (Ideen) und Praxis (Konkretion).
  19. Die Lebenswelt wird zunehmend ein System der Realabstraktionen. Sie sind zuallererst Abstraktionen des Bewusstseins, die dann für die Produktion „Vorbild“ sind. Ein System der Realabstraktionen kennt nur absolute zeitliche und räumliche Gleichheit, keine Störungen und Überraschendes. Das ist der Sieg des Geistes über die Wirklichkeit.
  20. Aus großer Distanz sehen Urwald und Rasen gleich aus. Die Empfindung von Schönheit ist also auch eine Frage der jeweiligen Distanz.

 

D. Notate zur Warenästhetik

 

  1. Da hier die Schönheit im Plural daherkommt, denn jedes Produkt hat eine spezifische Ästhetik, ist es wohl unmöglich, diese Vielfalt auf einen Begriff zu bringen.
  2. Die Warenästhetik ist in der fortgeschrittenen Form des Konsumkapitalismus dominierend, bei der Mehrheit zumindest die einzige. Aktuell wird sie immer greller, bunter, lauter, aggressiver, „moderner“ und einfacher, um die Aufmerksamkeit der potentiellen Kunden auf das jeweilige Produkt zu lenken. Wer diesem Trend nicht folgt, verspielt seine Chancen auf dem Markt. Wohl gemerkt, das ist der gegenwärtige Trend, der, falls er nicht mehr erfolgreich ist, problemlos auf andere, ja entgegen gesetzte Merkmale sich umstellt.
  3. Diese Ästhetik als Schein zu enttarnen, ist eine Hauptaufgabe der politischen Ökologie, denn dieser Schein dient weder der Ökologie noch dem Menschen. Warenästhetik erzeugt falsches Bewusstsein und führt in die Irre, wenn nicht sogar in die  Katastrophe.

 Den Lesern ist sicherlich nicht entgangen, dass  in meiner Werteskala die Schönheit der Natur und die der Kunst ganz oben stehen, während die geometrische und erst recht die der Waren bei mir  im unteren Bereich angesiedelt sind.




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Essay Nr. 2

Zeitgemäße Mobilität sind Bewegungen ohne menschlichen Körper



Körperlose Bewegung gibt es nach Newton nicht: „Jeder Körper beharrt im Zustand der Ruhe oder der geradlinigen, gleichförmigen Bewegung,  wenn nicht eine Kraft auf ihn einwirkt“. Ziel der technischen Mobilitätsentwicklung kann also nicht sein, Bewegungen ohne Körper zu realisieren,  also Mobilitätsformen  zu finden, die einen aktiven Körper überflüssig machen. Die eigene  Mobilität wird hier nur noch von einem wahrnehmenden und emotionalen Bewusstsein ohne körperliche Aktivität begleitet. Das Bewusstsein hat sich dann vom eigenen (materiellen) Körper und von der (äußeren) Wirklichkeit getrennt, so dass in diesem Prozess der Körper keine Rolle, keine Funktion hat, nicht konstitutiv in der Bewegung ist.

Nicht dem gegenwärtigen Sprachgebrauch folgend, bezeichne ich allein geistige Prozesse (Bewusstseinsprozesse) als Realität, Impulse aus der äußeren Wirklichkeit in Richtung Ontologie (Seinslehre) und aus dem eigenen physiologischen Körper als Wirklichkeit. Wirklichkeit ist der Anteil, den wir am Sein bemerken. Das mag ungewöhnlich klingen, fördert aber das Verstehen von Bewusstseinsprozessen.

Um Wirklichkeit angemessen zu „ergehen“ (nicht motorenbetrieben zu „erfahren“!), ist Eigenbewegung (nicht Fremdbewegung oder Medienersatz), unverzichtbar. Das gilt für das Leben überhaupt. Das nahezu körperlose Bewusstsein wird immer ärmer an originalen Welt- und Eigenerfahrungen, das Realitätsbewusstsein (Realität  in meinem Sprachgebrauch) wird dagegen immer reicher. Da der Mensch ein leeres Bewusstsein nicht aushält, füllt er es ständig mit sinnvollen, aber zunehmend banaleren Inhalten wie Unterhaltungssendungen oder mit Autofahren  zum  Selbstzweck auf - um zwei, letztlich unwürdige  Beispiele zu nennen. Pointiert: Gemessen an den körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen sind Auto und Fernseher faktisch Gefängnisse. 




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Essay Nr. 3

Zum Verhältnis von ökologischer Politik und Sozialpolitik



Die heute bestehende  ungleiche Gesellschaft im Zustand des Konsumkapitalismus verstärkt massiv die ökologische Krise. Damit entsteht die entscheidende Frage, wie Ökologie und Sozialpolitik zueinander sich verhalten. Bilden sie eine untrennbare Einheit?  Meine Antwort: In den Ursachen sind Sozialpolitik und Ökopolitik  zwei vollkommen verschiedene Politikfelder, d. h. die eine ist nicht aus der anderen ableitbar, denn die Fundamente sind kategorial verschieden, aber sie üben Einflüsse aufeinander aus.

Das Kernziel  der Sozialpolitik ist, Gleichheit in der Gesellschaft zu verwirklichen, zumindest Menschen in Not zu helfen, egal ob selbstverschuldet  oder nicht. Das Kernziel  der Ökopolitik ist, Erhaltung der Natur, des Lebens und der Erde. Sozialpolitik ist von der eigenen Logik her gesehen ökologisch blind, ökologische Politik ist von der eigenen Logik her sozial blind. Sozialpolitik ist nicht automatisch ökologische Politik und umgekehrt. In einem Bild: Ökologische Politik und Sozialpolitik sind zwei „Spiele“ wie Hand- und Fußball mit grundsätzlich verschiedenen Regeln, die unterschiedliche Maßnahmen  und Kompetenzen erfordern. Werden die Unterschiede nicht reflektiert, entstehen Widersprüche, auf die man Antworten finden muss. Damit entsteht die Notwendigkeit des Abwägens, d. h. ein Automatismus hat hier keinen Platz.

Dazu eine Bemerkung zur Priorität: Gegenwärtig ist Ungleichheit bei uns ein großes Thema, aber sie ist nicht lebensbedrohend, während die ökologische Krise alle und alles bedroht.  Das Ende dieser Differenz wäre, wenn das Gleichheitsprinzip für alle Lebewesen und die Natur gilt. Erst dann werden Sozialpolitik und ökologische Politik identisch.

Diese Aussagen gelten grundsätzlich für alle Politikfelder, seien es Sozial-, Verkehrs-, Kulturpolitik bis hin zur Minderheitenpolitik.

Man muss nur sagen, dass man bestimmte  Positionen gut findet und auch vertritt, aber nicht als Einheit, sondern eben  als verschiedene Positionen.




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Essay Nr. 4

Abstraktion als Gewinn und Verlust. Eine Zeitanalyse



Die Sprache ist ambivalent. Sie entdeckt, indem sie Bestehendes auf den Begriff bringt, aber sie kann auch verdecken, indem sie Erkenntnis vorgaukelt, die zumindest so nicht besteht. Letzteres wird auch Verhexung durch Sprache genannt. In diesem Essay werden zwei Formen der Verhexung untersucht. In Teil I  durch Verdoppelung der Wörter (Signifikanten),  ohne dass ihnen  eindeutig zwei verschiedene Bedeutungen zugeordnet sind. Das wird an den Begriffen  Wirklichkeit und Realität aufgezeigt. In Teil II wird das durch verlustreiche Abstraktionsbildung an den Begriffen Naturdinge und Artefakte verdeutlicht. Daraus ergibt sich wiederum  die Aufgabe für jeden Sprechenden und Schreibenden, zu überprüfen, ob Verdoppelung vorliegt oder  genau zu überlegen, auf welcher Abstraktionshöhe er seine Begriffe verwendet.

 

Begründung für diesen Ansatz

 ·        Die  human-ökologische Theorie und Praxis argumentativ bereichern.

 ·        Die Behandlung der Begriffe Wirklichkeit und Realität dient in vorliegender Arbeit nicht philologischen oder begriffshistorischen Interessen, sondern formuliert die notwendigen semantischen Veränderungen auf der Grundlage ihres produktiven Verhältnisses, um Probleme der Gegenwart zu lösen. Mein Ehrgeiz besteht  darin, den bestehenden Sprachgebrauch und das Verhältnis von den Begriffen Wirklichkeit und Realität so zu bestimmen  (zu rekonstruieren), dass sie die Probleme erkennbar machen und zu einer Lösungsaufgabe führen. Der große Fehler besteht eben darin, beide Begriffe synonym zu verwenden, so dass ihr  beiderseitiges lösungsproduktives Potential unerkannt bleibt und zu destruktivem Handeln der Nutzer und katastrophalen Folgen für die Umwelt führt.

 

·        Wenn ich es richtig sehe, gibt es keinen Ansatz, die Begriffe Wirklichkeit und Realität in ökologischer und humaner Absicht aufeinander zu beziehen und zu definieren.  Erst durch dieses Aufeinanderbezogensein kommt ein Unterschied in den Blick, der für unser Weltverständnis sowie  für  ökologisches Verhalten von größter Wichtigkeit ist. In der industriellen Zivilisation, insbesondere in der motormobilen und medialen Gegenwart, wird die Wirklichkeit, genauer die Wirklichkeitserfahrung immer kleiner, die Realitätserfahrung immer größer und dominierender. Und die diesen Prozess begleitenden Versprechungen haben sich als Ideologie entpuppt. Niederziehende Werte wie Bequemlichkeit, Schnelligkeit, Billigkeit, Größe scheinen in der menschlichen Anlage bereits vorhanden zu sein, werden aber durch das ständige Wirtschaftswachstum zu einem Zwang.

 

 

Teil I Wirklichkeit und Realität

 

Wenn zwei Bezeichnungen (Signifikanten) für dieselbe Sache verwendet werden, entsteht Verhexung, genauer Konfusion, und damit Verlust, der zudem eine Verschwendung von Möglichkeiten einer Sprache ist.

Diese  Gleichzeitigkeit von Gewinn und Verlust erklärt meines Erachtens das, was Wittgenstein die bereits erwähnte Verhexung durch Sprache genannt hat.

Im heutigen Sprachgebrauch und  oft auch in wissenschaftlichen Aussagen werden die Begriffe Wirklichkeit und Realität wie gesagt synonym verwendet. Das halte ich  aus mehreren Gründen für nicht sinnvoll, weil Wichtiges  nicht reflektiert  wird. Diese Gleichsetzung  ist meiner Meinung nach nicht zufällig, sondern dient bestimmten ungünstigen Anlagen des Menschen, die wiederum von ökonomischen Interessen konsequent ausgebeutet werden.

Die Aufgabe dieses Teils besteht darin, die Synonymität der Begriffe Wirklichkeit und Realität so aufzuheben, dass sie insbesondere für die ökologische Begründung und für die Bestimmung des Menschen Gewinn bringen.  Der elementare, aber bis jetzt verdeckte  Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität muss bewusst werden, um ökorationales und humanes Handeln zu ermöglichen.

Ich beginne  mit meiner  abstrakten Bestimmung der Begriffe Realität und Wirklichkeit, die in den späteren drei  einzelnen Abschnitten weiter konkretisiert werden.

 

 

 

A. Zum Begriff Realität

Im allgemeinen und naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch versteht man unter Realität alles das, was materiell  und damit sinnlich wahrnehmbar ist. In der Philosophie gibt es allerdings  Theorien, in denen  Gedanken auch als Seiende interpretiert werden. Diese Sichtweise reserviere ich –  ungewohnt -  im Folgenden allein für den Realitätsbegriff. Die Frage nach den existierenden  oder nicht existierenden äußeren Referenzen, also die traditionelle Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewusstsein,  klammere ich für den Realitätsbegriff aus. Aus dieser Sicht sind nur Zeichen, seien sie Icons (Bilder), Symbole oder  Indizes, real im Sinne von Bewusstseinsimmanenz, d. h. sie existieren nur im Bewusstsein. Ein Bewusstseinsinhalt ist nicht die Wirklichkeit, er  ist nur der Schein des Abgebildeten.  Ein Schein ist nicht Nichts, sondern existiert allein im Bewusstsein. Die Bewusstseinsinhalte können von sehr  unterschiedlichem Niveau sein, von Banalem  über substantielle Theorien bis hin zu wertvollen Erinnerungen.  Ein  Bild  mag beispielsweise wegen der Form mit dem Dargestellten Ähnlichkeit haben, aber die Formerkenntnis  ist eine Projektion des Geistes. Und: Die (geistige) Realität wirkt wie die Wirklichkeit direkt auf andere Bewusstseinsinhalte (Realität). Die geistige Realität kann  auch   durch Handeln (äußere) Wirklichkeit schaffen.   Wirklichkeit  entsteht in der direkten sinnlich-konkreten Interaktion des Menschen  in und mit seiner jeweiligen Umwelt, die aus Naturdingen und Realabstraktionen (Artefakte) besteht.

Alle menschlichen Handlungsprodukte entstehen aus einer Vorstellung (Idee), wie die Welt in einem bestimmten Bereich oder Fall aussehen sollte, es aber nicht ist. Durch sein Handeln verändert der Mensch nun die bestehende Wirklichkeit in diese Richtung, seien es Handwerkzeuge, Gebäude oder Autobahnen. Diese „Kunstwerke“ (Artefakte) haben unterschiedliche Abstraktionsebenen und wirken deshalb auch unterschiedlich. Aber sie gehören  immer  zur Wirklichkeit, während  ursprüngliche Ideen eindeutig der Realität zuzuordnen sind.

 

  Die folgenden unsystematischen  Aussagen zur Realität sollen  diese weiter ein Stück präzisieren

·        Die Wirklichkeit der Natur und der Schöpfung Gottes sind derart vielfältig, dass auf Seite der Erkenntnis die Abstraktion durch Begriffe erfunden werden „musste“, d, h. ein  künstliches System, das Theorie ermöglichte, mit dem Überfluss rational umzugehen. Der Idealismus von Platon überhöhte die Begriffe zu ewigen Ideen. Aber ohne Begriffe keine Kultur.

·        Bin ich im Begriff, findet im Bewusstsein keine Anschauung statt. Die reinen Begriffe erzeugen etwas, was in einem anderen Reich (die Realität?) existiert.

·        Das Reale kann keinen materiellen Halt bieten, weil es allein im Bewusstsein existiert.

·        In diesem Realitätsbegriff  haben Subjektivität, Poesie und Phantasie Platz.

·        So finden Autofahren und Fernsehen in dieser hier vertretenen Begrifflichkeit in der Realität und  nicht in der Wirklichkeit statt.

 

B. Zum Begriff der Wirklichkeit

Mit Wirklichkeit ist die Welt der materiellen Dinge und der Lebewesen außerhalb des Bewusstseins gemeint. Diese das Bewusstsein transzendierende Dinge sind für uns nur teilweise, oft unvollständig oder gar nicht erkennbar, sie wirken grundsätzlich nur auf unsere Sinnesorgane. Dinge, die auf einen Menschen wirken, aber nicht von ihm wahrgenommen werden, nennt  Jakob von Ueksküll Wirkwelt, was von dieser Wirkwelt wahrgenommen wird, nennt Ueksküll Merkwelt. 

 

Die folgenden unsystematischen  Aussagen zur Wirklichkeit sollen  diese ebenfalls weiter präzisieren:

·        Nur in der Einheit von Mensch und Wirkwelt ist Wirklichkeit (von Wirken) wahrnehmbar, für den Menschen „wirklich“. Wirklichkeit ist auf Menschen angewiesen.

·        Wenn Wirklichkeit dargestellt wird, wird sie zur Realität.

·        Eine wahrgenommene Wirklichkeit kann zu einem Begriff weiterentwickelt werden ( = Realität) oder als unbegriffene Wirklichkeit „stehen bleiben“.

·        Die Merkmale des Lebens (Stoffwechsel, Fortpflanzung, Eigenbewegung, Reizbarkeit, Wachstum) sind, bevor sie reflektiert werden,  Wirklichkeit.

·        Jedes Lebewesen hat seine spezifische Wirklichkeit, die sich ständig verändert.

·        Die Wirkungen der Wirklichkeit müssen von Menschen empfangen werden, sonst verpuffen sie.

·        Auch wenn wir das Ding an sich nicht erkennen, wirkt es zumindest teilweise.

·        Wirklichkeit ist prinzipiell unbegrenzt, menschliche Realität ist immer begrenzt.

·        Abhängigkeit von Umwelt ist der  Widerstand von Wirklichkeit.

·        Naturerleben findet in der Wirklichkeit statt.

·        Erst durch tiefe Bildung im weitesten Sinne entsteht Wirklichkeit.

 

 

Aussagen zum Verhältnis Realität und Wirklichkeit

·        Einige Sprachbilder, die das Verhältnis von Realität und Wirklichkeit vielleicht begreifbarer machen  als die begriffliche Analyse:  Wirklichkeit ist das Leben, Realität ist Geometrie. Wirklichkeit ist ein mäandrierender Fluss, Realität ist ein Kanal. Wirklichkeit hat die Struktur einer unregelmäßigen wellenförmigen Linie, Realität einer  Geraden.

·        Beide, Wirklichkeit und Realität, machen die Welt des Menschen aus, sind für den Menschen wertvoll und unverzichtbar, müssen gepflegt werden. Wenn ich  den Wert der gefährdeten Wirklichkeit und da insbesondere die Natur heraushebe, geht es mir nicht um ein Entweder-oder.  Um Missverständnisse hier zu vermeiden: Wo ein Mensch seine Akzente setzt, kann letztlich nur er oder sie entscheiden. Das ist nicht leicht, denn sowohl im geistigen als auch im wirkenden Bereich gibt es Förderndes  als auch Niederdrückendes in oft nicht leicht zu erkennenden Vermischungen. Wirklichkeit und Realität haben ihre jeweiligen eigenen Funktionen. Wenn Realität und Wirklichkeit austauschbar sind, ist alles real, alles gleichwertig, everything goes.

·        Wirklichkeit ist die Synthese aus Mensch und Umwelt. Realität ist eine Abstraktion.

·        Realität ist eine frühere wirkende Wahrnehmung, die nun als Begriff oder äußeres Bild weiterentwickelt wurde und wird.

·        Wirklichkeit meint die reine Wirkung, die nicht auf einen Begriff gebracht wurde. Also hier geht der Weg  von der Wirkung noch nicht zum Begriff. Realität besteht nur aus Geistigem (Begriffe, Formen) die u. U. erst in einem zweiten Durchgang an oder in der Wirklichkeit verifiziert wird.

·        Eine Wirklichkeitserfahrung ist immer begrenzt, meistens sehr begrenzt. Während das Bedenken der Realität abstrakt das Ganze umfassen kann.

·        In der Wirklichkeit ist der  Inhalt  wirksam, in der Realität ist nur die Form (Kultur)  wirksam.

·        Wirklichkeit als objektive Wirkwelt hat einen großen Radius, die  subjektive Merkwelt ist relativ begrenzt.

·        Wirklichkeit ist abhängiger als die Realität von der jeweiligen Situation.

 

 

Eine  typische Form der Wirklichkeitserfahrung und zwei typische Formen der Realitätsbildung

 

 Im Folgenden werde  ich  die von mir eindringlich behauptete Wichtigkeit der Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit an drei konkreten Situationen aufzeigen, die für den Menschen heute bestimmend sind. Aber  nicht nur in diesen drei Situationen (sich bewegen, fahren, ansehen), sondern darüber wie sie weit hinaus  im Guten oder weniger Guten auf ihn  und auf die Umwelt wirken. Situation A: Ich gehe durch einen Wald, Situation B: Ich fahre mit dem Auto durch diesen Wald und Situation C: Ich sehe einen Film von diesem Wald.

 

Analyse von „Ich gehe durch den Wald“

Wenn ich in einem Wald bin, bin ich der gesamten Wirkwelt dieses Waldes ausgesetzt (auch als Primärerfahrung oder als  Originalbegegnung bezeichnet), d. h. die jeweilige Umgebung des Waldes wirkt direkt auf alle meine Sinne ein.  Die Grenze, wo  die Umgebung zu wirken beginnt, ist unmöglich zu bestimmen. Der Wind, den ich auf meiner Gesichtshaut spüre, wo kommt der her? Weitere Sinneserfahrungen wären: Der Geruch der Pflanzen, das Hören von Vogelstimmen, das  Fühlen des begangenen Untergrunds usw. Was und  wie viel von dieser Wirkwelt zur Merkwelt wird, hängt von den jeweiligen Gestimmtheiten und Zielen ab: Ich gehe spazieren, um den Wald zu genießen, oder ich gehe mit jemanden spazieren und unterhalte mich mit ihm intensiv, oder ich durchquere den Wald forsch, weil ich nach Hause will.  Wie auch immer, ich  befinde  mich beim Gehen im Modus der (aktiven) Eigenbewegung, d. h. zumindest mein Leib ist ebenfalls in der Wirklichkeit.

 

 

Analyse von  „Ich fahre mit dem Auto durch diesen Wald

Wie sieht die Situation beim Autofahren aus? Beim Autofahren interagieren Fahrer und mögliche Insassen nicht mit der Umwelt, die sich außerhalb des Autoinneren befindet, noch sind sie direkten natürlichen  Einflüssen der Umwelt ausgesetzt, die sie durchfahren. Die Folge: Es gibt keine nennenswerte Wirklichkeit. Im Auto besteht die wirkende  Umwelt allein aus dem Autoinneren und eventuellen Mitfahrern.  Verpanzerung in Form von Blech und Glas sowie die Geschwindigkeit reduzieren die konkret-realen Beziehungen zu durchfahrenen Landschaften und Städten nahezu gegen Null. Diese sind kein Teil der Wirklichkeit, werden aber im Bewusstsein als real interpretiert. Es sind reine Bewusstseinsinhalte, die keinerlei nachweisbare Beziehungen zu ihrem Gemeinten haben. Diese  Bewusstseinsinhalte nenne ich auch eingebildete Wirklichkeit.  Die notwendige Einsicht: Es gibt beim Autofahren keine „außerautoliche“ Wirklichkeit. Aber genau von einer solchen wirkenden Wirklichkeitserfahrung gehen die Autofahrer aus. Ob man durch den Wald geht oder mit dem Auto fährt, macht nach dieser Auffassung keinen Unterschied. Dieses zu denken und zu fühlen  ist der große Irrtum, der beim Autofahren entsteht. Deswegen leiden die Autofahrer auch nicht unter ihrer  körperlichen Bewegungslosigkeit, denn sie sind objektiv still gestellt, nicht lebendig im Sinne einer vita activa, denken es aber. Wie kann dieser Irrtum entstehen? Eine wesentliche Quelle liegt in einer unreflektierten Abstraktionsbildung. Eine Abstraktion kann Erkenntnisgewinn oder Verlust an Wissen von konkreten Elementen nach sich ziehen. Je abstrakter eine Aussage, desto weniger konkrete Inhalte sind vorhanden, die gewissermaßen in der Abstraktion unsichtbar werden. Am Begriff Mobilität veranschaulicht: Er thematisiert allein die Ortsveränderung, unterscheidet nicht zwischen Eigenbewegung (Gehen, Radfahren) und Fremdbewegung (Auto, Zug, Flugzeug usw.). Hier liegt ein typischer Fall vor, wo eine erweiterte Abstraktion mehr Nachteile als Vorteile enthält, weil wichtige Unterschiede nicht mehr thematisiert werden. Nimmt man das Auto, werden zumindest die körperlichen Fähigkeiten durch Motorennutzung reduziert, was aber als Fortschritt interpretiert wird, Das Auto ist die direkte und indirekte Ursache für viele aktuelle Probleme  wie  Klimawandel, Umformung der Erdoberfläche in Richtung Anthropozän, Auflösung des Sozialen, psychische und physische Gesundheitsbeeinträchtigungen.

 

 

Analyse von „Ich sehe einen Film von  diesem Wald“.

Es gibt keine Bilder, weder in einem Rahmen noch im Fernsehen, nicht in Bildbänden oder  in Bildergalerien. Innere Vorstellungen, die missverständlich als Bilder bezeichnet werden, werden  erst  mit Hilfe der Einbildungskraft im Bewusstsein „hergestellt“ und verlassen das Bewusstsein nicht. Diese inneren Vorstellungen müssen dann gegebenenfalls durch Handeln zu Bildern objektiviert werden. Eine Ähnlichkeit zwischen Vorstellung und Bild ist nahezu nicht vorhanden, sondern muss erst in einem aufwendigen und mühevollen Lernprozess erworben werden. Das Bild ist nicht die Wirklichkeit („The map is not the territory“, Alfred Korzybski).  

Beim Film ist die Täuschung eine doppelte: Die Filminhalte bewegen sich nicht, sondern nur im Schein, der technisch hervorgerufen wird. Auch der  Film selbst ist kategorisch  das andere, ist nicht die  dargestellte Wirklichkeit. Die entsprechenden   Bewusstseinsinhalte sind ohne Referenz, rein eingebildet, reine Konstruktion, also keine Wirklichkeit, sondern Realität. Realität besteht aus isolierten Bewusstseinsinhalten, die wie bereits gesagt fälschlicherweise für Wirklichkeit genommen werden.  Für diese innere Konstruktion wird viel elektrische Energie des elektronischen Mediums, aber nicht Körperenergie verbraucht. Ebenso wenig  Körperenergie für den Seh- und Hörvorgang verbraucht, aber viel  für die Verarbeitung der Informationen im Gehirn. Beim Fernsehen leistet das die  elektrische Energie. Filme im Gegensatz zum Lesen haben bereits die Arbeit der Einbildungskraft geleistet. Deshalb erzeugen Sehen und Hören von Filmen allein noch keine Bildung. Und: Die Verbindung der einzelnen Bilder muss der Zuschauer, genauer dessen Einbildungskraft leisten. Habituelles Fernsehen verlangt vom Geist sehr wenig, es findet eine ständige Unterforderung statt. Grelle, laute und aggressive Reize müssen das ausgleichen. Und: Wenn man müde wird, hört zuerst das Denken auf, bevor die Wahrnehmung verblasst und schließlich der Schlaf  einen überwältigt. Wenn „elektrifizierte  Nachteulen“ das nicht glauben, mögen sie doch experimentell einen Wechsel vom Fernseher zum Buch machen. Trotz dieser Sachlage hält sich unverändert, ja verstärkt die Überzeugung, dass „stehende“ Bilder sowie  laufende Bilder (Filme) und Wirklichkeit identisch, zumindest gleichwertig sind „Der Fernseher verbindet mich mit der Welt“.

 

Vermittelnde Anmerkungen 

Wirklichkeit und Realität sind nicht autonom, sondern zwischen ihnen  bestehen vielfältige unterschiedliche Mischungsverhältnisse. Beim Wahrnehmen ist der Wirklichkeitsanteil groß, beim Lesen der Realitätsanteil. Auch hier gilt  das Kantwort: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Die Kritik muss den Blick auf den Unterschied legen. Meine Bildkritik richtet sich mitnichten gegen Bilder und Filme, sondern  gegen  Bilderfluten, da sie keinen Raum und Zeit für Reflexion und Aneignung lassen.

Ich hätte diese Thematik auch auf einem anderen Fundament entwickeln können, so vom Gegensatzpaar  Motor (Fremdbewegung)  und eigenen körperlichen und  geistige Bewegungen (Eigenbewegung). Autobewegung und Filmbewegung sind motorisierte Bewegungen, nicht körperliche Eigenbewegungen. Motorenkraft  ersetzt Lebenskraft. Nicht der Mensch bewegt sich im Auto, sondern die Bewegungen des Automotors. Das inzwischen wohl berühmte Beispiel der Täuschung von Ich und  Auto lautet: Treffen sich zwei Freunde in einem Geschäft, fragt der eine „Wo stehst Du?“ Antwort: „Im Parkhaus“, obwohl er leibhaftig vor ihm steht. Eine weitere Täuschung: Die Bewegungen von Lebewesen  in elektronischen Medien finden im technisch generierten Schein statt. Aber Schein ist nicht Nichts, er hat immer einen Ursprung, sei er transzendental oder wirklich. Wie sich rational zum Motor verhalten? Wie fast in allen Dingen ist hier vor  einseitiger Ablehnung und unkritischer Bejahung  zu warnen. Auf Motorennutzung beim Internet für Mails, Recherchen usw., auf öffentliche Verkehrsmittel (außer Flugzeuge), im medizinischen Bereich  zu verzichten, wäre für mich ein Verlust.  Der Mensch muss aber aufpassen, dass er nicht über einen längeren Zeitraum eine Funktion des Motors wird, bei kurzer Nutzung ist das oft nicht zu vermeiden und akzeptabel. Die  Maxime: „So wenig Motoreneinsatz wie möglich, so viel wie nötig.“  Oder das aus  einer anderen Perspektive: „So viel Eigenbewegung wie möglich, so wenig Fremdbewegung wie nötig.“ wäre aus meiner Sicht eine sinnvoll begründete Position.

 

Fazit: Zentrales Ziel der Ausführungen von Teil I - Die Wahrnehmung der Wirklichkeit im medialen Zeitalter stärken.

 

 

Teil II Naturdinge und Artefakte

 

Abstraktionen können Erkenntnisgewinn in Form von umfassender Übersicht zur Folge haben, haben aber gleichzeitig Verlust an Wissen von konkreten Elementen, die auf der vorher gehenden Ebene noch explizit vorhanden waren.  „Gehen“ und „Eine Autofahrt machen“ werden in einem Abstraktionsprozess zu „Eine Distanz überwinden“ verkürzt, d. h. die spezifischen Merkmale des Zufußgehens und des Autofahrens verschwinden explizit im höheren Abstraktionsgrad. Allgemeines Fazit: Auf vorhergehender Abstraktionsebene entdeckt die Sprache aus meiner Sicht Wichtiges, auf dem folgenden höheren Abstraktionsgrad kann Wichtiges verdeckt werden.

Gleiches gilt für den Begriff Wirklichkeit. Der Begriff  Wirklichkeit ist immer auf einer bestimmten Abstraktionsebene angesiedelt. Erst während des Schreibens ist mir klar geworden, dass ich mit diesem Begriff eine Abstraktionsebene gewählt habe, die ein wesentliches Anliegen von mir verdeckt: In der Wirklichkeit wirken Naturdinge oder Artefakte. Genau auf deren Unterschied kommt es mir an: Naturbegegnungen sind, von wenigen spektakulären Beispielen wie Sturmfluten oder im Urwald sich verirren abgesehen, wünschenswert und förderlich. Artefakte, der andere Pol der Wirklichkeit, können für den Menschen förderlich oder schädlich sein. Aber  auch der Begriff „Artefakt“ ist wie bereits der der „Wirklichkeit“ auf einer zu hohen Abstraktionsebene angesiedelt, denn es gibt hier fundamentale Unterschiede in ihren Werten, die man nicht aussparen soll, ja darf. Zugespitzt: Eine Bombe ist ein destruktiver Artefakt, ein elektrischer Zahnbohrer, wenn auch schmerzhaft, ist sinnvoll und nützlich. Wie auch  immer: Der Mensch als Kulturwesen ist auf Artefakte angewiesen. Aber das Verhältnis zwischen Natur und Kultur hat sich im Laufe der industriellen Zivilisation zunehmend zu Ungunsten der Natur entwickelt. Artenschwund, Anthropozän und Klimawandel mögen dafür hinreichend stehen. Die Menschheit muss der Natur eine Stimme geben. Die Natur kann nicht protestieren, wenn sie in Gefahr ist oder zerstört wird. Das müssen Menschen für sie  übernehmen. Geschieht das nicht, hat die Natur, wenn sie von Menschen gesetzten Zielen entgegensteht, keine Chance zu überleben, Erfreulich, dass es immer wieder Menschen gibt, die sich  selbstlos für die Natur einsetzen. Erfreulich ist auch, dass hier der Naturschutz zwar auch vom Menschen her, aber ebenso vom Lebensrecht der Tiere und Pflanzen begründet wird, denn sie haben im Sinne der Schöpfung einen Selbstwert. Der Schutz eines bestimmten Waldes in meiner Heimat ist verglichen mit den Wäldern im  Amazonasgebiet winzig klein. Deshalb könnte man den  Bewahrern dieses Waldes vorwerfen, sie kümmerten sich um Kleinigkeiten  und  nicht um das, was notwendig ist. Aber grundsätzlich ist jeder Mensch,  jede Region und jedes Land für seinen  Teil auf Erden verantwortlich. Meint man, dieser Anteil sei zu winzig, so dass es keinen Sinn macht, für ihn Verantwortung zu übernehmen, dann liegt  meiner Ansicht nach ein falsch verstandenes Demokratieverständnis vor. Zumindest in der  gegenwärtigen Phase des dramatischen Klimawandels muss hier unbedingt ein Wandel im Denken und Handeln stattfinden.  Das hat nichts mit Modernisierung oder Anpassung an den Zeitgeist, sondern mit Vernunft zu tun, die am sinnvollsten mit Einsicht in die alternativlose Notwendigkeit definiert wird. Wer, ob Politiker oder Investor, aus diesen Gründen seine Position ändert, zeigt keine Schwäche, sondern Stärke - und das sollte uneingeschränkt anerkannt werden. Demokratie  lebt von dieser „Schwäche“.

 

Die folgenden unsystematischen  Aussagen zur Natur und Artefakten  sollen  diese ein Stück weiter präzisieren

·        Die lebendige organische Natur hat Freiheit.

·        Artefakte folgen den Gesetzen der Kausalität. Deswegen sollte man die Naturwissenschaften korrekt als Materialwissenschaften bezeichnen.

·        Der Mensch ist ein Teil der Natur, aber er denkt, er sei der Herr, ja, er könne sie durch Technologien ersetzen.

·        Der lebensfördernde Sinn der Natur entsteht  durch die Evolution, die für die Passung von Natur und Mensch gesorgt hat.

·        Menschsein beginnt mit dem Herstellen von Artefakten und damit  verbunden  mit dem  Problem des Falschmachens.

·        Sieht man  die  technologischen Entwicklung kritisch,  die als Motore und elektronische Medien die Erde und die condition humaine  bedrohen, macht es Sinn, die Produktion von Artefakten neu zu bedenken.

·        Artefakte entstanden ursprünglich aus Gründen des Lebenserhalts. Damit ist der Unterschied von Mensch und Tier benannt. Aber ab einer bestimmten Entwicklung wird es für Mensch und Umwelt gefährlich, wenn die Produktion von Artefakten zum Selbstwert wird, insbesondere, wenn Technik sich zu Motorentechnik erweitert und verselbständigt, wie es das ständige Wirtschaftswachstum fordert.  Das ist schlechter, d. h. egoistischer  Subjektivismus im Gegensatz zum ethischen.  Subjektivität als Oberbegriff  verdeckt wiederum seine Möglichkeiten als ethischen oder egoistischen Subjektivismus.

 

Fazit: Zentrales Ziel von Teil II - Die Natur im Zeitalter der industriellen Zivilisation stärken.




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Essay Nr. 5

Elektrifizierte und biologische Nachteulen



Mein Vater hatte einen Handwerksbetrieb und, weil früh aufgestanden wurde, ging man so zwischen neun und zehn Uhr abends ins Bett –von Ausnahmen natürlich abgesehen. Da hat bei mir wohl eine unauflösbare Prägung stattgefunden, denn an jedem Tag genau zu dieser Zeit überfällt mich immer noch eine unbezwingbare Müdigkeit. Das geht längst nicht allen so. Was früher normal war, ist heute die Ausnahme. Viele Verwandte, Bekannte und Nachbarn von mir gehen nach eigenen Angaben nie vor Mitternacht schlafen. Verschlafe ich also einen Teil meines Lebens?  Das denke ich nicht, sondern meine immer noch, dass der Schlaf vor Zwölf doppelt zählt und die Gesundheit und die Konzentration im Alltagshandeln fördert.

Wie kann man in diesem Zusammenhang den scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug der elektronischen Unterhaltungsmedien erklären: Seit Aristoteles´ „Physik“ ist der Horror vacui in der Welt, und die Angst vor dem Leeren beschäftigt die Menschheit (Felix Meiner Verlag). Diese Leere wird aber „erfolgreich“ von den elektronischen Unterhaltungsmedien gefüllt. Damit meine ich nicht runter geladene anspruchsvolle Texte, sondern primär bewegte Bilder von Situationen  im Schein, also Filme. Wie funktioniert das? Geistige Betätigung ist auch eine Form der Arbeit, die Kraft erfordert (im technischen Bereich  Energie genannt). Für  körperliche, aber auch  für geistige Arbeit  wie Denken und Lesen (man denke an Tätigkeiten wie Weinlese) ist also Körperkraft nötig.  Elektronische Medien und  motorbetriebene Technologie brauchen natürlich auch Energien, die damit nicht mehr von den Nutzern eingesetzt werden müssen. Diese nicht eingesetzte Körperkraft  ist aber genau das, wo Bildung im weitesten Sinne  beginnt und ihr Fundamentum  bildet. Der Mensch kann nämlich keine Bilder in der Außenwelt wahrnehmen, weil sie dort schlicht nicht vorhanden sind. Deswegen muss der Mensch  erst aus dem „bildlosen“ Material der Außenwelt mit Hilfe der Einbildungskraft innere Bilder schaffen, die er dann in die Außenwelt projiziert. Genauer: Das  Material der Außenwelt   besteht aus materiell Verschiedenem, aber dieses hat noch nicht die Form von Bildern. Die muss der Mensch, wie gesagt, erst im Innern schaffen. Wenn das nicht geschieht, übernehmen äußere Bilder (Photos, Filme, Gemälde) die Arbeit der Einbildungskraft. Diese wird  dann gewissermaßen „arbeitslos“ mit der Folge, dass sie beim Bilderkonsum  wegen Nichtbeschäftigung verkümmert. Ohne dass die Betroffenen es bemerken, entsteht bei ihnen eine relative Leere, wenn auch nicht absolut. Denn die hier verlangten Bewusstseinstätigkeiten bestehen tendenziell nur noch aus dem Wiedererkennen der die jeweilige Geschichte konstituierenden Hauptfaktoren. Die Tendenz: Man  beschäftigt sich ausschließlich mit Medieninhalten, die, um sie zu verstehen, ein Minimum an Aufmerksamkeit verlangen, aber trotzdem als sinnvoll und wichtig bewertet werden. Die still gestellte Einbildungskraft erzeugt durch ihre „Nichtnutzung“ im Bewusstsein Unzufriedenheit und Sinnlosigkeit im weitesten Sinne, kann aber nicht von den Betroffenen in ihren Ursachen  bedacht werden bzw. wird wegrationalisiert. Die Betroffenen denken deswegen,  mit noch größerem Bildkonsum die Wende einzuleiten. Das klappt natürlich nicht, da die Betroffenen sich  mitten in einer klassischen Sucht befinden.

 

Damit meine ich, erklärt zu haben, warum  die zeitgenössischen  Nachteulen nur Nachteulen auf Kosten einer stark reduzierten Einbildungskraft sind. Ersetzt man die von ihnen „lebensnotwendigen“  elektronischen Medien durch reale Bücher, würden sie nach spätestens zwei Tagen meine Schlafzeiten übernehmen, denn biologische Nachteulen gibt es nur ganz wenige.




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Essay Nr. 6

Subjektivierung statt Wahrheit. Persönliche Anmerkungen zur Religion



„Ich bin davon überzeugt, dass Gott (bzw. das Göttliche) existiert und wirkt, aber weder ich noch andere Menschen sind in der Lage, über seine Existenz Aussagen zu machen, die wissenschaftlich oder alltagslogische Geltung beanspruchen können. Wenn diese Aussage stimmt, frage ich mich, wie ich damit umgehe. Ist zwischen dem Nichtbestimmenkönnen und Glaube ein unüberbrückbarer Widerspruch? Meine Lösung: Für mich gibt es Gott, ich spüre sein Sein und ich unterhalte mich mit ihm bzw. er mit mir. Dieser Gott ist aus der Außenperspektive meine Konstruktion, die für mich in der Binnenperspektiv wahr ist. Die Frage, ob diese Konstruktion für andere wahr oder plausibel ist, stellt sich mir nicht. Deshalb stellt sich mir auch nicht die Frage, welche Religion wahr oder unwahr ist. Diese Position der verabsolutierten Subjektivität ist also ein Vorbehalt: a) der Gläubige ist nicht gezwungen, seinen Glauben in irgendeiner Form nach Außen zu verteidigen, damit wird sein Glaube wahrscheinlich intensiver, er lebt nur in seinem Glauben, b) sie macht tolerant gegenüber anderen Religionen. Also: Inhalte und Rituale nach Außen im Modus des Als-Ob (Vaihinger), nach Innen im Modus der Wahrheit. Aber das schließt nicht aus, über seine eigene und fremden Religionen zu diskutieren, aber ohne endgültige Entscheidungen!

Diese Position  gilt auch gegenüber einer materialistisch-atheistischen, die aus meiner Sicht auch ein Glaube ist, auch wenn die Befürworter das bestreiten, denn meinen ja, in der Wahrheit zu sein.

Mein Schicksal hat mich in einem evangelischen Milieu aufwachsen lassen, weshalb ich weitgehend seinem Ritus folge, denn ich traue ihm, er ist mir vertraut und er gefällt mir. Ich sah bisher keinen Grund, diese Religion zu wechseln.

Ich wünsche mir, dass die Gläubigen jeder Religion wissen und danach handeln, dass es absolut keinen Grund gibt, andere Gläubige ob ihres Glaubens zu diskriminieren oder gar zu bekämpfen. Wer meint, aus seiner religiösen Wahrheit heraus, Andersgläubige bekämpfen zu müssen, ist nicht mehr religiös, sondern dient dem Bösen. Ich freue mich deshalb auch, dass Andersgläubige, wie ich den meinigen,  ihren Glauben gefunden haben.“




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Essay Nr. 7

Sozial-ökologischer oder  ökologischer Politikansatz



Auslöser für diesen Beitrag ist ein produktives Streitgespräch zwischen einem Freund und mir  darüber, ob ökologische Politik notwendig eine „sozial-ökologische“ sein müsse, oder die auch von mir vertretene Position, dass der politische Akzent schwerpunktmäßig  auf „Ökologie“  liegen müsse. Die Begründung für „sozial-ökologisch“  lautet: „Es wird nicht gelingen, die ökologische Krise zu lösen, wenn nicht die soziale (Verteilungs-)Frage mit gedacht und mit gelöst wird.“ Als ein Beleg dazu wird die gerade veröffentlichte Oxfam-Studie (vom 21. 9. 20)  angeführt: „Reiche schädigen Klima mehr als Arme – Konsequenzen gefordert“. Worin besteht die Gemeinsamkeit beider Positionen? Ständiges Wirtschaftswachstum ist ein konstituierendes Moment des Kapitalismus, und ständiges Wirtschaftswachstum ist wiederum die entscheidende Ursache für den Klimawandel und damit für die Zukunft der Erde. Die Begründung für einen primär ökologischen Politikansatz finde ich am überzeugendsten und in aller Deutlichkeit bei Robert Kurz (Schwarzbuch Kapitalismus) formuliert. Dieser Ansatz ist übrigens bereits in der Frankfurter Schule angelegt, wurde aber zumindest in der Gründungsphase der Grünen durch die K-Gruppen zum Schweigen gebracht.

„Nicht mehr die Klassen- und Verteilungsfrage der alten Arbeiterbewegung wurde in das Zentrum der Analyse und Kritik gestellt, die im Kern nur auf eine gerechte Verteilung des produzierten Mehrwerts abzielte; vielmehr fokussierte sich die Kritik nun grundsätzlicher auf die gesellschaftliche Produktions- und Vermittlungsformen des Werts und der abstrakten Arbeit. Vor diesem theoretischen Hintergrund erschien der Sozialismus nicht als die große Systemalternative, sondern vielmehr als eine Alternation, eine staatskapitalistische Spielart des warenproduzierenden Gesamtsystems.“

Ich kritisiere mitnichten die Wirtschaft an sich, sondern nur die Form, die  in einer spezifischen Bedeutung kapitalistisch ist, nämlich  allein auf Wirtschaftsvergrößerung aus ist (biologisches Wachstum ist das nicht!) und sich gegenüber anderen Interessen absolut setzt. Wenn die erwirtschafteten Produkte und Dienstleistungen selbst nicht in Frage gestellt werden (= Gebrauchswert- kritik), sondern nur noch deren Verteilung, wie es immer noch traditionelle Linke  tun, dann ist das keine zeitgemäße Kapitalismuskritik. Dass in einer ökologisch verfassten Gesellschaft materielle Ungleichheit in Lebens behindernden Ausmaße keinen Platz hat, versteht sich „natürlich“ von selbst.  Wenn das der Fall wäre, muss energisch gegengesteuert werden. So sehe ich kein Problem darin, jede gut geleistete Arbeit gleich zu entlohnen.

Aus dieser Sicht ist die zur Begründung des sozial-ökologischen Ansatzes herangezogene  Oxfam-Studie  zumindest in  der leitenden Terminologie traditionellem Denkansatz verpflichtet. Warum? Die duale Reduzierung der Weltgesellschaft und der nationalen Gesellschaften auf Arme und Reiche ist willkürlich, weil die Definition beliebig ist. Diese Willkürlichkeit gelingt  nur, indem  man diese zwei Begriffe einfach abstrakt setzt und die Frage nach der absoluten Armut ausklammert. Voraussetzung von Dualismen dieser Art ist, dass inhaltliche Unterschiede  (das philosophische Daß) überhaupt vorhanden sind. In diesem Formalismus spielen Unterschiede, gleich welcher Art und Größe  keine Rolle, da beliebig jeder Inhalt in jeder Größe– wie die Geschichte gezeigt hat – eingesetzt werden kann.

Natürlich muss  die ungleiche Verteilung, wie man aktuell gerade an der amerikanischen Wahl erkennen kann, ein wichtiges politisches Ziel sein. Unbestreitbar gibt es auf der Erde Armut, genauer: absolute Armut.  Natürlich sind ein afrikanischer Bauer, dessen Böden vertrocknet sind und ein Fischer, dessen Fanggründe von industriellen Fangflotten leer gefischt wurden, absolut arm. Ungleichheit sollte  man allerdings nicht allein  an dem Besitz von Produktionsmittel festmachen. Weiter bringt hier  Bourdieus Differenzierung  des Kapitalsbegriffs in ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital. Warum nicht die reichsten  Fußballspieler, Künstler usw. dazunehmen? Ich gehöre  in Deutschland nicht zu den reichsten zehn Prozent (8,3 Millionen) Menschen, gehöre also formal zu der der ärmeren Hälfte der deutschen Bevölkerung. Mir geht es aber materiell mehr als gut, auch wenn ich kein Auto habe und auch nicht fliege. Die grundsätzliche Kritik an dieser dualen Vorgehensweise lautet deshalb: Eine Grenze kann man in einem  System immer so ändern, wie es einem am besten passt: „Reich sind immer die anderen“. Übrigens eine Strategie, die dem Kapitalismus nur entgegenkommt, weil nun Wirtschaftswachstum die höchste ethische und  politische Begründung erfährt,

Das aus politischer Sicht Destruktive am Kapitalismus ist also nicht allein der Besitz von Produktionsmittel, sondern die inzwischen universal gewordene Haltung, in jeder wirtschaftlichen Handlung ein Maximum für sich herauszuholen, also immer das Billigste - die dominierende  Ethik der Gegenwart, die eine beispielslose Gesamtdynamik entfaltet hat. Das  muss  in den entwickelten Industrieländern, in der die  Mehrheit der Bevölkerung in mehr oder weniger großem Wohlstand lebt, thematisiert und kritisch  reflektiert werden. Und in den Industrieländern muss die absolute Armut  nicht gießkannenartig, sondern gezielt beseitigt werden.

Erster Nachtrag: Wenn der  Begriff „sozial“ in der sozial-ökologischen Position auf die Verteilungsfrage  verengt wird, entsteht große Klarheit und Einfachheit. Der Begriff sozial umfasst aber nicht nur  Gemeinsames, sondern auch vermehrt Privates. Privates und Soziales (im Sinne von gemeinsam) bilden oft eine untrennbare Einheit: der „soziale“ Stadtpark hat natürlich auch einen privaten Wert, während  der private Besitz eines SUV  keine (positive) soziale Dimension hat. Übrigens kann man das ungleiche Verhältnis zwischen privat und sozial  gut an der Stärke des motorisierten Individualverkehrs und der Schwäche von Fußgängern, Radfahrern und öffentlichen Verkehrsmitteln erkennen. Beide Bereiche muss man strenger trennen, zumal die repressive Toleranz sich allein auf den privaten Sektor bezieht.

 Zweiter Nachtrag: Natürlich sind wir Grüne sensibel für soziale Fragen, aber unser politischer Schwerpunkt ist die Ökologie, nicht die soziale Frage insbesondere im Sinne der Gleichheit. Das drückt sich  in der Selbstbeschreibung „ökologisch“, d. h. ohne die explizite Bezeichnung „sozial“ aus.

 Ökologie und individuell und kollektiv kapitalistisch geprägte Menschheit bilden nicht zwangsläufig eine lebendige Einheit. Die Grünen tun gut dran, sich von diesem Doppelziel zu trennen. Wie wir aus der Geschichte des Sozialismus wissen, führt sozialistischen Politik nicht zwangsweise zur ökologischen Aussöhnung, aber umgekehrt ökologische Politik auch nicht zwangsweise zur Gesellschaft der Gleichen. Ökologie und eine Gesellschaft der Gleichen sind zwei verschiedene Ziele, die jeweils eine eigenständige Politik erfordern. So hart das klingen mag: In der gegenwärtigen Gesellschaft und Wirtschaft besteht zwischen beiden ein Gegensatz im Sinne eines Nullsummenspiel, sie stehen  nicht in einem Ergänzungsverhältnis. Ich meine, das Verhältnis zwischen Ökologie und Gleichheit ist noch nie systematisch analysiert worden. Fangen wird endlich mit dieser notwendigen Aufgabe an.

Ökologische Handlungsmaxime wäre: Bei absoluter Armut, nicht strukturell,  sondern im Entscheidungsfall gezielte soziale Hilfe.  Grüne verabsolutieren also nicht die Ökologie, wie in sozialistischer Theorie und kapitalistischer Theorie der Mensch verabsolutiert wird, was übrigens zum Anthropozän (= eine Erde, die aus sich selbst nicht bestehen kann) führt.




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Essay Nr. 8

Verhexung der Sprache durch die Gleichsetzung von Realabstraktionen und Naturdingen



Eine Sprache besteht aus Begriffen und Eigennamen. Ein Begriff hat folgende Eigenschaften: Er umfasst mehr oder weniger gleiche Objekte, deren Merkmale  als konstitutiv, d. h. essentiell aufgefasst werden. Er thematisiert nicht „zufällige“, also akzidentielle Merkmale, sondern abstrahiert von ihnen.  Einen Begriff kann man nicht sinnlich wahrnehmen. Ein Eigenname bezeichnet ein einzigartiges reales Objekt (diesen und nur diesen Hund) und besteht  aus essentiellen  und akzidentiellen Merkmalen. Akzidentielle Merkmale sind Merkmale, die ein Objekt  zu einem besonderen machen, so  die Farbe eines Hundes.  Wahrnehmen kann man  nur  einzigartige Objekte wie  beispielsweise die Hündin  Tina. Es liegt hier also  eine  Mischung aus Realem und Abstraktion vor.

Wozu diese Überlegungen? Obwohl ein Begriff  dem Menschen  empirisch nicht zugänglich ist, verwendet er ihn in der Regel  problemlos wie ein reales Objekt. Aber wie ist es möglich, etwas nicht Sichtbares doch zu sehen? Erklärung: Die im Denken und Handeln verwendeten Begriffe  sind zwar Abstraktionen, die erst der Verstand schafft. Sie sind Realabstraktionen, bleiben aber vom Herkommen und Sein Abstraktionen. D. h., alles vom Menschen Geschaffene, ob geistige Inhalte oder materielle Artefakte, sind per se Realabstraktionen. Damit unaufhebbar verbunden ist, dass die Schaffung von Abstraktionen  immer ein Herauslösung aus einem Ganzen ist und deren „Implantation“ in ein Ganzes  mit Schmerzen verbunden ist.

 

Realabstraktionen unterscheiden sich kategorial von   Naturdingen und reinen Abstraktionen.   Naturdinge kommen  unvermittelt und unverändert auf die Menschen zu, Sie sind naturwüchsig und verlaufen so und nur so und nicht anders.  Kritik immune  Ideologien  entstehen immer dann, wenn nicht zwischen Realabstraktionen und Naturdingen unterschieden wird,  wenn die gesellschaftliche Entwicklung überhaupt und im Detail  als naturwüchsig interpretiert wird. In dieser ideologischen Sicht sind Technologien, Institutionen,  Konsumgüter, Artefakte „naturwüchsig“ und nicht kritisierbar.

Die Quintessenz: Eine  Katze ist ein „Naturding“, ein  Zahnbohrer eine Realabstraktion und eine mathematische Formel eine reine Abstraktion. Realabstraktionen kann man links liegen lassen, oder man kann sie wertschätzen oder gegebenenfalls kritisieren.




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Essay Nr. 9

Ein ökologisches Manifest



Vorweg:

Ein politisches  System auf der Grundlage von Ökologie bestand oder besteht weder in sozialistisch noch kapitalistisch orientierten Ländern. Der Begriff Kapitalismus wird hier im beschreibenden Sinne von Max Weber verwendet. Linke Kritik besteht heute hauptsächlich  aus diffuser Kritik an der Ungleichheit, rechte Kritik  entweder als reine Orientierung am Wirtschaftswachstum oder als konservativ im schlechten Sinne von nationalen bis rassistischen Denken.

Zwar gab es insbesondere zwischen 1970  und 1980 praktische und theoretische Ansätze zur  Ökologie, aber nicht realisierte politische Systeme. Das hat sich bis heute nicht geändert. Aber das Bewusstsein, dass ökologische Veränderungen notwendig sind, hat sich nicht zuletzt wegen der Friday for Future- Bewegung global erweitert.  Das ist ein Grund dafür, dass vorliegender Beitrag  seine Erkenntnisse primär aus der Negation gewinnt, ja gewinnen muss, und relativ abstrakt ist. Die somit in den Mittelpunkt rückenden Strukturen dienen dem Ziel, die notwendige Richtung zu bestimmen, die eine ökologische Politik einschlagen muss.

 

A. Der Kern

Zu Zeiten von Karl Marx erhielt sich das Kapital  durch direkte Ausbeutung der Arbeiter und deshalb war  seine Kritik am Kapitalismus sinnvoll und notwendig. Fast zwei Jahrhunderte später erhält das Kapital  sich durch die sekundäre  Ausbeutung der gesamten Bevölkerung über den Konsum in der heutigen Form. Diese sekundäre Ausbeutung wird von der überwiegenden  Mehrheit der Bürger aber nicht als Ausbeutung, sondern als problemloser Fortschritt kritiklos und wesentlich als Freiheit begrüßt und gefördert. Das erklärt auch, obwohl die  besitzenden Klassen einseitig auf materiellen Konsum aus sind,  dass ein solches sinnleeres Leben für viele ein  wünschenswertes Lebensziel sei. Kritisiert werden aber – wie gesagt - die ungleichen Chancen, an diesem Konsumleben teilzunehmen.   

 

Sowohl die von Marx kritisierte primäre Ausbeutung der Arbeiterklasse als auch die sekundäre heutige Ausbeutung der gesamten Bevölkerung über den Konsum basieren auf ständigem Wirtschaftswachstum, das zunehmend die Form einer industriellen Zivilisation angenommen hat. Das ständige Wirtschaftswachstum ist aber die Hauptursache der gegenwärtigen ökologischen Zerstörungen. Auch ist der  Konsumkapitalismus jetzt auch ein geistiges Prinzip geworden, das inzwischen die gesamte Menschheit  ergriffen  hat: Alle denken und verhalten sich ausschließlich nach der Logik des Kapitals. So bei  Kaufentscheidungen, die  allein nach der Norm des Billigsten und nicht nach dem gerechten Preis (Augustinus) getroffen werden, was Reflektion und Abwägen, zumindest Vertrauen verlangt, während die Norm des Billigsten nur das Minimum an Denken verlangt. So hat die Logik des Billigsten im Wirtschaftlichen das Ende der Ethik zur Folge.

 

Dieser Sachverhalt  ist ein zwingendes Argument für eine nachhaltige Wirtschaftsweise, die man als einen ökologischen  Konservatismus beschreiben könnte. Diese Wirtschaftsweise geht vom Bedarf  der Konsumenten und der Ökologie aus und  nicht vom  Wirtschaftwachstum. Und diese, wie auch immer benannt, muss  aus demokratischen Gründen, dem zweiten Grundwert,  liberal sein.  Das nenne ich sekundären Liberalismus. Der ökologische  Konservatismus darf keine  nationalistischen und  rassistischen Momente enthalten. Und er muss aus strukturellen Gründen  Abschied vom Wirtschaftswachstum nehmen. Er strebt  im Wirtschaftlichen und Sozialen kleine Einheiten an. Alles das stellt keine Einbußen dar.  Die hier favorisierte Maxime „Small is beautiful“ gilt „natürlich“ nicht für den  geistigen und sozialen Bereich, denn hier ist Wachstum sinnvoll, notwendig, ja Wesensmerkmal des Menschen.

 

B. Erhellende Erläuterungen

 

1. Wertediskussion

Handeln wird von Werten bestimmt. Wertediskussionen und Werteentscheidungen müssen zeitlich vor individuellem und kollektivem Handeln stattfinden. Wenn diese Entscheidung
„falsch“ ist, werden alle nachfolgenden Handlungen falsch, und seien sie noch so rational. Sind sie „richtig“, erhöht sich die Möglichkeit, richtig zu denken und zu handeln. Es gibt also guten und schlechten, individuellen und kollektiven Subjektivismus - die Heimat der Ethik. Ethik ist im Handeln unverzichtbar und ohne einen guten Subjektivismus nicht denkbar, weil er die Begrenztheit und damit das potentiell egoistische Denken und Handeln  überschreitet. Wird diese Begrenztheit nur auf die Gattung Mensch bezogen, liegt trotzdem schlechter Subjektivismus vor. Denn, was dem Menschen allein nützt, muss nicht ethisch sein, das zeigt uns die Ökologie.

Die gegenwärtige Strategie, die Wertefrage innerhalb des bestehenden Rechts im Namen der Toleranz zu ignorieren und ihr aus dem Weg zu gehen, ist nicht zu tolerieren, weil fatal. Das damit zusammenhängende Problem: Einerseits geht es ohne Werte nicht, andererseits ist letztlich nicht entscheidbar, welche Werte die „richtigen“ bzw. welche „falsch“ sind. Hier gibt es keine absolute Sicherheit. Was heute wertvoll ist, muss  morgen nicht mehr so sein. Wegen dieser Unentscheidbarkeit sollte man, wenn irgend möglich, endgültige Entscheidungen auf Basis eines bestimmten Wertes, der eben nicht endgültig bestimmt werden kann, vermeiden. Unverzichtbar ist aber die Wertediskussion, die die Problematik einer jeden Entscheidung  zumindest deutlicher, d. h.  bewusster macht  einschließlich ihrer möglichen Gefahren. Nicht Toleranz, die meint, ohne Werte im Sinne von „everything goes“  auszukommen, ist das Ziel, sondern eine bewusstseinserweiternde reflektierte Toleranz, die um die Problematik der Werte und ihrer Entscheidungen weiß. Soweit ich es verstehe, liegt  die Ursache dieses  Bestrebens nach  Werteverzicht in  den  Motiven der Aufklärung. Nach dieser Auffassung sind zum Beispiel alle Texte gleichwertig. Aber das verallgemeinernd zu meinen, wäre das Ende menschlicher Kultur.

Diese  Aussagen gelten  auch für den Konsumbereich. Auf Warenkritik zu verzichten, wäre aus ökologischer und humaner Sicht der Weg in die Katastrophe. Kritik aber nicht  mit dem Ziel des Verbots, sondern des Verzichts aus Einsicht. Negative Konsumfolgen werden oft erst später durch explizite oder implizite Konsumkritik bemerkt. Gleiches gilt übrigens auch für die Eigentumsfrage, denn Eigentum kann missbraucht werden. Die Überdehnung des momentan rechtlich bestehenden  Eigentumsbegriffs kann auch dazu führen,  ein generelles Kritiktabu gegenüber der Warenwelt im  Namen des Eigentums durchzusetzen.

 

2.  Leben – Eigenbewegung – Wirklichkeit - Medien -  Motore - Technik

Leben ist  Ausgangspunkt und Zentrum aller  hier vorgebrachten Kritik. Leben kann durch nichts ersetzt werden. Leben umfasst nicht nur individuelles und kollektives menschliches Leben, sondern gleichwertig auch das der Mitlebewesen. Der Erhalt der Lebensräume von Tieren und Pflanzen ist ein wesentliches Ziel ökologischer Politik.

Von den fünf Merkmalen des Lebens ist die Eigenbewegung aus dieser Sicht das vielleicht wichtigste Merkmal. Erst in der Eigenbewegung entstehen Primär- und Wirklichkeitserfahrungen, also aus körperlichen und geistigen Aktivitäten des Menschen, nicht, wie die Werbung behauptet, aus motorisierten Bewegungen oder medialen Vermittlungen.

Der „Aufrechte Gang“ (Ernst Bloch)  ist Eigenbewegung im ganzheitlichen Sinne. Die sitzende Lebensweise ist eine reduzierte. Ursprünglich war geistige Arbeit (Aristoteles) und körperliche Arbeit (Handwerk) nicht sitzend.

Weiter: Elektronische Medien faszinieren dadurch, dass sie permanent Neues anbieten:  Ein ununterbrochener Strom aus Neuigkeiten. Das kann ein bisher nicht bekannter Sachtext sein,  ein  Wahlausgang, ein  Ergebnis eines Fußballspiels bis hin zu Werbung. Also eine Endlosschleife mit wechselnden Inhalten. Das Einzige, was der Zuschauer übrigens nicht mag, sind Wiederholungen. Daraus folgt: Neues ist kein Wert an sich, es gibt wichtige und unwichtige Neuigkeiten. Das hängt von der Perspektive und dem Anspruchsniveau ab. 

Techne (gr.) bezeichnet ein Können, das  als positive Möglichkeit untrennbar mit dem Menschen verbunden ist. Grundsätzliche Technikkritik ist eine verfehlte Kritik am menschlichen Wesen. Erst mit der Entwicklung von Motoren, wenn deren Einsatz  unkritisch in jedem Fall bejaht wird, entstehen für Mensch, Natur und  Erde existentielle Gefahren. Für die Erde der Klimawandel, für die Natur das massive Artensterben und für den Menschen die Entfremdung von sich selbst. Hegels Revolutionstheorie vom „arbeitslosen“ Herrn zum arbeitenden Knecht, kann man zu einer Motorenkritik verändern.  Heute sind die Motore die Sklaven. Ob sie Menschen ersetzen, ist wohl unwahrscheinlich, aber die Herren sind die Verlierer. Das ist kein Plädoyer gegen Motore, aber ein Plädoyer für ihren sparsamen Einsatz nach der Maxime „So wenig Motoreneinsatz wie unbedingt nötig, aber so viel körperliche und geistige Eigenbewegung  wie möglich“. Nicht sekundäre Konsumption, sondern primäre Produktion in Form von Subsistenz zeichnet eine ökologische Wirtschaftsweise aus. Vita activa!

Motortechnologien ersetzen das Leben. Sie dienen primär der Bequemlichkeit. Aber das nützt  in der Regel nicht  dem Leben, denn zum Leben gehört auch  konstitutiv  Anstrengung. Also bei motortechnischen Angeboten fragen „Nützen sie mir oder reduzieren  bzw. verhindern sie meine Lebenskraft?“

 

3.   Wirtschaftswachstum und modernisierter Kapitalismus

Für Marx und für die Wirtschaftswissenschaftler seiner Zeit, aber auch für die  Gegenwart  war und ist Wirtschaftswachstum natürlich, unweigerlich und selbsterklärend. Wirtschaftswachstum gilt als eine Naturgewalt, die alles mit sich reißt. Aber sie ist keine Naturgewalt. Deshalb kann und sollte Wirtschaftswachstum  kritisiert werden. Alle  Imperien in der Geschichte von Alexander d. G., Karl d. G., Friedrich d. G. bis zur Pax Romana wollten immer das Große. Alles Große geht aber auf Kosten der Kleinen und der Autonomie. Die Haltung zum  maßlosen materiellen Wachstum ist offensichtlich untrennbar  als negative Möglichkeit im  Menschsein vorhanden und muss in sinnvolle (inmaterielle) Bahnen gelenkt werden. Das heißt auch: Die Dynamik der wirtschaftlichen Tätigkeiten herausnehmen und auf andere Felder lenken wie Bildung, Soziales, Naturerleben. Deshalb muss die  Konsumkritik  gestärkt werden.

 

4. Die industrielle Zivilisation

Die industrielle Zivilisation beginnt mit der Erfindung und dem Einsatz der Dampfmaschine bis hin zur Entwicklung gegenwärtiger moderner Produktionsmethoden (Stichwort Digitalisierung). Ein Prozess, der offensichtlich noch lange nicht abgeschlossen ist. Die damit verbundene Umformung der Erdoberfläche nennt man mit recht Anthropozän (anthropos gr.  der Mensch). Der auf Waren konditionierte Mensch  ist die „natürliche“ Transformation des ganzheitlichen Menschen zu einer Funktion der industriellen Zivilisation, die im Kern Wirtschaftswachstum ist. Die Soziologin Liah Greenfeld thematisiert diese fast unverständliche Entwicklung als eine Frage: „What made the economic sphere so central in the modern, and in particular American, consciousness that our   civilization can in truth be called an “economic civilization”, that is, what persuaded millions of men and women, contrary to much of the historical experience and intimations of their own self-knowledge, to put their trust in economic growth (seen as natural) as the necessary and sufficient condition of social progress und political felicity?  (The Spirit of Capitalism, Harvard University Press, 2001,  S. 1).

Die Logik der industriellen Zivilisation verlangt nach dem Versiegen natürlicher Energiequellen zwangsläufig Atomkraft  wie in Japan, und ist nun in den USA und Frankreich angekündigt. Hier zeigt sich deutlich, dass Technik allein nicht reicht.

Die industrielle Industriegesellschaft ist eine reale „Get-away-Society“ von sich selbst, von Mitmenschen, Mitlebewesen, Wirklichkeit und von der Welt.




Inhaltsverzeichnis


Essay Nr. 10

Ökologie und politisches Denken - Was muss sich ändern?



Auslöser und Basis dieses Vortrags ist ein ökologisches Manifest gleichen Namens, das ich vor einigen Wochen verschickt habe.

Die Gedanken in diesem Manifest sind das Ergebnis eines fünfzigjährigen Bemühens um die Notwendigkeit, eine politische Ökologie zu begründen.

Aktuell verschärft durch ein für mich traumatisches Ereignis in Flensburg. Dort wurde nun ein zugegebenermaßen kleiner Wald nach dem Motto Eigentumsrecht der Investoren vor Klimaschutz abgeholzt, um Platz für den Neubau eines Hotels und Parkhauses zu schaffen. Übrigens auch mit Zustimmung der Grünen Flensburgs.

Eine bürgerliche Initiative Rettet den Bahnhofswald und eine junge Gruppe Baumbesetzer konnten trotz überzeugender Argumente und Engagements diesen brutalen Eingriff selbst im Jahre 2021 nicht verhindern.

Das Wunder war für mich, dass diese Menschen den Bahnhofswald nicht als abstrakte Einheit sahen, sondern sie hatten zu jedem einzelnen Baum eine Beziehung als Mitlebewesen, für den sie sich einsetzten. Hier waren sich Mensch und Natur sehr nahe.

Bevor ich mit dem eigentlichen Vortrag beginne, zwei Vorbemerkungen zu mir und dem Begriff der Ganzheit, die beide für mich untrennbar mit der Ökologie verbunden sind.

Erstens: Zu mir, nicht aus Eitelkeit, weil Aussagen immer biographisch gefärbt sind: Meine Eltern hatten ein Metzgerei, (Schlachterei). Als einziges Kind war es für alle, auch für mich, eine Selbstverständlichkeit, dass ich diesen Beruf ebenfalls lernte, zumal ich außerhalb des Fußballs keinerlei schulische Fähigkeiten (Volksschule) besaß oder Wünsche hatte, eine andere Laufbahn einzuschlagen.

Nach Vollendung der Lehre, so meine Rekonstruktion, entdeckte ich für mich, dass zwischen Bildung und Leben eine enge Beziehung besteht, dass das Leben, wie auch immer, einen hohen Wert habe.

Mit 29 Jahren, nach einem prägenden Studium in Frankfurt am Main, wurde ich schließlich Lehrer auf Föhr, einer kleinen Insel in Nordfriesland.

Aber ich war nicht nur Lehrer, sondern es folgten auch erste Einsätze für die Natur: Atomkraftwerk Brokdorf, 1978 Gründung einer Grünen Liste mit Einzug in den Kreistag, später Spitzenkandidat der Grünen zur Landtagswahl, danach Austritt aus den Grünen. Erste Buchveröffentlichung 1973 Umweltschutz im Unterricht. Dissertation zum Thema Naturerleben.

Ich bin zwar sehr vorsichtig, ja skeptisch, Lebenswege kausal zu erklären, aber irgendetwas wirkte schon damals in mir, die Schönheit des Lebens und die der Natur zu fördern und mit meinem Leben und Werten in Verbindung zu bringen. Eine schwierige Aufgabe.

Aus meiner Biographie erklärt sich vielleicht auch die Tendenz, sehr schnell in den Modus des Dus zu fallen. Ich duze gerne und werde gerne geduzt. Bitte um Verständnis, falls ich zu vertraulich werde.

Zweitens: Zum Begriff Ganzheit. Hegels Diktum, dass das Ganze die Wahrheit sei, stimmt. Erst recht für die Darstellung der politischen Ökologie und insbesondere für die Darstellung der von Menschen verursachten ökologischen Krisen.

Menschliches Handeln ganzheitlich verstehen heißt Psychologie, Geschichte, Lebensbedingungen, Religion usw. in den Verstehensprozess einzubinden.

Dem endlichen Menschen ist es nicht vergönnt, das Ganze zu erkennen. Er kann sich ihm nur nähern, wenn er Glück hat. Der Mensch darf aber das Ziel der Ganzheit nie aus den Augen verlieren, sonst ist letztlich Ethik nicht vorhanden und begründbar.

Sich dem Ganzen zu nähern, verlangt unvermeidlich einen relativ hohen Abstraktionsgrad der Darstellung, wenn man nicht den exemplarischen Weg einschlägt. Aber auch in der Exemplarität ist implizit Abstraktion vorhanden.

 

Das Ziel meines Vortrags

Ich versuche zu erklären, warum immer mehr Menschen kein Problem damit haben, die Natur durch motorisierte Werkzeuge zu ersetzen, ja diese Transformation als Fortschritt zu bewerten. Das zeigt zumindest eindeutig die Praxis, beispielsweise in der Gartenarbeit. Auch hier wieder unüberlegte Griffe zu motorisierten Gartengeräten wie Laubsauger.

Deswegen keine Trauer über neue Autostraßen, Abholzung usw. Für all das gibt es immer Gründe.

Das beschreibt aber gleichzeitig die aktive Umgestaltung der natürlichen Erdoberfläche zum Anthropozän, d.h. zu menschlichen Zwecken und Zielen.

Konkreter: Ich versuche die Frage zu beantworten, warum mein Nachbar zur Linken selbst bei schönstem Sommerwetter zum zweihundert Meter entfernten Bäcker mit dem Auto fährt, und warum meine Nachbarin zur Rechten jeden frühen Abend bis fast gegen Morgen ohne Unterbrechung vor dem Fernseher sitzt. Warum beide nicht ihr Leben und die Natur genießen.

Das erfordert primär keine psychologische, sondern primär eine gesellschaftskritische und anthropologische Analyse von Strukturen.

Ich stelle nun erst einmal die Kernthesen aus meinem ökologischen Manifest vor einschließlich des einzigen Dogmas: Zur ökologischen Politik gibt es keine Alternative.

Ein politisches System auf der Grundlage von Ökologie bestand oder besteht weder in sozialistisch noch kapitalistisch orientierten Ländern.

Der Begriff Kapitalismus wird hier im beschreibenden Sinne von Max Weber nicht klassenkämpferisch verwendet.

Linke Kritik besteht heute hauptsächlich aus diffuser Kritik an der Ungleichheit, rechte Kritik entweder aus reiner Orientierung am Wirtschaftswachstum oder konservativ im schlechten Sinne von nationalem bis rassistischem Denken.

Zwar gab es insbesondere zwischen 1970 und 1980 wertvolle praktische und theoretische Ansätze zur Ökologie, die aber irgendwie in Vergessenheit gerieten. Für mich immer noch vorbildlich Natur als Politik von Carl Amery aus dem Jahre 1976.

Aber das Bewusstsein, dass ökologische Veränderungen notwendig sind, hat sich nicht zuletzt wegen der Fridays-for-Future-Bewegung global erweitert.

Das ist ein Grund dafür, dass vorliegender Beitrag seine Erkenntnisse primär aus der Negation gewinnt, ja gewinnen muss, und relativ abstrakt ist.

Die somit in den Mittelpunkt rückenden Strukturen dienen dem Ziel, die notwendige Richtung zu bestimmen, die eine ökologische Politik einschlagen muss.

Zu Zeiten von Karl Marx erhielt sich das Kapital durch direkte Ausbeutung der Arbeiter, und deshalb war seine Kritik am Kapitalismus sinnvoll und notwendig.

Fast zwei Jahrhunderte später erhält sich das Kapital durch die sekundäre Ausbeutung der gesamten Bevölkerung über den Konsum in der heutigen Form.

Diese sekundäre Ausbeutung wird von der großen Mehrheit der Bürger nicht als Ausbeutung, sondern als problemloser Fortschritt kritiklos und wesentlich als Freiheit begrüßt und gefördert.

Das erklärt auch, da die besitzenden Klassen ebenfalls einseitig auf vergrößerten materiellen Konsum aus sind, dass ein solches sinnleeres Leben für immer mehr Menschen auf der Erde zum dominierenden Lebensziel, zum zentralen geistigen Prinzip wird:

Alle denken und verhalten sich ausschließlich nach der Logik des Kapitals.

So bei Kaufentscheidungen, die allein nach der Norm des Billigsten und nicht nach dem gerechten Preis (Augustinus) getroffen werden, was Reflektion und Abwägen, zumindest Vertrauen verlangt, während die Norm des Billigsten nur ein Minimum an Denken verlangt. So hat die Logik des Billigsten das Ende der Ethik zur Folge.

Dieser Prozess wird nicht mehr bedacht. Kritisiert werden aber die ungleichen Chancen, an diesem entfremdeten Konsumleben teilzunehmen.

Sowohl die von Marx kritisierte primäre Ausbeutung der Arbeiterklasse als auch die sekundäre heutige Ausbeutung der gesamten Bevölkerung über den Konsum basieren auf ständigem Wirtschaftswachstum, das zunehmend die Form einer industriellen Zivilisation angenommen hat.

Das ständige Wirtschaftswachstum ist die Hauptursache für die gegenwärtig zunehmenden ökologischen Zerstörungen, die nicht vor Kulturellem und Sozialem haltmachten.

Dieser Sachverhalt ist wiederum ein zwingendes Argument für eine nachhaltige Wirtschaftsweise, die man als einen ökologischen Konservativismus beschreiben könnte, aber nicht muss.

Diese Wirtschaftsweise müsste, wie auch immer genannt, aus demokratischen Gründen liberal sein. Das nenne ich sekundären Liberalismus.

Der ökologische Konservativismus darf keine nationalistischen und rassistischen Momente enthalten. Und er muss – um es noch einmal deutlich zu betonen – aus strukturellen Gründen Abschied vom Wirtschaftswachstum nehmen.

Er strebt im Wirtschaftlichen und Sozialen kleine Einheiten an. Alles das stellt keine grundsätzlichen Einbußen an Lebensqualität dar, sondern ist oft ein Gewinn.

Die hier favorisierte Maxime „Small is beautiful“ gilt „natürlich“ nicht im immateriellen geistigen und sozialen Bereich, denn hier ist Wachstum sinnvoll, notwendig, ja Wesensmerkmal des Menschen.

 

Die nun folgenden dreizehn Erläuterungen (von a bis m) zu zentralen Begriffen dienen der Erhellung des Kerns

Diese Erläuterungen versuchen, die Ursachen zu bestimmen, dass die Natur aus dem Bewusstsein und als Wert für Handlungen zunehmend verloren geht, dass Natur unwichtig im Denken und in der Existenz des Menschen geworden ist, zumindest immer weiter zurückgedrängt wird. Nur nicht in Sonntagsreden.

Aber Ursachen, wie fast alle Dinge und Situationen, sind je nach Perspektive sachlich und ethisch mehrdeutig, also nicht eindeutig.

Platon soll die Absicht gehabt haben (seine ungeschriebene Lehre), keine eindeutigen, sondern nur mehrdeutige, zumindest dualistische Aussagen zu machen.

Gleiche Dualität haben grundsätzlich die hier vorgestellten dreizehn Erläuterungen. Allerdings thematisiere ich wegen der ökologischer Perspektive schwerpunktmäßig nur einen Pol der Ursachen, obwohl eigentlich auch der andere Pol voll dargestellt werden müsste.

Nur bei der Ursache „Wirtschaftswachstum“ vermag ich beim besten Willen keinen positiven Pol zu finden. Umgekehrt dominieren bei den Faktoren Leben, Eigenbewegung, Wirklichkeit und Metaphysik die positiven Aspekte.

Wie das Licht einer Taschenlampe nur einen kleinen Ausschnitt in der Gesamtfinsternis beleuchtet und vielleicht erleuchtet – mehr leistet eine Lampe nicht – so hoffentlich auch zumindest die erhellenden Erläuterungen. Allerdings geht die Hand, die die Lampe führt, relativ willkürlich vor. Sie bittet das zu verzeihen.

 


a) Wertediskussion

Handeln wird von Werten bestimmt. Wertediskussion und Werteentscheidungen müssen zeitlich vor individuellem und kollektivem Handeln stattfinden.

Wenn die jeweilige Entscheidung „falsch“ ist, werden alle nachfolgenden Handlungen falsch, und seien sie noch so rational. Sind sie „richtig“, erhöht sich die Möglichkeit, richtig zu denken und zu handeln.

Es gibt also schlechten und guten Subjektivismus– der letztere ist die Heimat der Ethik.

Der Subjektivismus kann individuell oder kollektiv sein. Ethik ist im individuellen Handeln unverzichtbar und ohne einen guten Subjektivismus nicht denkbar, weil er die Begrenztheit und damit potenziell das egoistisches Denken überschreitet. Beispiele von „schlechtem“ kollektiven Subjektivismus sind in der Vergangenheit und Gegenwart leider ständig vorhanden.

Wird diese Begrenztheit nur auf die Gattung Mensch bezogen, liegt trotzdem schlechter Subjektivismus vor. Was dem Menschen allein nützt, muss nicht ethisch sein, das zeigt uns die Ökologie.

Die gegenwärtige Strategie, die Wertefrage innerhalb des bestehenden Rechts im Namen der Toleranz zu ignorieren und ihr aus dem Weg zu gehen, ist nicht zu tolerieren, weil fatal. Beispiel die Abholzung des am Anfang erwähnten Bahnhofwaldes in Flensburg.

Einerseits geht es ohne Werte nicht, aber andererseits ist letztlich nicht entscheidbar, welche Werte die „richtigen“ bzw. welche „falsch“ sind. Hier gibt es keine absolute Sicherheit. Was heute wertvoll ist, muss es morgen nicht mehr sein.

Wegen dieser Unentscheidbarkeit sollte man, wenn irgendwie möglich, endgültige Entscheidungen auf Basis eines bestimmten Wertes, der eben nicht endgültig bestimmt werden kann, vermeiden. Hilfreich ist hier das komparative Vorgehen: A ist wertvoller als B.

Wie auch immer: Unverzichtbar ist aber die Wertediskussion, da sie die Problematik einer jeden Entscheidung zumindest deutlicher, d.h. bewusster einschließlich ihrer möglichen Gefahren macht.

Nicht Toleranz, die meint, ohne Werte im Sinne von „everything goes“ auszukommen, sondern eine bewusstseinserweiternde reflektierte Toleranz ist notwendig, die um die Problematik der Werte und ihrer Entscheidungen weiß.

Diese Aussagen gelten auch für den Konsumbereich. Auf Warenkritik zu verzichten, wäre aus ökologischer und humaner Sicht der Weg in die Katastrophe.

Kritik, aber nicht mit dem Ziel des Verbots, sondern des Verzichts aus Einsicht.

Negative Konsumfolgen werden oft erst später bemerkt. Wie anders als durch Konsumkritik wird das problematisiert? Gleiches gilt auch für die Eigentumsfrage, denn Eigentum kann unverzichtbar sein, aber auch missbraucht werden.

b) Wirtschaftswachstum und modernisierter Kapitalismus

Für Marx und für die Wirtschaftswissenschaftler seiner Zeit und der Gegenwart war und ist Wirtschaftswachstum natürlich, unweigerlich und selbsterklärend.

Wirtschaftswachstum gilt als eine Naturgewalt, die alles mit sich reißt. Aber sie ist keine Naturgewalt. Deshalb kann und sollte Wirtschaftswachstum kritisiert werden.

Alle Imperien in der Geschichte von Alexander d. G., Karl d. G., Friedrich d. G. bis zur Pax Romana wollten immer das Große. Alles Große geht auf Kosten der Kleinen und auf Autonomie.

Die Haltung zu maßlosem materiellen Wachstum ist offensichtlich untrennbar als negative Möglichkeit im Menschsein vorhanden und muss in sinnvolle (inmaterielle) Bahnen gelenkt werden.

Das heißt: Nicht maßlose Konsumption, sondern Produktion in Form von Subsistenz muss im Mittelpunkt wirtschaftlichen Denkens und Handelns stehen.

Es gilt, die ungeheure Dynamik, die durch alleinige Konzentration auf individuelles und kollektives Wirtschaftswachstum entsteht zu brechen, d. h. andere Felder wie Bildung, Kultur, Naturschutz, Tradition, Können zum Blühen zu bringen.

Was früher und in anderen gesellschaftlichen, religiösen, traditionellen, politischen Systemen normativ gefordert wurde, fordert jetzt das Wirtschaftswachstum.

Ein Beispiel: Vor ihrem Reihenhaus stehen ein SUV, ein Motorboot, ein Wohnwagen und sie sind aktiv im Motorflugverein.

Wirtschaft ist biologisch gesehen der gleich bleibende Stoffwechsel des Menschen mit der Natur.

Wirtschaftswachstum ist lineares bis exponentielles Wachstum, d. h, die Zuwächse werden ständig größer.

Das ist nicht nur theoretisch, sondern auch sinnlich wahrnehmbar nahezu in jeder Stadt, Dorf oder Landschaft.

Diese „Entwicklung“ hat in vielen Gegenden bereits die Qualität des Anthropozäns erreicht.

Es geht beim ökologischen Wirtschaften dagegen um den Energie-Materie-Verbrauch, um die Rücksicht auf Natur und um die Befriedigung der Grundbedürfnisse. Sonst freie Gestaltung.

Wirtschaftswachstum und Konsumzwänge sind zwei Seiten derselben Medaille.

Ökologische Destruktionen einschließlich des Klimawandels beziehen sich auf natürliche, soziale und bebaute Umwelt sowie auf die dazugehörigen Motive dieses Handelns. Deswegen ist der ganzheitliche Zugang zum Verständnis dieses Prozesses zwingend.

Vielleicht hilfreich für ökologisches Denken: Im Wort Idiot aus dem Griechischen meint Privatmann. Das Wort privat bedeutet im Lateinischen der Herrschaft beraubt. Idiotische Produkte wären dann: Großevents, riesige Fernsehbildschirme, Autos, Atombomben, Laubsauger, …

Die Soziologin Liah Greenfeld sieht in konkurrierenden nationalen Wirtschaften und im individuellen Gleichheitsstreben auf materieller Konsumebene (Keeping up with the Johnsons) wesentliche Ursachen für globales Wirtschaftswachstum.

Auch das Arbeitsplatzargument legitimiert fast immer Wirtschaftswachstum. Letztlich auch die enge Verzahnung von Wirtschaftswachstum und Demokratie.

Wirtschaftswachstum erklärt auch den Furor des ständig Neuen.

Einige aus dem Wirtschaftswachstum abgeleitete Dualismen: Bequemlichkeit vs. Anstrengung, Schnelligkeit versus Entdeckung der Langsamkeit, Big is beautiful versus Small is beautiful, Billigkeit vs. gerechter Preis (Augustinus), Übersichtlichkeit vs. Vielfalt (Natur und Ästhetik), gedanklich abstrakt vs. sinnlich konkret, Realabstraktion vs. Naturdinge, Unterhaltungsmedien vs. Wirklichkeit, Wachstumswirtschaft vs. Bedürfniswirtschaft, Materialwissenschaften vs. Naturwissenschaften, Realität vs. Wirklichkeit, …

Werbung ist das Einfallstor des Überflüssigen.

 

c) Industrielle Zivilisation

Die industrielle Zivilisation beginnt mit der Erfindung und dem Einsatz der Dampfmaschine bis hin zur Entwicklung gegenwärtiger moderner Produktionsmethoden (Stichwort Digitalisierung).

Ein Prozess, der offensichtlich noch lange nicht abgeschlossen ist, wenn überhaupt abschließbar. Die damit verbundene Umformung der Erdoberfläche nennt man Anthropozän (anthropos gr. der Mensch). Google Maps zeigt das Ausmaß des gegenwärtigen Anthropozäns.

Der auf Waren konditionierte Mensch ist die „natürliche“ Transformation des ganzheitlichen Menschen zu einer Funktion der industriellen Zivilisation, die im Kern Wirtschaftswachstum ist.

Die schon erwähnte Soziologin Liah Greenfeld thematisiert diese fast unverständliche Entwicklung als eine Frage:

„What made the economic sphere so central in the modern, and in particular American,          consciousness that our civilization can in truth be called an “economic civilization”, that is, what persuaded millions of men and women, contrary to much of the historical experience and intimations of their own self-knowledge, to put their trust in economic growth (seen as natural) as the necessary and sufficient condition of social progress und political felicity? (The Spirit of Capitalism, 2001, S. 1).

Die industrielle Gesellschaft ist eine reale „Get-away-Gesellschaft“ von sich selbst, von Mitmenschen, Mitlebewesen und Wirklichkeit und von der Welt.

Die industrielle Produktion beruht auf Motoreneinsatz. Das ist der Unterbau. Diese Produktionsweise hat die gesamte Gesellschaft durchdrungen.

Den Überbau nenne ich industrielle Zivilisation, die inzwischen fast alle Gesellschaften erfasst hat.

Der Begriff Zivilisation ist umfassender als Produktion.

Industrielle Strukturen sind keine Landschaft, die Natur hat in ihnen kein Eigenrecht, sie dienen allein den Menschen.

Begriffe wie Fundamentalkritik, Entfremdung, gerechter Preis, Bildung haben keinen systematischen Ort im Konsumkapitalismus.

Industrialisierte Landwirtschaft ersetzt Eingriffe menschlichen und tierischen Ursprungs durch motorisierte.

Die industrielle Landwirtschaft hat sich aus der traditionellen kleinteiligen, differenzierten Landwirtschaft entwickelt.

Industrielle Landwirtschaft setzt auf Monokultur, so dass ein bestimmtes Produkt in riesigen Mengen homogen motorisiert hergestellt werden kann. Die Anbauflächen werden ständig vergrößert. Das Amazonasgebiet das letzte Feld?

Strukturgleich sind die Einkaufsmärkte. Für kleine Produzenten gibt es strukturell keinen Markt mehr. Industrielle Produktion und große Einkaufsmärkte bedingen einander.

Die industrielle Zivilisation duldet nur noch Produktionsformen, die den Menschen dienen. Die Produktivität der Natur gilt als antiquiert (Günther Anders), sie muss zumindest verbessert, d. h. modernisiert werden. Zu dieser Logik scheint es keine Alternative zu geben.

Die Logik der industriellen Zivilisation verlangt nach dem Versiegen natürlicher Energiequellen zwangsläufig Atomkraft wie in Japan, und nun in der USA und Frankreich angekündigt, denn die Nutzung natürlicher Energiequellen stößt an Grenzen.

Vielleicht ist die Entropie, der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, letztlich das entscheidende Argument gegen ständiges Wirtschaftswachstum. Entropie beschreibt den Prozess von Energiekonzentrationen zur gleichmäßigen Verteilung als Wärme. Das führt zum so genannten Wärmetod.

Die Forderung nach gleichen Bedingungen für Stadt und Land setzt die industrielle Zivilisation durch.

Die industrielle Zivilisation ist das eigentliche Subjekt, der Mensch ist nur noch eine Funktion von ihr, effektiver Widerstand hat offenbar keine Chance. Sie ist fast ein Naturereignis

Die Realisation der industriellen Zivilisation in allen Teilen der Erde ist das allen gemeinsame Ziel. Das autoritäre China ist hier Modell. In der industriellen Zivilisation hat Natur keinen systematische Platz mehr.

 

d) Leben – Natur – Ökologie

Leben ist Ausgangspunkt und Zentrum aller hier vorgebrachten Kritik.

Leben umfasst nicht nur individuelles und kollektives menschliches Leben, sondern gleichwertig auch das der Mitlebewesen.

Der Erhalt der Lebensräume von Tieren und Pflanzen ist ein wesentliches Ziel ökologischer Politik.

Die Natur gibt keine Handlungsorientierung mehr, sondern ist nur noch Rohstoff. Materie ist leblose Natur. Aus dieser Sicht sind Naturwissenschaften Materialwissenschaften – letztlich wohl auch die Biologie selbst.

Das Wesen der Natur ist das Leben. Das Leben ist eine Realabstraktion der Natur. Die Natur ist, wenn Menschen sie thematisieren, immer kulturell überformt. Die Ökologie beschreibt wissenschaftlich die Prozesse in der Natur.

Die Ökologie bildet ein System, in dem alle Elemente direkt oder indirekt miteinander interagieren. Natur besteht aus organischen und anorganischen Elementen. Die Ökologie ist die Physiologie der Natur.

Die Naturzerstörung ist eine doppelte, denn Natur besteht aus äußerer und innerer Natur. Beide sind gefährdet.

Die Moderne ist fundamental feindlich gegenüber der Natur. Natur ist nur noch Ornament und wird nur noch geduldet, wo sie die Profitinteressen nicht stört.

Die Moderne sieht auch systematisch nicht die Selbstheilungskräfte des Lebens und der Natur, für sie hat hier nur Technik Platz.

 

e)  Eigenbewegung

Mein zentraler Alternativbegriff ist der der körperlichen und geistigen Eigenbewegung des Menschen.

Alle körperlichen und geistigen Fähigkeiten basieren auf Eigenbewegung. Eigenbewegung setzt ein autonomes Ich voraus. Dieses Ich ist kein materielles Gebilde, sondern ein immaterielles, das ich als die Mitte des Menschen bezeichne. Diese Mitte kann man nicht kaufen, noch technologisch-medizinisch implantieren, sondern jedes Lebewesen muss es selbst entwickeln, was bei kleinen Kindern am besten zu beobachten ist.

Strukturen werden von Menschen geschaffen und erhalten. Eigenbewegung ist eine natürliche Kraft. Deswegen: so viel Eigenbewegung wie möglich.

Selbst entscheiden, rekonstruieren, Kritik üben, singen, selbst spielen anstatt Länderspiele besuchen oder gar im Fernsehen verfolgen. Übrigens auch einen Vortrag halten.

Erst in der Eigenbewegung entstehen Primär- und Wirklichkeitserfahrungen, also aus körperlichen und geistigen Aktivitäten des Menschen, nicht, wie die Werbung behauptet, aus motorisierten Bewegungen oder medialen Vermittlungen.

Eigenbewegung verbraucht metabolische, d. h. körpereigene statt externer Energie (Ivan Illich).

Vor jedem Urlaub sind wir vorher ca. 150 Kilometer zu unserem Hotel in Bayern gewandert, um auch ein akzeptables Verhältnis zwischen metabolischer und externer Energie zu erreichen, aber natürlich nicht primär aus diesem Grunde.

Eigenbewegung im weitesten Sinne ist kein Selbstwert, sondern orientiert sich letztlich am Wahren, Guten und Schönen.

Der aufrechte Gang, beschrieben von Ernst Bloch, ist Eigenbewegung im ganzheitlichen Sinne.

Die sitzende Lebensweise ist eine reduzierte. Ursprünglich waren geistige Aktivität und Gehen kein Gegensatz (Peripathetiker, Aristoteles).

Hinzu kommt, dass mit der äußeren ebenso die innere Natur vernachlässigt wird.

Die innere Natur wird insbesondere in der Eigenbewegung aktiviert. Naturerlebnisse entstehen in der Einheit von innerer und äußerer Natur.

Der Wunsch nach Eigenbewegung ist ein genuin menschlicher, insbesondere bei Kindern („selbst machen“).

Eigenbewegung ist als Voraussetzung für die Entwicklung der gegebenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten unverzichtbar.

Und! Eigenbewegung ist auch aus ökologischen Gründen unverzichtbar.

 

f)  Wirklichkeit

Mit Realität bezeichne ich allein Bewusstseinsphänomene, unabhängig davon, ob sie in der Außenwelt existieren oder nicht.

Mit Wirklichkeit bezeichne ich außerbewusstseinsmäßige Dinge, die auf den Menschen sinnlich wirken, egal ob sie im Bewusstsein existieren oder nicht.

Wirklichkeit und Realität werden zumeist synonym verwendet. Ich dagegen unterscheide Realität und Wirklichkeit kategorial.

Ich dränge den Realitätsbegriff zurück, um den so wichtigen Wirklichkeitsbegriff zu retten.

Wirklichkeit entsteht, wie bereits erwähnt, erst, wenn Mensch und seine jeweilige Umwelt interagieren, also eine Einheit bilden.

Nur der forschende Wissenschaftler ist nahe an der Wirklichkeit, aber auch hier nur im Bewusstsein. Denn die Resultate der Wissenschaft „liegen“ im Bewusstsein, also in meiner Unterscheidung in der objektivierten Realität.

Wirklichkeit besteht aus Lebewesen und Artefakten. Artefakte wirken mechanisch, nicht subjektiv spontan, denn sie verfügen nicht über Freiheit.

Auto, Fernseher, Bücher, Phantasien, Naturwissenschaften usw. erzeugen Realität. Gehen, wandern, mit der Hand arbeiten, erzeugen Wirklichkeit.

 

g) Technik – Motore

Techne (gr.) bezeichnet ein Können, das als positive Möglichkeit untrennbar mit dem Menschen verbunden ist.

Grundsätzliche Technikkritik ist deshalb eine verfehlte Kritik am menschlichen Wesen.

Erst mit der Entwicklung von Motoren, deren Einsatz immer unkritisch bejaht wird, entstehen für Mensch, Natur und Erde existentielle Gefahren. Für die Erde der Klimawandel, für die Natur das massive Artensterben und für den Menschen die Entfremdung von sich selbst.

Hegels Revolutionstheorie im Kern: Der Herr arbeitet nicht. Jedoch der Knecht arbeitet für den Herrn und wird zum fähigen Menschen.

Heute sind die Motoren die Sklaven, aber die Herren sind die Verlierer, denn die Motore „wehren“ sich ökologisch, d. h. sie verursachen den Klimawandel.

Das ist kein Plädoyer gegen Motore, aber ein Plädoyer für ihren sparsamen Einsatz nach der Maxime:„So wenig Motoreneinsatz wie nötig, aber so viel körperliche und geistige Eigenbewegung i. w. S. wie möglich.“ Vita activa.

Deswegen: Technikkritik nein, Motorenkritik ja.

Motore ersetzen das Leben. Sie dienen primär der Bequemlichkeit. Aber das nützt längst nicht immer dem Leben, denn Leben ist auch Anstrengung.

Also immer bei motorisierten Angeboten fragen „Nützen sie mir, reduzieren bzw. verhindern sie nicht mein Leben?“ Also Warnung vor Motoren, nicht automatische Bejahung, wenn sie Funktionen als Selbstzweck des Lebens ersetzen.

Pointiert: Motore sind grundsätzlich Feinde des Lebens.

Motore verhindern Naturerfahrung, weil der subjektive Anteil nicht aktiv ist.

Von Haustür zu Haustür mit dem Auto zu fahren, ist Ermordung der Zwischenräume in der Erfahrung.

Aus Kants ethisch kategorischem Imperativ ist der innere Zwang zur Autonutzung geworden.

Die Veränderungen in Wirtschaft, Mobilität, Klimawandel und menschlicher Lebenswelt wären ohne Motore nicht möglich gewesen.

Beim Autofahren ist man still gestellt. Motorisierte Mobilität ist keine Eigenbewegung. Der Gelähmte, selbst ein Toter ist im Leichenwagen mobil.

Wir müssen uns keine Gedanken machen, wie wir die Motorennutzung maximieren können, sondern wo ihr Optimum liegt.

Fahrende Studenten gingen zu Fuß.

Arthur Kühn, ein Soziologe an unserer Uni in Flensburg, sprach immer davon, dass Auto und Unterhaltungsmedien die größten Kontaktvernichter seien. Er hat Recht. Nur noch die Orte der Abfahrt und des Ankommens haben Bedeutung.

Zwischenräume verlieren jeglichen Wert – höchstens, dass man sie mit dem Auto überwunden hat.

Der Motor kennt während seiner Bewegungen keine Sensibilität für seine Umwelt. Seine panzerartigen Bewegungen sind Takt, nicht Rhythmus.

Im motorisierten Individualverkehr wird die Irrationalität des Motoreneinsatzes am deutlichsten. Vielleicht könnte man mein Manifest auch als eine erweiterte Kritik des motorisierten Individualverkehrs lesen:

a)     Schäden gegen die natürliche, bebaute und soziale Umwelt.

b)     Schäden gegen den Menschen. „Motor frisst Eigenbewegung“, d. h. der fahrende Mensch wird still gestellt. Das Auto ersetzt das Ich bzw. wird zum eigentlichen Ich bzw. Subjekt: Ich fahre, also bin ich. Ich stehe dahinten auf dem Parkplatz, obwohl mein Freund vor mir steht. Beim Autofahren besteht die einzige Aktivität in der Wahrnehmung Ich werde gefahren, was aber verdrängt und mit Phantasieinhalten gefüllt wird. Erfahrungen im Auto sind höchste Abstraktionen von einem ganzheitlichen Ich, letztlich die Tatsache, dass man keine substanziellen Erfahrungen von der Welt und sich macht. Das ist ein hoher Grad von Entfremdung.

c)     Lösungen: Auswilderung, um die Schönheit der Eigenbewegung zu erfahren, auch öffentliche Verkehrsmittel attraktiv machen wie einmal im Monat umsonst Bus fahren.

d)    Motorisierte Bewegung hat im motorisierten Individualverkehr nur Verluste, im öffentlichen Verkehr bestehen soziale Möglichkeiten, d. h zwei Leben treffen aufeinander.

 

h)  Elektronische Medien

Elektronische Medien faszinieren dadurch, dass sie permanent Neues anbieten. Ein ununterbrochener Strom aus Neuigkeiten von einem Wahlausgang über das Ergebnis eines Fußballspiels bis hin zur Werbung. Also eine Endlosschleife mit beliebigen Inhalten. Das Einzige, was der Zuschauer nicht mag, sind Wiederholungen.

Daraus folgt: Neues ist kein Wert an sich, es gibt wichtige und vollkommen unwichtige Neuigkeiten. Das hängt von der Perspektive und dem Anspruchsniveau ab, was reflektiert werden muss.

Die Hauptdestruktion der Medien: Schwächung der Einbildungskraft und keine Zeit zur Aneignung, d. h. Verbindung mit seinem Ich mit bereits vorhandenen Geistigem.

Medien von ihrer materiellen Existenz her gesehen sind Wirklichkeit, aber ihre Produkte sind keine Wirklichkeit, sondern endlos Neues. Der Furor des Neuen erfasst auch Menschen und macht sie zu Objekten.

Bilder und Filme entwerten Wirklichkeit und Natur. Sie riechen, schmecken nicht. Ihre Inhalte kann man nicht fühlen. Selbst ein Naturfilm ist keine Natur.

Medien werden zunehmend zur primären Umwelt. Selbst beim Spazierengehen werden Unterhaltungsmedien eingesetzt. Die moderne Gesellschaft wird zunehmend eine mediale bei abnehmender Wirklichkeit.

Tendenz des modernen Lebensgefühl: Wenn man nicht in einer spektakulären Wirklichkeit ist, muss man zumindest in einer Medienwelt sein, sonst fühlt man sich tot. Ein Drittes gibt es nicht.

Lesen und Denken sind einerseits abstrakt, andererseits verbinden sie sich mit dem Ich und erzwingen Vertiefung, Verwesentlichung, dienen letztlich auch der Wahrnehmung.

Die Fähigkeit, jeden Tag stundenlang vor dem Fernseher zu sitzen, ist nicht körpereigener Kraft, sondern externer Elektrizität zu verdanken. Deshalb nenne ich diese Menschen elektrifizierte Nachteulen.

 

i)  Sprache

Ohne Sprache wäre der Mensch kein Mensch. Sie beschreibt Wirkliches, aber sie kann auch in die Irre führen, verhexen und Naturverlust rationalisieren.

Im Denken und in der Sprache liegen also oft die Anfänge von Fehlentscheidungen und Irrtümern. Die materielle Situation ist gegeben, die jeweilige Versprachlichung ist entscheidend, die das Denken gegebenenfalls aufbrechen muss.

Die Hauptursache der Verhexung durch Sprache ist keine absolute, sondern eine relative. Nicht der jeweilige Begriff ist das Problem, sondern seine Verwendung auf einer bestimmten Abstraktionsebene.

Am Beispiel Mobilität aufgezeigt: Der Begriff Mobilität thematisiert explizit allein die reine Ortsveränderung. Er ist entstanden aus mehreren Begriffen von niedrigerem Abstraktionsniveau wie Eigenbewegung (biologische Mobilität), Mobilität durch motorisierten Individualverkehr oder durch motorisierte öffentliche Verkehrsmittel.

Aber genau diese Unterschiede sind aus ökologischer und aus gesundheitlicher Sicht von allergrößter Wichtigkeit und dürfen nicht in höheren Abstraktionsbegriffen verschwinden, weil sie dort alle gleichwertig sind.

Gleiches gilt für viele Begriffe so für Information und Kultur. Andererseits sind höhere Abstraktionen ein ethischer Gewinn „Dieser Kuss der ganzen Welt“ und kognitiver Gewinn z. B. in der Philosophie.

Sprache ist Medium und Inhalt in einem. Das entspricht noesis und noema von Edmund Husserl. Noesis ist der Inhalt des Denkakts, Noema die Form. Sie können zusammenpassen, aber auch voneinander abweichen.

Der Begriff „Szene“ ist vielleicht informativer als der Begriff „Begriff. Ein Begriff hat eindeutige Grenzen, eine Szene wirkt aus einem Energiekern heraus, der sich ständig abschwächt und oft mit anderen Szenen überlappt.

Auch in dieser Arbeit überlappen sich die Begriffe ständig, denn sie sind lebendig. Das Leben hat, vom Tod wohl abgesehen, keine scharfen, eindeutigen Grenzen.

Naturwissenschaft ist genau gesehen – wie bereits gesagt – eine Materialwissenschaft. Hier liegt die Ursache der Täuschung in einer falschen Wahrnehmung. Das hängt mit dem kantisch dualen Denken in Materie – Freiheit zusammen, die Kant erst in der dritten Kritik relativiert.

Also keine absoluten Aussagen machen, sondern lernen, mit Ungewissheiten und Unsicherheiten umzugehen. Formulieren wie Ich glaube zu wissen, dass … und vermehrte Verwendung des Konjunktivs.

 

j) Subjektivismus

Es gibt einen individuellen und einen kollektiven Subjektivismus. Der Subjektivismus kann, wie bereits am Anfang gesagt, gut oder schlecht sein.

Die Wurzel des Subjektivismus liegt im Selbstbewusstsein, der zu dem Satz führt Der Mensch ist das Maß aller Dinge (= Homo-mensura-Satz).

Dieser Satz mag für die Erkenntnisse der Menschheit stimmen, aber nicht für die Erkenntnis an sich und erst recht nicht für die Handlungsebene. Erkenntnistheorie ist nicht Ontologie.

Dieser Satz führt zum schlechten Subjektivismus wie jener Wenn es dem Menschen dient, ist es gut. Aber genau das ist die Ethik der industriellen Zivilisation: Alles, auch Tiere und Pflanzen außer dem Menschen selbst, werden zum Rohstoff – anders kann man gar nicht denken.

Subjektivismus ist a) nicht aufhebbar und b) ethisch unverzichtbar.

Fazit. Wir müssen nicht nur philosophisch, sondern auch praktisch die Transformation vom egoistischen Subjekt zum seinsbewussten Subjekt leisten.

 

k)  Sozialismus

Der Begriff Sozialismus ist ein formaler. Er legt nicht Inhalte fest. Deshalb kann eine sozialistische Gesellschaft eine konsumorientierte, eine nach „echten“ Bedürfnissen oder die Synthese von „echten“ Bedürfnissen und ökologisch Vertretbaren sein. Das muss entschieden werden.

Sozialismus in marxistischem Sinne thematisiert nur die Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten. Alles, was Rousseau am Adel kritisierte, alles, was Thomas Veblen an den Reichen in der USA kritisierte, vieles, was die Frankfurter Schule kritisierte, kritisiere ich am Konsumbürger.

Sozialismus als Prinzip der materiellen Gleichheit ist oberhalb der Armutsgrenze Gegner der politischen Ökologie. Sozialismus als Prinzip der Gleichwertigkeit aller Lebewesen ist eine Selbstverständlichkeit.

Politisch, nicht ethisch muss sich die politische Ökologie vom materiell orientierten Sozialismus befreien, sie muss selbständig denken.

Die Beseitigung von absoluter Armut ist ein Muss. Sozialismus ist nicht die Negation zum Konsumkapitalismus, sondern eine Variante.

Die traditionelle Linke war im Denken und Handeln ökologiefrei.

Die wahren Fundamentalisten in der Gründungszeit der Grünen waren die Altökologen. Marxisten stellten die industrielle Zivilisation nicht infrage, d. h. sie waren in dieser Beziehung nicht Fundamentalisten.

 

l) Metaphysik

Wenn man vom Sozialismus marxistischer Prägung spricht, muss man auch vom Materialismus sprechen. Wenn man vom Materialismus spricht, muss man auch von der Metaphysik sprechen.

Aus meiner Sicht thematisiert der Materialismus die halbe Wahrheit und verpasst das Wesen des Menschen und der Natur. Man kann Metaphysik nicht beweisen, auch nicht ihre Nichtexistenz. Aber ohne Metaphysik wäre das Leben ärmer.

Materialismus als Philosophie ist mir zu einseitig, Materialismus zu materiellem Konsum reduziert, lehne ich vollkommen ab.

 

m) Anmerkungen zur Utopie

Alternativen sind Utopien. Zumindest der ökologische Zustand der Erde verlangt kategorisch Alternativen.

Wir brauchen einen inneren Kompass und kein äußeres Wissen der bestehenden Gesetze, was innerhalb dieser Gesetze Unmoralisches möglich ist.

Wir müssen lernen, auf unsere autonomen Bedürfnisse zu achten.

Eine Utopie ist nicht an sich gut. Jede realisierte Utopie kann gefährlich sein, u. U. schlechter als das kritisiert Bestehende. Sie bevormundet, erschwert Autonomie. Kritik tendiert zur Einseitigkeit.

Kritik (von gr. krinein = unterscheiden) muss auch die Gewinne der Moderne wie Demokratie, Toleranz, Blickerweiterung, Befreiung von schwerer Arbeit thematisieren und schätzen.

Politische Ökologie als zentrale Aufgabe zu denken und zu realisieren, ist fundamental neu. Deswegen muss sie sich von rechten und linken Denkvoraussetzungen emanzipieren.

Der falsche Schluss: Die Negation des materiell Bestehenden sei die Renaissance des Vergangenen.

Es geht in der ökologischen Lebensweise um die prinzipielle Wertschätzung der Natur, die Überwindung von rassistischem und nationalistischem Denken, um Bedarfswirtschaft und Wertschätzung der Region

Ich schließe mit einigen Gedanken über und von Walter Kappacher, die auf notwendige Voraussetzungen ökologischen Fühlens, Denkens und Handelns hinweisen:

„Walter Kappacher ist jemand, der denkt, in einer ganz kleinen Welt, in einem kleinen Ausschnitt unserer Welt ist so viel zu entdecken, dass das eigentlich ausreicht für ein Werk und für ein Leben. ….Die Sensation der Stille, der Furor der Langsamkeit, die Revolution der Ereignislosigkeit, all diese Momente, die ein Ich dazu zwingen, seiner selbst gewahr zu werden, verdichten sich zu einem Roman des Selbstversuchs einer Figur, zu so etwas wie einer Art geläuterter Existenz vorzudringen“ (aus einem Interview, das Frank Meyer mit dem Autor führte).




Inhaltsverzeichnis


Nr. 11

Die vernachlässigte Ressource der Nachhaltigkeit:

Du kannst mehr, als Du denkst!
Geschichten und Reflexionen zum Gehen





Inhalt


1. Im Mirabellenbaum - Du kannst mehr, als du denkst
2. Eine sehr kurze Hinführung
3. Kurzurlaub in Sonderburg
4. Aus meinem „bewegten“ Leben
5. Gehen
6. Eine Nachtwanderung auf der Insel Föhr
7. Momentaufnahme
8. Im Gehen erschließt sich erst das Potential des Weges
9. Eine Bewegungsanalyse
10. Askese und Genuss: Von Starnberg auf die Elmau
11. Vita activa
12. Neue Wege finden: Von Altona-Landungsbrücken nach Blankenese
13. Ein Lob den Hindernissen – aber in Grenzen
14. Kurs halten!
15. Ich nehme eine fatale Abkürzung
16. Entgegensetzen und unterscheiden
17. Immer Vorsicht walten lassen
18. Morgens in Gang kommen
19. Auf dem Tanztee gelandet
20. Merkwelt und Wirkwelt
21. Zwei gegensätzliche Reiseberichte zum selben Thema
22. Ich (Fußgänger) sehe etwas, was Du (Autofahrer) nicht siehst
23. Urlaub möglichst ohne Auto
24. Drei strukturelle Fehlentscheidungen auf der Wanderung von Sterzing nach Meran
25. Gehen und konkreter Sinn
26. Unerwartete Überraschungen
27. Im Weg kann Schönheit liegen – der Gendarmenstieg
28. Gewohnheiten schaffen
29. Zum Wirtshaus im Spessart - Angst am Silvesterabend
30. Es schneit: Missmut und Freude
31. Kinder unter erschwerten Bedingungen abholen
32. Wiese versus Spielscheune
33. Outdoor-Aktivitäten damals
34. Vom Outdoor- zum Indoor-Leben heute
35. Eine kurze Geschichte über Laufgewohnheiten in meiner Familie
36. Averlak - Prägung durch konkrete Erfahrungen
37. Eine Station in meiner Entwicklung vom konsumorientierten Saulus zum ökologischen Paulus
38. Ein grenzwertiger Deal
39. Kinder als Wegbereiter für neue Konsumgüter
40. Sinnvolle Reduktion
41. Schädlichen Emissionen aus dem Weg gehen
42. Wie wir ohne Auto sehr schön leben
43. Ganz ohne Wehmut geht auch das nicht
44. Eine Alternative mit drei Unteralternativen
45. Warum soll ich gehen, wenn mein Auto vor der Tür steht?
46. Die Geburt eines neuen Tages
47. Die Einheit von Mensch und Technik
48. Mit dem Rad von Meran nach Rom mit zwei unvorhergesehenen „Events“
49. Pilgerwandern in heimatlichen Gefilden
50. Klarheit durch Gehen
51. Das Fextal im Engadin – ein Wanderparadies
52. Beständigkeit und Veränderung
53. Ein Vergleich
54. Vom Königssee zum Spitzingsee
55. Woher kommen unnötige Selbstbegrenzungen?
56. Eigenbewegung - Anstrengung – Wachstum
57. Der sich bewegende Leib muss immer wieder lernen
58. Ein Juwel im Mittelmeer - die Insel Porquerolles
59. Zu Fuß oder mit dem Rad?
60. Zeit und Geld sparen
61. Zu Fuß auf Spurensuche in Schleswig-Holstein
62. Spontane Begegnungen ermöglichen
63. Eine andere Art des üblichen Reisens - Hybrid aus Schiff, Zug, Bus und Gehen
64. Der Syntagmatos Platz in Nàfplion
65. Barfuß
66. Einheit von Mensch und Umwelt – Erlebnisintensivierung durch Eigenbewegung
67. Eine alte Tradition: Zu Fuß rund um Föhr
68. Eine kompetente Quelle
69. Von der Insel Hydra lernen
70. Zwei schöne Treppen
71. Muße für Beobachtungen
72. Spontaner Entschluss
73. Garten Eden oder Ort des Lärms
74. Stimmungswechsel
75. Natur entsteht in der Naturbegegnung
76. Mit dem Rad von Flensburg nach Kopenhagen
77. Zu Besuch bei Freunden im Odenwald
78. Spuren im Schnee
79. Nur eine Frage der Organisation
80. Widerstand gegen gebaute Befehle
81. Der Vorteil des kurzen Weges: Einkaufen ohne Auto
82. Modifizierte Skiferien in Südtirol - eine Synthese aus Winterwandern und Skifahren
83. Es gibt auch negative Vorbilder
84. Sonst hätten wir den Dachs nicht gesehen
85. Visuelle Präsens
86. Holzhacken - eine seltene Form der Eigenbewegung
87. Von Oberstdorf auf die Elmau
88. Sich bewegen reduziert Angst
89. Falscher Alarm: Die Praxis und Theorie des Gehens ist doch richtig!
90. Wir können das!
91. Der Stab wird weitergegeben
92. Paradigmawechsel?

Anhang


I. Drei Heimaten
II. Bürger einer Stadt bewegen sich
III. Der richtige Weg
IV. Für das Alltägliche, gegen Events
V. Mut zu Visionen
VI. Belebung der Innenstadt
VII. Versinkendes Erbe
VIII. Das allmähliche Verschwinden sozialer Kontakte
IX. Die Straßenverkehrsordnung ändern


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1. Im Mirabellenbaum - Du kannst mehr, als du denkst


Rote, saftige Mirabellen in unzähliger Zahl lachen mich an und fordern mich auf, sie zu pflücken. Das würde ich auch sofort und gerne tun, wenn die Bäume nicht am Rande eines kleinen Baches ständen und gerade die reichhaltigsten Zweige in großer Höhe just über diesem Bach sich befänden. Mehrmals am Tage schleiche ich um diesen Ort des Genusses, springe auch mal hoch, aber bestenfalls erwische ich eine Mirabelle von mittlerer Qualität, die in den unteren Lagen noch ziemlich grün sind. Dann bricht die instrumentelle Vernunft durch: Mit einer Leiter bewaffnet, begleitet von Eveline und Elias, einem fünfjährigen Jungen aus der Nachbarschaft, nähern wir uns dem Ort zukünftigen, nun in greifbare Nähe gerückten Glücks. Die Situation ist derart, dass ich die Leiter in den Bach stellen muss, was auch wegen des niedrigen Wasserstands möglich ist. Wohlweißlich habe ich bereits Gummistiefel angezogen. Die Leiter steht, aber ziemlich wackelig. Trotzdem gelingt es mir unter lautem Protest von Eveline, die mich offenbar schon querschnittsgelähmt im Krankenhaus liegen sieht, auf die Leiter zu steigen. Die Ausbeute ist bescheiden, weil die Leiter einfach zu kurz ist. Deshalb wechsele ich von der obersten Stufe der Leiter auf einen Ast des Baumes in ca. zwei Metern Höhe. Ein einfaches Unterfangen, müsste man denken, aber mitnichten. Verkrampft, schwer atmend, sehr langsam quäle ich mich in die Baumkrone und versuche an Höhe zu gewinnen. Ich versteige mich einige Male, auch krachen morsche Äste ab, und ich wäre, wenn nicht die ängstliche Zuschauerin da gewesen wäre, längst umgekehrt. Aber ich spiele den Tapferen. Auch habe ich lebhafte Unterstützung von Elias, der mehrmals laut ruft: „Mach weiter, du kannst mehr als du denkst“. Und er hatte Recht, der kleine Eimer wurde zwar nicht ruckzuck voll, aber er füllte sich langsam und beständig. Die daraus entstandene Marmelade ist die Marmelade aller Marmeladen, im Geschmack absolut konkurrenzlos. Nachtrag: In früher Morgenstunde ist mir plötzlich absolut klar geworden, dass der anfeuernde Ruf von Elias „Du kannst mehr, als Du denkst“ all das bündelt, was notwendig für mich, für Dich und für uns alle ist – und das gilt auch für das Gehen.

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2. Eine sehr kurze Hinführung


In diesem Buch soll das Besondere im Allgemeinen sichtbar werden. Deshalb kommen in ihm auch besondere, also konkrete Menschen vor. „Besondere“ aber nicht in dem Sinne, dass sie durch Moral oder Können herausragen, sondern weil sie schlicht in meinem Leben, also in dem des Autors vorkommen. Vier von ihnen, weil sie oft in den Geschichten erscheinen, stelle ich kurz vor und benenne sie namentlich. Am häufigsten kommt ein bestimmtes Ich vor, nämlich meines. An dieser Stelle biographische Einzelheiten zu thematisieren, hieße oft Verdoppeln, denn sie sind in den Geschichten verstreut vorhanden. Eveline, seine Frau, ist fast sein erstes Ich und Johanna und Matthies sind zur Zeit der Geschichten ihre vier- und sechsjährigen Enkelkinder.
Mit dem oben hingewiesenen Allgemeinen ist gemeint: Der sich körperlich und geistig bewegende Mensch einschließlich seiner Umwelt bildet eine untrennbare Einheit, ein „besonderes Ganzes“. Auf Beschreibungsebene ist man gezwungen, diese Einheit in Dimensionen, Aspekten, Perspektiven usw. zu zerlegen und ständig das nicht dargestellte und darstellbare Ganze im Blick zu haben. Die folgenden Geschichten sollen – so die Hoffnung – auch das Erkennen des Allgemeinen im Besonderen bewirken, so dass das Gehen im Alltag und im Urlaub wie selbstverständlich eingebunden wird.

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3. Kurzurlaub in Sonderburg


Irgendwie haben wir das Gefühl, dass uns die Decke auf den Kopf fällt. Die letzte Zeit war eben recht stressig. Nun sind die Bedingungen gerade günstig, um unser bewährtes Heilmittel „Sich über einen längeren Zeitraum bewegen “ einzusetzen. Diesmal haben wir zwei Tage Zeit dafür. Wohin? Wenn man an der dänischen Grenze wohnt, startet man nicht ohne Grund oft in Richtung Norden. In diesem Fall nach Sonderburg, das knapp fünfzig Kilometer von Flensburg entfernt liegt. Für uns bedeutet das einen Mix aus Radfahren und Wandern, wenn wir diese Strecke im Modus der Eigenbewegung bewältigen wollen. Morgens fahren wir mit dem Rad los. Nach zehn Minuten haben wir die Ostseite des Flensburger Hafens erreicht. Jedes Mal wieder ein Anblick, der für uns auch im Laufe der Jahre nichts von seiner intensiven Schönheit verliert. Wir umfahren den Hafen auf der Uferpromenade, die aber leider im Westen aufhört, so dass wir ein allerdings nur kurzes Stück am Rand einer Autostraße weiter fahren müssen. Danach geht es durch ein weitgehend aufgegebenes Industriegebiet, das irgendwie nostalgisch anmutet, zum Kollunder Wald, der schon auf der dänischen Seite liegt. Ob Ihr es glaubt oder nicht, bereits hier beginnt der oben beschriebene Stresszustand von seiner Allmacht ein Stück zu verlieren. Dafür sorgt schon der Anblick uralter Buchenbestände, die sich direkt bis an die Steilküste heran ausbreiten. In Kollund überqueren wir die Hauptstraße, den Sønderborgvey und fahren oberhalb vom modernen Kollund durch den alten Dorfkern. Eben vor Sønderhav steht eine traumhaft schöne Villa in einem großen Park. Das gesamte Ensemble liegt unnahbar im Sonnenschein und breitet lasziv und schamlos seine ganze Schönheit in absoluter Stille aus. Vor diesem Bild bleiben wir eine Weile eingefangen stehen und malen uns aus, welch illustre Menschen dort wohl wohnen mögen. Das müssen wir imaginieren, weil wir noch nie jemanden dort gesehen haben. In Sønderhav – gewissermaßen als Kontrastprogramm - liegt die weithin bekannte Imbissbude, die insbesondere von Bikern frequentiert wird, denn dort gibt es unbezweifelbar die besten Pölser zumindest von Mittel- und Nordeuropa - insbesondere als Currywust zubereitet. Aus zeit- und radtechnischen Gründen nehmen wir nicht den Gendarmenstieg, sondern fahren parallel dazu erst auf einer relativ wenig befahrenen Nebenstrecke, dann auf einer viel befahrenen Hauptstraße über Rinkenæs bis nach Gravenstein. Dort verlassen wir diese nicht so prickelnde Straße und gelangen über eher landwirtschaftlichen Wegen und teilweise auch Pfaden bis ins Zentrum von Broager mit der sehenswerten, strahlend weißen Kirche und ihren zwei gleichgroßen spitzen Türmen. Dort stellen wir unsere Räder ab. Jetzt wird es richtig schön! Denn von Vemmingsbund aus führt ein Fußweg direkt an der Steilküste entlang bis zum Hafen von Sonderburg. Die sich den Sinnen auf diesem Weg präsentierenden Schönheiten zu beschreiben, traue ich mich nicht, denn dieser Teil ver- und bezaubert uns ohne Unterlass. Rechts die Förde, links die weithin sichtbare Mühle bei den Düppeler Schanzen und die versunkenen Verteidigungsanlagen aus dem Deutsch-Dänischen Krieg von 1864, die im Laufe der Zeit, die Wunden mildernd, eher wie Hügel aussehen und die ausgedehnten Felder und Wiesen mit ihren Knicks. Früh abends kommen wir in Sønderborg an, laufen um den Hafen zu unserem Hotel, das gegenüber dem geschichtsträchtigen Schloss liegt. Abends machen wir noch einen kleinen Bummel durch die Altstadt, essen in einem der gemütlichen Restaurants am Hafen und sinken erschöpft relativ früh ins Bett. Am nächsten Tag geht es nicht sehr kreativ exakt den gleichen Weg zurück nach Flensburg. Und doch lässt der Rückweg eine andere Welt entstehen als der Hinweg. Ich muss wohl zum Schluss nicht erwähnen, dass der zwei Tage zuvor in mir wütende Stress nun mausetot ist.

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4. Aus meinem „bewegten“ Leben


Um Missverständnisse gleich auszuräumen, mein bisheriges Leben war mit Sicherheit nicht im metaphorischen Sinne „bewegt“. So bin ich nie außerhalb Mittel- und Südeuropas gewesen. Abenteuer, einschließlich erotischer, waren eher rar gesät, was aber absolut nicht heißt, dass ich mein bisheriges Leben als ereignisarm, als nicht intensiv einschätze. Wie auch immer, es war zumindest bewegt. Mit „bewegt“ meine ich Gehen, Laufen, Radfahren, kurz Eigenbewegung ohne Einsatz von Fremdenergie. Zwei Ereignisse mögen das verdeutlichen, eins zu Beginn meiner bewussten Freude am Laufen und eins aus meiner gegenwärtigen Laufpraxis.
Vor etwa sechzig Jahren, beim Erinnern und Niederschreiben ist mir, als ob es gerade jetzt stattfände, wummerte mein Herz laut und deutlich vernehmbar in meinem schnell sich senkenden und hebenden Brustkorb: Ich hatte es gerade noch bis zum dunklen Hausflur geschafft, als zwischen den Häuserwänden ein deutliches „Ich komme“ erschallte. Wir spielten damals in dem alten Stadtviertel meines Heimatortes in der dunkleren Jahreszeit fast jeden Tag Versteck. Eine größere Freude und Stolz, als vor dem „Sucher“ nach einem furiosen Endspurt am Mal anzuschlagen, gab es damals nicht.
Das andere Ereignis findet sechzig Jahre später statt: Mit dem Rad fahre ich zwei Kilometer in Richtung Innenstadt, stelle es an einer mit vertrauten Stelle ab und gehe die restlichen zwei Kilometer durch kleine Gassen zu meinem Buchhändler. Spektakulär von dem Vielen, was ich sehe, ist eine kleine schwarze Katze, die sich verschreckt hinter einem Stein versteckt, Kinder, die schwatzend gerade von der Schule kommen, ein älterer Mann, der sich freut, als ich ihm sage, dass ich seinen Garten so schön finde und eine ehemalige Studentin, die sich offensichtlich freut, mich zu sehen.
Das sind zwei zeitliche Pole: In den dazwischen liegenden Jahren bin ich immer dem Gehen und Fahrrad in verschiedenen Formen und Intensitäten treu geblieben. Übrigens habe ich auch versucht, eine sportliche Fußballkarriere in Richtung Bundesliga einzuschlagen, die aber nie über die dritte Schüler-, zweite Jugend- und dritte Altherrenmannschaft, also in höhere Sphären hinausgelangte. Insgesamt hat Sport in meinem Leben keinen großen Platz eingenommen.

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5. Gehen


Unter Gehen wird jede größere Ortsveränderung ohne Einsatz von Fremdenergie verstanden. In einigen Zusammenhängen wird das Gehen auch metaphorisch für Selbsttun gebraucht.
Ich definiere den Menschen als einen sich Bewegenden bzw. als Gehenden. Die Fähigkeit zur ausgreifenden Eigenbewegung ist das Fundament seines Daseins. Auch leiten sich alle seine körperlichen und psychischen Fähigkeiten aus dieser Grundfähigkeit ab: Das Cogito (ich denke) ist eine Teilmenge des Moveo (ich bewege mich). Phylogenetisch (Gattungsgeschichte) und ontogenetisch (Individualentwicklung) gesehen ist das Moveo das Ursprünglichere, dem aber sehr schnell das Cogito folgt, aber nicht als Ersetzung, sondern als Zusätzliches. Der körperlich und geistig still gestellte Mensch ist eine Deformation.
Gehen ist eine vorbegriffliche Aneignung von Welt: Man ist elementar und fundamental in ihr. Aus diesem In-der-Welt-Sein entwickelt sich das begriffliche Denken. Durch innere und äußere Eigenbewegungen, die immer eine Einheit bilden, entstehen erst Substanz, Eigenes, Persönlichkeit und Qualitäten.
Beim Gehen hat die Welt einen tragfähigen Grund, der nicht auf sinnvoller Weise bezweifelt werden kann: Man ist anwesend. Noch pointierter: Beim Gehen fallen Wahrheit und Wirklichkeit zusammen. Relativismus und Nihilismus haben in Bezug auf das Gehen und beim Gehen keine Chance.
Sich bewegen ist intentional, denn das Gehen hat immer einen "Inhalt", der auch ein Ziel mit einschließt. Die Ganzheitlichkeit des Sich-Bewegenden beschränkt sich also nicht nur auf Körper, Seele und Geist, auf Wollen und Können, sondern schließt grundsätzlich die jeweilige Umwelt als Bedingung und Reservoir von Zielen gleichwertig mit ein, wobei alle beteiligten Faktoren sich gegenseitig beeinflussen. Wird beispielsweise die Umweltdimension ausgeblendet, entsteht von der Eigenbewegung ein falsches Bild. Diese „Falschheit“ wird auch von der Sprache unterstützt. Das beginnt bereits mit der begrifflichen Trennung von Körper und Bewegung, denn es gibt weder einen bewegungslosen Leib noch eine körperlose Bewegung, keinen umweltlosen Körper noch eine körperlose Umwelt, keine Substanz ohne Funktion und keine Funktion ohne Substanz. Die Sprache verfügt über keinen, beide Dimensionen umfassenden Oberbegriff. Selbst die Umschreibung wie „körperlose Umwelt“ verfestigt sprachlich-formal den Dualismus. Ich denke, alle vorhandenen Körpertheorien leiden beträchtlich an dieser Trennung, zumal wenn sie dieses Problem ausblenden oder es gar nicht bemerken. Eine sprachlich verfremdete Strategie wäre vielleicht hilfreich: So, wenn ich ein rotes Blatt vor mir habe, könnte ich logisch gesehen ebenfalls von einem „blattigen Rot“ sprechen, in Analogie dazu könnte man statt von „Körperbewegung“ (der Mensch bewegt sich) von „Bewegungskörper“ (die Bewegung „menscht“ sich) sprechen, um mit Hilfe dieser ungewohnten Sprechweise auf die Einseitigkeit aufmerksam zu machen und damit auf die Gleichwertigkeit hinzuweisen. Das ist natürlich praktisch unsinnig, aber die Beispiele mögen vielleicht dazu veranlassen, diese letztlich unbegründete Einseitigkeit ständig korrigierend mit zu bedenken. Passiert das nicht, ist bereits die Überschrift dieses Kapitals „Gehen“ in seiner Einseitigkeit ein performativer Widerspruch. In absehbarer Zeit, wenn überhaupt, können wir das Problem sicherlich nicht lösen, sollten es aber in unserem Bewusstsein ständig präsent haben und in Richtung einer einheitlichen handlungsorientierten Praxis und Theorie überwinden.

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6. Eine Nachtwanderung auf der Insel Föhr


Wir haben zwischen 1969 und 1989 auf Föhr gelebt und zwar nicht im Hauptort Wyk, sondern vierzehn Kilometer davon entfernt in Oldsum, einem kleinen Dorf im Westen der Insel. Wir sind inzwischen oft auf der Insel gewesen. Dabei wurden wir entweder vom Hafen mit dem Auto abgeholt oder sind mit dem Bus nach Oldsum gefahren. Nach dem Weihnachtsfest 2008 haben wir einen neuen Weg beschritten. Obwohl wir erst spät nachmittags gegen siebzehn Uhr in Wyk ankommen, laufen wir mit dem Rucksack auf dem Rücken von dort bei fahlem Licht und Nebelschwaden durch die Dörfer und offenen Landschaften an der Lembecksburg, einer alten Fluchtburg vor den Wikingern, vorbei nach Oldsum. Wir kennen von früher her buchstäblich jeden Weg, auch bei Dunkelheit. Aber trotzdem ist uns an bestimmten Stellen unheimlich. Diese Nachtwanderung ist einerseits eine Wiederaneignung, andererseits auch etwas Neues bis hin zu Mythischem und wie gesagt Unheimlichem: Aus kompakten Baumgruppen werden Berge, aus einsam gelegenen Bauernhöfen Burgen, aus Gräben silberhelle Flüsse. Kurz: Wir lernen ein ganz anderes Föhr kennen. Unsere liebe Gastgeberin hat wohl schon mit unserer Verspätung gerechnet, denn, obwohl es inzwischen schon eine Stunde vor Mitternacht ist, hat sie im gemütlichen Pesel, der gekachelten Friesenstube, ein kleines Nachtmahl einschließlich obligatorischem Teepunsch angerichtet.

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7. Momentaufnahme


Ein zehnjähriger Junge quält sich, indem er versucht, mit dem Rad ohne abzusteigen den Berg hinaufzufahren, und er schafft es schließlich. Das war bestimmt nicht umsonst.

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8. Im Gehen erschließt sich erst das Potential des Weges


Handlungen finden jeweils in einem bestimmten Raum und zu einer bestimmten Zeit statt. Mit Hilfe von Raum-Zeit-Koordinaten sind diese Handlungen objektiv beschreibbar. Andererseits werden in einer Handlung ein Teil der Welt und ein Subjekt aufeinander bezogen. Produkte dieser Interaktion sind Hybride, die vom Subjekt eine Perspektive und damit einen dynamischen Mittelpunkt unaufhebbar empfangen. Dabei entsteht keine objektive Welt, sondern eine subjektive Lebenswelt. In der Lebenswelt sind für den Handelnden auf Grund der Perspektivität einige Dinge näher, andere ferner. Die objektive Welt entsteht erst in einem zweiten reflexiven Prozess, der gemeinhin als wissenschaftlich bezeichnet wird.
Für das Gehen, das ja eine Handlung ist, ist der Weg das „Ding“, das dem Gehenden am nächsten ist. Der Weg bestimmt entscheidend die Art und Weise des Gehens, denn jeder Schritt ist grundsätzlich eine Anpassung an den vorhandenen Weg. Ob ich einen Berg auf schmalem Pfad besteige oder auf dem fast zugewachsenen Waldweg mich durchbahne, immer bilden Weg und ich eine Einheit. In diesen Situationen muss ich mich sehr bewusst und konzentriert voranbewegen: Wie muss ich hier den Fuß setzen? Wie lange hält der Untergrund mein Gewicht aus? Oh, da liegt eine Schnecke, ich muss den Fuß anderswohin setzen. Vorsicht, da ist eine Wasserpfütze!
Je homogener und fester der Untergrund des Weges ist, desto unwirklicher (im Sinne von Wirkung) wird er. Ein Asphaltweg wird nicht mehr wahrgenommen, aber natürlich wirkt er unbewusst: Er ermüdet Körper und Geist. Ersetze ich meine eigene Bewegung durch ein Fahrzeug, verschwindet der Weg vollkommen aus meinem Bewusstsein und wird höchstens noch in seiner Länge bedacht: Noch achtzig Kilometer bis nach Hause.
Homogenisierende Wirkungen haben auch meine Schuhe, die meine Füße vom Untergrund trennen. Das wird einem erst recht bewusst, wenn man barfuß läuft. Beim Barfußlaufen erschließt sich eine zusätzliche Welt, in die man zumindest ab und zu eintauchen sollte. Am Strand oder auf Graswiesen jedenfalls sollte man sich nicht die Chance entgehen lassen, barfuß zu laufen.
Der Weg besteht aber nicht nur aus dem Untergrund, er zeigt auf beiden Seiten immer auch eine Umwelt. Nah, aber nicht direkt spürbar wie der Untergrund, sind eventuell vorhandene Wegbegrenzungen: ein Zaun oder ein angrenzendes Feld, eine steile Feldwand, ein begleitender Flusslauf, eine Häuserzeile. Aber all das gehört nicht mehr zum Weg, obwohl es sichtbar, riechbar und hörbar sein kann. Leibniz´ Satz „Natura non fecit saltus“ (die Natur macht keine Sprünge) gilt auch hier und macht die jeweilige Grenze zu einer individuellen bzw. kollektiven subjektiven Setzung. Das zu akzeptieren, ist für das Gehen fruchtbar, um sich für alle Einflüsse bis hin zu metaphysischen zu öffnen. Der Satz „Der Weg ist das Ziel“ hat bis heute seine Gültigkeit nicht verloren. Wer den Weg nur noch als etwas, was man so schnell wie möglich überwinden will, betrachtet, verpasst viel. Es gilt deswegen die Maxime: Sucht gute Wege auf, auch wenn sie länger sind.
In „sich bewegen“ ist „Weg“ enthalten. Auf Wegen geht man und fährt nicht, auch wenn es möglich ist. Gehen ist die Fortbewegungsart, die die größte Nähe zum Weg herstellt. Und man ist beglückt, wenn man anderen begegnet und nicht nur an ihnen vorbeiläuft oder gar vorbeifährt, sondern Augenblicke mit ihnen austauscht, sich anlächelt, sich grüßt bis hin zum kurzen Gespräch und sei es nur die Frage nach dem Weg.

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9. Eine Bewegungsanalyse


Sieht man genauer hin, stellt man fest, dass das Fahren mit dem Zug mehr Eigenbewegung erfordert, als man gemeinhin vermutet: Vom Bahnhofsvorplatz in den Bahnhof laufen und Fahrkarten am Schalter oder Automaten besorgen. Dann sich auf den entsprechenden Bahnsteig begeben, am wartenden Zug entlanglaufen, bis man einen passenden Waggon gefunden hat und in diesen einsteigen. Im Zug einen Kaffee holen und einer älteren Dame beim Gepäck verstauen helfen. Nach dem Ausstieg durch den Zielbahnhof laufen, Menschen aus dem Weg gehen, eine Zeitung kaufen usw. In einem Bahnhof gibt es viel Bewegung, und ich bin ein Teil davon. Das ist schön.

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10. Askese und Genuss: Von Starnberg auf die Elmau


In der Nähe von Mittenwald gibt es ein sehr, sehr schönes Hotel namens Schloß Elmau, das einzigartig auf 1000m Höhe am Ende eines nahezu unbebauten Seitentals liegt. Natur und Kultur bilden hier – so scheint es uns und vielen anderen – keinen Gegensatz, sondern verstärken sich gegenseitig in ihren Wirkungen, es ist eine Einheit schlechthin. Von dort kann man kürzere und längere Touren zu Fuß unternehmen, wobei jedes Mal ein attraktives Ziel winkt: Die Partnachklamm, die urige Gastwirtschaft in Hintergraseck, der Lautersee und nicht ganz so weit entfernt der Ferchensee. Ein wortwörtlicher Höhepunkt ist die schon anspruchsvollere Wanderung auf den Schachen mit dem Jagdschloss Ludwigs des Zweiten auf zweitausend Meter Höhe und mit dem atemberaubenden Blick ins Reintal. Das noch höhere Ziel, die Meiler Hütte, bereits im Österreichischen, habe ich trotz mehrerer Anläufe bis jetzt nicht erreicht, weil, so hat man mir erzählt, der Weg an einem schroffen Steilabhang vorbeiführt – und je näher ich bisher an diese Stelle kam, desto größer wurde meine Angst, so dass ich schließlich jedes Mal umgekehrt bin. Aber so habe ich noch einen (natürlich von vielen) unerfüllten Traum.
Schloß Elmau, mitten im Ersten Weltkrieg 1916 erbaut, ist ästhetisch in sich selbst und durch seine Lage derart, dass ich immer sage, wenn ich der liebe Gott wäre, würde ich nichts, aber auch gar nichts daran ändern. Das gilt auch für das „Innere“, seien es die öffentlichen und privaten Räume, die exzellente Küche oder das kulturelle Angebot. Und trotzdem, nur dort sich über einen längeren Zeitraum aufzuhalten, auch wenn es uns finanziell möglich wäre, ist nicht unsere Sache. Die Idealsituation besteht für uns im Kontrast. In diesem Fall in Genuss und Askese, zumindest in relativer Askese ohne die gesamte Palette des Angebots. Dafür taucht neuerdings im Sprachschatz das Wort „Simplifizierung“ auf, womit „kein Fünf-Sterne-Glamour, keine tibetanischen Klangschalen im Fernost-Spa und keine Medaillons vom Hummer auf Basilikumgelee mit weißem Tomatenschaum“ gemeint ist, sondern allein Naturerlebnisse und einfaches Wohnen und Essen in zumeist alten Bauernhäusern. Auch um dieses Kontrastes willen sind wir bereits dreimal nicht direkt auf die Elmau gefahren, sondern innerhalb mehrerer Tage dorthin gewandert. Hinzu kommt, dass für uns das ideale Wandern möglichst eine lineare Struktur hat. Man wandert von Ort zu Ort, kehrt also abends nicht zu seinem Ausgangspunkt zurück. Starnberg am Starnbergersee war einer der Ausgangspunkte: Mit dem Nachtzug von Hamburg aus sind wir morgens in München angekommen. Ursprünglich wollten wir direkt vom Münchener Hauptbahnhof losgehen, haben uns dann aber das Durchlaufen städtischer Strukturen erspart, was eigentlich von der Idee her falsch ist. Sicherlich gibt es, wenn man sich gut vorbereitet, auch angenehme Wege in Form von ruhigen Straßen, Parks und Stadtwäldern nach Starnberg. Wir fahren also mit der S-Bahn zum Starnberger See und starten mit minimalem Gepäck. Einen Koffer haben wir auf die Elmau voraus gesendet, um uns dort auch mal „schick“ zeigen zu können, wobei das meiste davon sich als überflüssig erwies. Die S-Bahnstation liegt direkt am See. Am Ostufer führt der Weg an Schloss Berg und der Gedenkstätte Ludwigs des Zweiten vorbei, der hier 1886 seinen Tod fand. Als angenehm empfinde ich, dass der See zum größten Teil frei von Motorbooten ist. Man sieht nur Segelboote und Surfer sowie einige große Ausflugsschiffe. Der See liegt ruhig in der Mittagsonne, wobei diese sich glitzernd in kleinen Wellen spiegelt. Der Weg direkt am See entlang ist autofrei. Von den imposanten Villen habe ich acht, allerdings nur virtuell, mir sofort erworben. Einen Höhepunkt bilden die Osterseen nahe Iffeldorf. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Landschaft nur aus traditionellen Gebäuden, Natur und Menschen besteht. Es ist schon erstaunlich, wie es der bayrischen Verwaltung gelingt, zumindest in bestimmten Bereichen dem Druck des Autos zu widerstehen. In Murnau machen wir einen Tag Zwischenrast, nicht nur wegen der Expressionisten Wassily Kandinsky und Gabriele Münter, sondern auch wegen einer im guten Sinne altmodischen Badeanstalt am Staffelsee. Wegen des heißen Wetters ist diese sehr gut besucht. Es gibt viel zu sehen, so auch einen hübschen Jungen und ein noch hübscheres junges Mädchen, die sich zusammen eine Decke teilen, aber nur körperlich, denn sie telefonieren ununterbrochen mit ihrem Handy - dabei aneinander vorbeiblickend. War das Scheu? In Oberau übernachten wir in einem sehr alten Bauernhaus, von einer Bäuerin in Tracht und fast bayrisch sprechend bewirtschaftet. Allerdings kann man beim genaueren Zuhören unzweifelhaft das sprachliche Fundament, das Berlinerische, deutlich heraushören. Welches Schicksal mag wohl dahinter stehen? Von Garmisch-Partenkirchen fahren wir dann mit der bekannten Bergbahn hoch zum Eckbauern und kommen nach zweistündigem Fußmarsch bei Sonnenschein auf der imposanten Terrasse von Schloß Elmau an, wo uns gleich Bekannte von früheren Aufenthalten begrüßen. Das war in jeder Beziehung perfekt. Die Zeit des reinen Genusses konnte problemlos beginnen.

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11. Vita activa


Das Fundament menschlichen Daseins ist aktives Leben. Der Mensch ist ein sich Bewegender. Diese Bewegung nenne ich Eigenbewegung im Gegensatz zur Fremdbewegung. Bei der Fremdbewegung wird der Mensch ohne eigene Anstrengungen transportiert. Transportmittel sind Sänften, Pferde, Kutschen, Züge, Autos, Flugzeuge usw., aber auch Rolltreppen.
Die Eigenbewegung ist eine Handlung, in der sich bewegender Körper und Geist in Form von Zielen, Können, Kennen bis Wissen und Wollen gegenseitig durchdringen und eine untrennbare Einheit bilden: Jede körperliche Tätigkeit ist auch eine geistige Bewegung und jede geistige Tätigkeit auch eine körperliche Bewegung, die sich wechselseitig ständig „speisen“ und stärken. Alle körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen sind in dieser Einheit begründet. Es ist also ein Irrtum zu meinen, auf körperliche Bewegungen verzichten zu können, sobald die psychischen Funktionen ein bestimmtes Niveau erreicht haben.
Durch innere und äußere Eigenbewegungen entstehen erst Substanz, Eigenes und Persönlichkeit. Im Zusammenhang mit dem Gehen sind hier entscheidend noch einmal die Qualia hervorzuheben, unter denen man die subjektiven Erlebnisgehalte eines mentalen Zustandes versteht, Bewusstseinsinhalte, die nur demjenigen zugänglich sind, der sie „hat“. Fehlen sie oder werden sie verdrängt, entstehen letztlich subjektlose Wesen, die sich maschinenartig verhalten.
Der große Wert des Gehens wird einem dann bewusst, wenn Eigenbewegung durch Krankheit oder äußere Bedingungen eingeschränkt wird. Im Gehen geht man zu den Dingen, und diese drängen sich gleichzeitig dem Gehenden auf. Das sind aktive Prozesse. Im Sitzen vor dem Fernsehapparat konsumiert man dagegen die Dinge nur noch als Bilder, also in ihrer entmaterialisierten Form des Scheins. Im Auto verpanzert man sich vor den Dingen. Habituelles Autofahren ist daher Reduktion der körperlichen Potenz, habituelles Fernsehen Reduktion der geistigen Potenz. Hier ist der Mensch minimal aktiv und maximal passiv. Natürlich gibt es Situationen, in denen Auto und Bild unverzichtbar sind. Hier handelt sich nicht um absolute Entgegensetzungen, sondern um graduelle Unterschiede.
Gehen im Sinne von vita activa äußert sich in so unterschiedlichen Feldern wie Wandern, selbst gestalteten Theateraufführungen, Musik machen, traditionelles Brauchtum unterstützen und reaktivieren, regionale und gesunde Küche stärken, Vereinsarbeiten mit realen Interaktionen fördern, selbst ins Kino gehen bis hin zum Kneipenbesuch, um mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Diese Bewegung des Selbsttuns wendet sich generell gegen ein abstraktes Leben, gegen unnötigen Technikeinsatz, gegen ein isoliertes Leben, gegen die sitzende Gesellschaft. Kurz: Der still gestellte Mensch wird von mir als eine Deformation begriffen. Denn durch Selbsttun wird der Mensch zum Menschen.
In der arbeitsteiligen Gesellschaft, in der wir leben, kann ich natürlich nicht alles selbst tun. Wenn ich alles von anderen Menschen und Maschinen ausführen lasse, mache ich praktisch nichts, was ein großer bis existenzieller Verlust für mich und andere wäre. Vita activa, und das ist eine wichtige Einschränkung, ist kein absoluter Wert. Die Aktivitäten müssen immer an Sinn und Moral gebunden sein. Das gilt insbesondere für die materielle Produktion. Hier wäre heute weniger mehr. Bildung, qualifizierter Genuss, soziales und ökologisches Engagement müssen die Hauptfelder der vita activa mit dem Akzent auf prattein (gestalten) statt auf poiesis (ein Produkt herstellen) sein.

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12. Neue Wege finden: Von Altona-Landungsbrücken nach Blankenese


Wir sind häufig bei unseren Kindern, die süd-westlich von Hamburg im Alten Land wohnen. Bis jetzt haben wir zwei Routen, die dort hinführen, in Anspruch genommen: Mit der S-Bahn nach Buxtehude oder mit der Fähre von Altona nach Finkenwerder, wo wir dann am Anleger abgeholt werden. Jetzt haben wir eine dritte Variante entdeckt, die zu Fuß am nördlichen Elbufer von der Hamburger Innenstadt nach Blankenese führt. Von dort gelangen wir dann mit einer Fähre über die Elbe nach Cranz, wo wir wiederum abgeholt werden. Kleinere Schiffsfahrten bedeuten für mich immer einen großen Genuss. Der Weg, der nach Blankenese führt, ist unglaublich vielseitig: Die bekannte Speicherstadt, futuristische Bürohäuser wechseln mit Bausubstanz aus der Gründerzeit und etwas später, die wir teilweise Hausbesetzern zu verdanken haben, ab. Dann der abrupte Übergang zu Häusern aus dem Biedermeier in Ottensen bis hin zu parkähnlich gestalteten Uferpartien vor Blankenese. Dort gönnen wir uns eine Kaffeepause. Wir müssen eine Ufertreppe hochsteigen, um zu einem Gartenlokal zu gelangen, das mir, obwohl ich noch nie da war, irgendwie bekannt vorkommt. Plötzlich die Erleuchtung: Das Gartenlokal ist die von Max Liebermann 1902 gemalte Terrasse des Restaurants und Hotels Jacob – und sie hat sich seitdem offenbar nicht wesentlich verändert. Ein Geschenk, mit dem wir gar nicht gerechnet hatten. Auf der Elbe selbst, insbesondere im Hafen, herrscht reger Schiffsverkehr. Seitenarme der Elbe, Schiffskräne, die Werft Blohm und Voß, viele Anlegerbrücken, fest vertäute Museumsschiffe, schwimmende Restaurants und Cafés bieten dem Auge zumindest genau so viel wie der Blick aufs Landesinnere. Der gesamte Weg ist nahezu autofrei. Im eigentlichen Hafengebiet begegnet man Menschen aus aller Herren Länder. Es dominieren süddeutsche Zungen. Auch wenn die dritte Route netto berechnet zwei bis drei Stunden länger dauert, werden wir sie ihrer vielfältigen Qualitäten wegen sicherlich noch mehrmals laufen, was nicht ausschließt, Ausschau nach einer vierten oder gar fünften Route zu halten.

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13. Ein Lob den Hindernissen – aber in Grenzen


Es regnet seit sechs Stunden. Ich fahre mit dem Rad zu einem zwei Kilometer entfernten Geschäft. Sturm und Regen nässen, nein, erfrischen mein Gesicht. Beim Treten der Pedalen muss ich mich anstrengen. Zurück wird das Fahren noch schwieriger, weil ich vier lange Baguettebrote unter meinem Regenumhang schützen muss, zudem habe ich am Lenker eine Einkaufstasche hängen. Aber ich schaffe das alles irgendwie und - ich war während des ganzen bisherigen Tages nicht so gut drauf wie nach dieser Tour. Was daraus lernen?
Ein bequemes Leben ohne Anstrengungen ist genau so verfehlt wie ein Leben, das ausschließlich aus Anstrengungen besteht. Aber warum hatte und hat immer noch die erste Variante bei so vielen Menschen Priorität? Zumindest liegt ein Grund in Siegmund Freuds plausibler Überlegung, dass Kultur auf Triebunterdrückung beruhe - und Gehen gehört für mich auch mit zur Kultur. Neben dieser anthropologischen gibt es aber auch eine kulturhistorische Dimension: Im Mittelalter vertrat Wilhelm von Ockham (1285-1347) die Auffassung, dass Gott mit der Natur hausväterlich verführe, indem er jedem Naturprozess verordnet habe, auf dem kürzesten Weg und mit dem geringsten Aufwand abzulaufen, was später unter dem Namen „Occam´s razor“ bekannt wurde. Diese zwei Prinzipien bildeten auch die Grundlage für rationales Wirtschaften bis hin zum individuellen Verhalten. Mit Hilfe von modernen Technologien ist es möglich, mit nahezu Null-Aufwand große Effekte zu erreichen. So in einem Tag im Flugzeug sitzend von Hamburg nach Sao Paulo zu gelangen.
Die Parole lautete und lautet unverändert: Hindernisse sind zu beseitigen und nicht zu überwinden. Damit wird ein großer Unterschied bezeichnet: Beseitigte Hindernisse haben keine Wirkung mehr. Wenn aber Hindernisse mit geistiger und körperlicher Eigenenergie überwunden werden, haben sie Stärkung und Wachstum zur Folge. Sicherlich gehören auch Wohlgefühl und Zufriedenheit, um nicht zu sagen Stolz nach einer geglückten Überwindung von Widerständen dazu.
Wohlgemerkt, es geht mir nicht um die prinzipielle Erhaltung von Widerständen, davor steht schon allein meine Lehrzeit als Handwerker, in der ich teilweise schwere und schwerste Arbeit, die jetzt Gottseigedank von Maschinen übernommen wird, durchführen musste. Nein, ich wende mich „nur“ gegen das Extrem: die absolute Nichtbelastung und Bequemlichkeit. Konkret: Ortsveränderungen von geringerer Distanz zu Fuß oder mit dem Rad bewältigt, sollten als Gewinn genommen und nicht von vornherein ausgeschlossen werden.

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14. Kurs halten!


Endlich ist das wie in jedem Jahr sich neu einstellende Problem gelöst: Eveline hat sich für diesen und nur diesen Weihnachtsbaum entschieden: Er hat eine stattliche Höhe von zwei Metern, ist sehr symmetrisch, kurz: Er ist ästhetisch gesehen nicht zu toppen. Nach dem Kauf ist der Rest nur noch Organisation, die ich übernehmen muss. Ich hole mein Rad, stelle es vor den erwählten, nun eingenetzten Baum, lege ihn über das Steuer und will losfahren. Offensichtlich hat mich ein älteres Ehepaar bei meinem Vorhaben beobachtet und verlangt mit großer Bestimmtheit, ich solle unbedingt davon absehen, den Baum mit dem Fahrrad zu transportieren, weil das für mich und andere viel zu gefährlich sei. Schieben vielleicht, aber fahren sei unmöglich. Zudem mischt sich auch noch der Baumverkäufer, auf die Diskussion aufmerksam geworden, ein und unterstützt vorbehaltlos die Argumente der Gegenseite. Andere potentielle Baumkäufer haben inzwischen ebenfalls diesen Konflikt zur Kenntnis genommen, und ich sehe es ihren Gesichtern an, dass sie nicht auf meiner Seite sind. Gegen diese massive Phalanx helfen auch nicht die besten Argumente. Ich unterdrücke also meine ganze Theorie der Eigenbewegung, die sich schon auf den Weg zu meiner Zunge gemacht hat, spiele den Einsichtigen und schiebe mein Rad mit aufgeladenem Bau reumütig bis zur nächsten Kurve, die vom Ort der Auseinandersetzung nicht mehr einsehbar ist. Dort schaue ich noch einmal zurück, ob die Luft nun auch wirklich rein ist und steige etwas umständlich auf das Rad, den Baum vor mir liegend. Erst etwas wacklig, wird mein Fahrstil aber zunehmend trotz widriger Bedingungen akzeptabel, ich vermeine sogar Ansätze von Eleganz zu erkennen. Ohne mir noch anderen irgendeinen Schaden zugefügt zu haben, erreichen der Baum und ich wohlbehalten unser Haus. Schade ist nur, dass Eveline nicht zufällig vor dem Haus steht oder zumindest herausguckt, um Zeugin meines Triumphs zu werden.
Als ich ihr dann von den Ermahnungen erzähle und meine Handlung damit begründe, dass man seine Intelligenz steigert, wenn man eine schwierige Situation meistert - ich also auch die meinige, antwortet sie kurz: „Davon habe ich noch nichts bemerkt.“ Wie auch immer, ich lasse mich nicht von meinen persönlichkeitsstärkenden Einsichten und Handlungen abbringen.

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15. Ich nehme eine fatale Abkürzung


Wir sind bei Bekannten zum Essen eingeladen. Es soll Wild geben, und damit stecke ich in einem Dilemma. Denn einerseits mag ich kein Wild, andererseits will ich meine zukünftigen Gastgeber nicht verletzen bzw. bin zu feige, sie über meine Aversion zu informieren. In einem Dilemma gibt es bekanntlich keine Lösung ohne „Opfer“, das in diesem Fall ich sein werde, aber nicht als „Wildesser“, sondern als Opfer eines Schlamassels, in das mich – so glaube ich inzwischen – mein Unterbewusstsein zielstrebig geführt hat. Wie das? Bei regnerischem Wetter laufen wir zu Fuß quer durch die Stadt. Unser Schleichweg besteht am Ende aus einer Art Serpentinenweg. Ich übersehe mit einem Blick, dass diese Struktur die Wegstrecke beträchtlich verlängert. Da wir sowieso schon spät dran sind, und ich über eine ausgeprägte Geh-Intelligenz verfüge - zumindest vermeine ich es - entdecke ich sofort eine Abkürzung, die nicht serpentinenförmig, sondern auf geradem Wege direkt den Abhang überwindet. Es ist gewissermaßen ein privater, von Nonkonformisten ausgetretener Weg. Da es bereits dunkel ist, sehe ich nicht, wie matschig und ausgetreten er ist, sondern fühle es erst beim Begehen: Anfangs rutsche ich nur wenig, dann immer schneller, bis ich schließlich ins Straucheln komme und in meiner Verzweifelung nach vor und neben mir stehenden dornigen Sträuchern greife. Aber es hilft alles nichts, ich falle nach hinten zurück. Sehr steif, sehr unelegant stehe ich wieder auf und bemerke, dass meine Hände ziemlich stark bluten und dass auch das Gesicht etwas abbekommen hat. Da Eveline mich vorher bereits gewarnt hat, den matschigen Weg nicht zu nehmen, spiele ich den Coolen und behaupte, dass nichts Ernsthaftes passiert sei. Wir marschieren die letzten hundert Meter relativ problemlos, jedenfalls für Außenstehende, weiter und erreichen unser Ziel. Die Haustür öffnet sich, wir werden ins Zimmer geführt, ich sehe noch die schön gedeckte Tafel – und sacke dann in Ohnmacht. Man ruft einen Notarztwagen. Später erfahre ich, dass ich mir einen Trümmerbruch in der rechten Hand zugezogen habe. Das war zwar sehr ärgerlich, aber – und das war der Vorteil - ich musste kein Wild essen.

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16. Entgegensetzen und unterscheiden


Es wäre falsch, Eigenbewegung und Fremdbewegung als absolute Gegensätze aufzufassen. Dagegen spricht schon, dass in beiden Begriffen „Bewegung“ enthalten ist, sie also neben Unterschieden Gemeinsames haben wie Ortswechsel, neue Räume erschließen, ein Ziel erreichen, „dabei sein“. Wenn ein weit entferntes Ziel erreicht werden soll, ist Fremdbewegung unverzichtbar. Nicht immer ist ein Entweder-Oder angesagt.
Eine „Entgegensetzung“ ist eine Beziehung, in der die beiden Pole nichts Gemeinsames, keine gemeinsame Schnittmenge haben. Ein „Unterschied“ ist dagegen eine Beziehung, in der die Pole Anteile vom jeweils anderen Pol haben. Beide Pole der Unterscheidung sind also immer ein Gemisch von graduellen Unterschieden. So ist das Begriffspaar „Natur und Kultur“ keine Entgegensetzung, sondern eine Unterscheidung: In Natur ist immer Kultur und in Kultur immer Natur enthalten. Denn jedes natürliche Ding ist kulturell überformt: Es gibt heute keine von Menschen unberührten Ökosysteme mehr und selbst der Begriff „Natur“ gehört eindeutig zur Kultur. Umgekehrt ist jeder kulturelle Gegenstand letztlich aus Natur hervorgegangen. Auch der Kultur schaffende Mensch hat nicht nur kulturelle, sondern auch natürliche Anteile in sich.
Und das gilt für jeden Dualismus wie Subjekt und Objekt, Eigenbewegung und Fremdbewegung, Kritik und Kritisiertes. Heinrich Heine hat sich nie als das Gegenteil von der Masse betrachtet. Er ließ immer durchblicken, dass das von ihm Kritisierte auch in ihm selbst vorhanden war. Oder Thomas Manns Diktum, dass er nach rechts ginge, wenn das Schiff nach links absacke und umgekehrt. Selbstironie, über die beide Autoren reichlich verfügten, untergräbt ebenfalls die Gefahren einer Verabsolutierung.
Entgegensetzungen erweisen sich bei genauer Analyse als Unterschiede. Entgegensetzungen gibt es nur auf der Ebene der Sprache, nicht in der Realität. Setzt man Sprache mit Realität gleich, ist man also schnell im Irrtum. Es gibt real nur Richtungen, Schwerpunkte, Akzentuierungen und damit Hierarchien. Diese Auffassung ist nicht neu, sondern wird beispielsweise in der Dialektik, im Dekonstruktivismus oder in der Hybrid-Theorie ausdrücklich thematisiert. Dass es trotzdem immer wieder zu Rückfällen in die Entgegensetzung kommt, liegt einerseits in der linearen Struktur der Sprache, andererseits im Wesen des Begriffs begründet, der eingrenzt und ausgrenzt, gleichzeitig etwas sagt und nicht sagt. Das Ausgegrenzte gibt aber keine Ruhe, überwindet die willkürliche Grenze. Ich denke, solange wir sprechen, befinden wir uns in dieser Gefahr und können sie nur relativieren, indem wir sie ständig im Hinterkopf haben und falls nötig, auch artikulieren.

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17. Immer Vorsicht walten lassen


In diesem Buch wird sehr viel vom Wert der Eigenbewegung geredet. Vorsicht ist jedoch geboten: Eigenbewegung ist zwar unverzichtbar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Humanität. Bewegung lässt sich schnell für inhumane Ziele instrumentalisieren. Aber die Möglichkeit eines Missbrauchs entbindet uns in unserer
(eigen-)bewegungslosen Zeit nicht von der Aufgabe, sich für Eigenbewegung massiv einzusetzen.

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18. Morgens in Gang kommen

Ich weiß es schlicht nicht, ob das ein relativ neues Gefühl ist oder ob es schon immer so war, ich es aber vergessen habe: Ich wache morgens auf und fühle mich irgendwie schwer, habe wenig Selbstvertrauen, bin nicht wach im eigentlichen Sinn, in einem technischem Bild: wie ein Radio ohne Strom bzw. ohne Sendungen.
Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr muss ich wegen einer Berufsverletzung jeden Morgen eine fünf- bis zehnminütige Gymnastik durchführen, die ich im Laufe der Jahre ohne Notwendigkeit beibehalten habe, wenn auch modifiziert. Die Übungen sind aus gymnastiktheoretischer Perspektive sicherlich nichts Anspruchsvolles, aber ich weiß inzwischen genau, dass ich danach die oben beschriebenen Gefühle los bin – und ich wieder der „alte“ bin, also – in Grenzen – zupackend, zuversichtlich, frei von Selbstzweifeln. Körper und Geist gleichermaßen behände.
Zwischen Geist und Körper finden zwei gegensätzliche Bewegungen statt: Zuerst erkennt der Geist das schlechte Gefühl und gibt an den zunächst widerwilligen Körper den „Befehl“ zu turnen. Der Körper gehorcht, oft auch durch den Trick des Geistes „Heute brauchst Du, Körper, nur die Hälfte des Programms zu absolvieren“. Ist diese Hälfte erreicht, wird gewissermaßen der Körper das führende Subjekt und sagt; „Nun machen wir bis zum Schluss weiter“ und wirkt so auf den Geist in Richtung Lebendigkeit positiv ein.

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19. Auf dem Tanztee gelandet


Grauer Sonntagnachmittag im Herbst: Wir haben endlich die Kraft, unseren Sonntagsspaziergang in eine Richtung zu lenken, die wir zumindest zu Fuß noch nicht gegangen sind. Wir kommen an einem Gasthof vorbei und meinen, obwohl wir erst einige Kilometer gelaufen sind, dort eine Tasse Kaffee verdient zu haben. Wir treten also ein, werden resolut von einer Dame, offensichtlich der Gastwirtin selbst, in den Saal geleitet, der gleichzeitig als Schankstube dient. Wir vermuten, dass wir die einzigen Gäste sind, aber mitnichten: Dort sitzen ca. fünfzig ältere Herrschaften, sehr ruhig und vielleicht auch etwas steif, aber doch innerlich lebhaft an langen Tischen wie Perlen aufgereiht. Wir kommen uns sehr deplaziert vor, denken an eine geschlossene Gesellschaft, wollen umkehren, aber die Gastwirtin, wiederum sehr bestimmend, lotst uns an einen freien Tisch. Wir bestellen etwas verschüchtert zu unserem Kaffee noch ein Stück Kuchen, der leider von mittlerer Qualität ist. Plötzlich erschallt aus einer Ecke Musik. Alle, aber auch alle stehen auf, gehen zu einer freien Fläche, bilden Paare und tanzen los. Wir waren also auf einem Tanztee gelandet. Da ich wegen traumatischer Jugenderlebnisse nicht nur nicht tanze, sondern sogar Angst vor dieser Bewegungsart habe, fühle ich mich sehr unwohl. Wir essen schnell unseren Kuchen auf, bezahlen einschließlich eines obligatorischen Beitrags für die Musik und verlassen das Lokal. Ich, wie befreit, Eveline mit gemischten Gefühlen, denn sie tanzt eigentlich gerne. Es ist einfach so: Ich gehe sehr gerne, während Tanzen nicht mein Ding ist. Und es stimmt, nicht alle Überraschungen kann man unbedingt auf der positiven Seite verbuchen.

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20. Merkwelt und Wirkwelt


Ich gehe am Sonntagmorgen zu unserem kleinen „Um-die-Ecke-Wald“ und höre überall die Vögel singen. Die intensive Morgensonne erwärmt mein Gesicht, aber meine Gedanken sind leider nicht ständig in diesem Wald, sondern oft anderswo: Was habe ich morgen noch zu tun? Habe ich eigentlich die Haustür abgeschlossen? Warum bezeichnet Schopenhauer das kantische Ding an sich als Wille? Wenn ich mich bei solchen Gedanken erwische, was nicht oft vorkommt, werde ich unzufrieden und kritisiere mich: Warum musst Du bloß immer abschweifen? Warum kannst Du Idiot nicht mit deinen Gedanken an diesem schönen Tag in diesem schönen Wald bleiben? Nach einer solchen Standpauke zwinge ich mich, meine Aufmerksamkeit auf Pflanzen, Ausblicke, Besonderheiten auszurichten – und es dauert gar nicht lange, und ich bin wieder außerhalb dieses Raumes und dieser Zeit. Nach einer Weile frage ich mich, wohl auf Versöhnungskurs mit mir selbst: Ist es überhaupt notwendig, dass Du ständig in Gedanken im Hier und Jetzt bist? Genügt es nicht, dass dein Leib den Einflüssen der Natur ausgesetzt ist?
Der Zoologe Jakob Johann von Uexküll bietet mit den von ihm entwickelten zwei Begriffen „Wirkwelt“ und „Merkwelt“ die Möglichkeit, dieses Dilemma besser zu verstehen und sinnvoll mit ihm umzugehen. Die jeweilige Wirkwelt, man könnte auch von der materiellen Umwelt sprechen, sei es ein mit Zigarettenrauch gefülltes Zimmer, ein duftender Wald oder das Sonnenlicht , wirkt per definitionem umfassend und ständig auf den menschlichen Körper ein. Aber der Mensch bemerkt nur einen Teil dieser Wirkungen. Deswegen ist die Merkwelt immer nur eine Teilmenge der Wirkwelt, während ein anderer Teil unbemerkt wirkt. Der vielleicht tragischste Fall hierzu sind die amerikanischen Atomwaffenexperimente nach dem Krieg in der Wüste Nevada, bei denen Tausende von Soldaten und Wissenschaftler den Strahlen ungeschützt ausgesetzt waren und deren tödliche Einwirkungen absolut nicht bemerkten, sondern erst später, als es bereits zu spät war. Ein weniger drastisches Beispiel bezieht sich auf die Emissionen des Autos. Ihre Schädlichkeit wird im Alltag nur dann bemerkt, wenn man sich direkt dem Auspuffrohr des Autos nähert, wobei es eine Nähe gibt, die zum Tode führt.
Aber das sind Ausnahmen. Denn grundsätzlich sind unsere Wirkwelten lebensfördernd. Wären sie es nicht, gäbe es uns nicht. Seine jeweilige Merkwelt kann der Mensch intensivieren und vergrößern, indem er sich so positioniert, dass er möglichst viele Wirkungen „abbekommt“. Das reicht vom Riechen an einer Rose bis hin zu der Entscheidung, den Wald nicht so schnell zu verlassen. Es ist sogar möglich, in der Wirkwelt Übernatürliches (Transzendenz) für sich zu entdecken. Nun aber zurück zu meinem Dilemma, dass ich mit meinem Körper im Wald bin und meine Gedanken bei einem Problem in der Firma. Obwohl beide Bereiche getrennt sind, wirkt der Wald einschließlich seiner Atmosphären, die gewissermaßen einen halbobjektiven Charakter haben, ganzheitlich und uneingeschränkt auf meinen Körper. Und weil mein Körper zumindest Träger meiner Gefühle und Gedanken ist, wirkt die Umwelt über meinen Körper auch auf diese positiv ein. Aber die Trennung von Wirkwelt und meinen Gedanken ist keine Tragödie, höchstens eine partielle Missachtung der jeweiligen Umwelt. Wir sollten mit der Tatsache, dass wir in Gedanken die jeweilige Umwelt verlassen, nicht verkrampft umgehen, denn der Leib und der Geist haben jeder ihr Recht auf die jeweilige Gegenwart. Sicherlich betrachteten die Peripatetiker um Aristoteles nur selten die schönen Säulen ihrer Akademie, sie hielten sich vielmehr gehend und redend in Gefilden der abstrakten Philosophie auf. Wenn „externe“ Gedanken sehr drängend sind, sollte man sie nicht unterdrücken, sondern zulassen. Allgemeine Gedanken zu bilden, ist eine Chance zum Vermehren von Möglichkeiten, die man später in anderen realen Umwelten umsetzen kann. Ich halte es aber andererseits für falsch, wenn man das positive „Material“ der Umwelt nicht von Zeit zu Zeit bewusst in den Mittelpunkt seiner Wahrnehmungen und Gedanken stellt, um dieses Potenzial in Form von Stärkung, Anregung und Kreativität zu nutzen. Übrigens bin ich mehr Leib, wenn ich mit Seele und Geist in der Situation bin.

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21. Zwei gegensätzliche Reiseberichte zum selben Thema


Unsere erwachsenen Kinder kommen von einer ganztägigen Fahrradtour zurück zu uns und hören gar nicht auf, von ihren Erlebnissen zu erzählen. Vor einem halben Jahr dagegen kamen sie aus Berlin mit einem müden "Auf der Autobahn war die Hölle los" bei uns an - und damit war der „Reisebericht“ auch beendet.

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22. Ich (Fußgänger) sehe etwas, was Du (Autofahrer) nicht siehst


Ich fahre mit dem Rad in die Stadt und sehe die Türen eines "Armaturenschranks" der Stadtwerke offen im Winde auf- und zuschlagen. Ich rufe die zuständige Stelle an, damit kein Schaden entsteht. Vom Auto aus hätte ich das nicht gesehen.

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23. Urlaub möglichst ohne Auto


Eine Selbstverständlichkeit sollte mittlerweile ein autofreier Urlaub sein. Mit dem Zug, um ein Beispiel zu nennen, von Flensburg nach Oberstdorf mit Umsteigen in Hamburg und Augsburg ist in weniger als elf Stunden zu bewältigen. Exakte Informationen sind leicht zugänglich über das Internet, auch wenn man – wie ich – alles andere als ein PC-Freak ist.
Bei vielen „Autourlaubern“ habe ich den Eindruck, dass sie ihrem Urlaubsort nichts abgewinnen können. Selbst dort sind sie fast jeden Tag mit dem Auto unterwegs – oft mehrere hundert Kilometer. Danach berichten sie minutiös im Märtyrerton von den vielen und langen Staus. Ich meine, jeder Ferienort bietet in einem Radius von zwanzig Kilometern genug Anreize, um dort zwei Wochen erfüllte Zeiten zu erleben.

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24. Drei strukturelle Fehlentscheidungen auf der Wanderung von Sterzing nach Meran


Es gibt wohl keine längere Wanderung, die ausschließlich aus einer Aneinanderreihung von geglückten Momenten besteht. Umgekehrt wohl auch keine, die ausschließlich aus missglückten besteht. Aber da beißt keine Maus einen Faden ab: Unsere mit großen Erwartungen gestartete Wanderung von Sterzing nach Meran durch das Eisacktal in Südtirol war strukturell ziemlich enttäuschend. Überwiegend davon soll hier berichtet werden. Mit dem Zug schafft man es tatsächlich, in einem Tag von Flensburg quer durch Deutschland und Österreich über den Brenner bis nach Sterzing zu kommen. Sterzing ist ein kleiner Ort, der seinen mittelalterlichen Charakter bewahrt hat und in dem ein reges Leben herrscht. Viele kleine Geschäfte können hier überleben, wohl auch deswegen, weil die Stadtverwaltung es verhindert hat, dass hier große Einkaufszentren entstanden sind.
Bereits am ersten Abend, an dem wir in einem historischen Restaurant ein noch nicht verdientes exzellentes Essen uns gegönnt haben, haben wir uns in Sterzing verliebt. Die Liebe ging sogar soweit, dass wir uns am nächsten Tag beim Makler nach einer käuflichen Wohnung in der Fußgängerstraße umsahen, uns auch gleich eine traumhafte in einem gotischen Bürgerhaus angeboten wurde. Wir wären inzwischen bestimmt Sterzinger Bürger, wenn je nach Interessenperspektive der Preis nicht so hoch bzw. unser finanzieller Spielraum nicht so begrenzt gewesen wäre.
Um in Meran noch eine Woche kleidungs- und übernachtungsmäßig etwas gehobener verbringen zu können, hatten wir einen Koffer mitgenommen, den wir in unserer Pension deponierten. Das war meine Idee, und ich weiß immer noch nicht, wie meine Logik so einen Blödsinn denken konnte, denn das hieß eine zusätzlich Hin- und Rückfahrt, die fast einen ganzen Tag in Anspruch nahm. Das war schon mal der erste Fehler. Der zweite Fehler bestand darin, dass wir bis Brixen das enge, viel befahrene Eisacktal nicht verließen. Obwohl wir uns bemühten, die Autobahn und andere Autostraßen, Bahnlinien und Industrieanlagen zu meiden, stießen wir immer wieder visuell und akustisch auf diese. Erst in Brixen verließen wir das Tal und sind in einem weiten Bogen nach Franzensfeste gelaufen. Kurz vor Franzensfeste war der Wanderweg mehr oder weniger aufgegeben. Negativer Höhepunkt war, dass dieser Weg in eine Steilwand unmittelbar über dem Tunneleingang der Autobahn mündete. Obwohl dort Ringe zum Festhalten eingelassen waren, hatte ich große Angst, weiter zu klettern, weil man von dort direkt auf die mit Höchstgeschwindigkeit unter einem rasenden Autos und Lastkraftwagen sah. So oder so ähnlich muss es in der Hölle sein, dachte ich. Ich hangelte mich aber auf dieser Strecke wieder zurück, da meine Partnerin trotz meines intensiven Flehens sich standhaft weigerte, mir zu folgen. Von Franzensfeste aus sind wir zurück nach Sterzing und für weitere sechs Tage nach Meran gefahren. Dort unterlief uns schließlich der dritte Fehler: Auch in Meran hielten wir uns allein im Etschtal auf. Besonders die Waalwege hatten es uns angetan. Die malerischen Hochtäler um Meran haben wir nicht aufgesucht. Unser Fazit: Meide beim Wandern die Haupttäler – und wenn Du es trotzdem machst, informiere Dich genauestens über die Wege.

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25. Gehen und konkreter Sinn


Bewegung in Alltagswelten fällt leichter! Amerikanische Untersuchungen sehen den Hauptgrund für Fettleibigkeit nicht in den Eßgewohnheiten, sondern im Bewegungsmangel. Um diesen Mangel zu beseitigen, wird immer zuallererst und oft allein auf die Notwendigkeit sportlicher Aktivitäten verwiesen. Das ist problematisch, weil hier Eigenbewegung allein auf Sport reduziert wird. Langfristig Sport durchzuführen, verlangt sehr große Willensanstrengungen. Viel leichter fällt es, in Alltagssituationen entweder zu Fuß oder mit dem Rad zur Schule, zum Arbeitsplatz, zum Kaufmann oder ins Theater zu gelangen, weil so konkreter, nicht konstruiert­-fiktiver Sinn entsteht. Jedes Moment dieser Bewegungen ist durch das Ziel legitimiert und damit wird diese Bewegung insgesamt gestärkt. Innere Einwände haben hier weniger negative Durchsetzungskraft. Sich über das Argument motivieren zu wollen, durch Eigenbewegung diene man seiner Gesundheit und schone die Umwelt, ist schwieriger, weil schon abstrakter.

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26. Unerwartete Überraschungen


Nach dem Essen gehen wir in unserer unmittelbaren Umgebung spazieren: Wir sehen einen badenden Dompfaff und am Himmel Gänse gen Norden ziehen.

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27. Im Weg kann Schönheit liegen - der Gendarmenstieg


An einem windigen Dezembertag machen wir auf dem Gendarmenstieg einen Spaziergang, der noch heute in seiner Schönheit nachwirkt. Der Gendarmenstieg befindet sich auf der dänischen Seite der Flensburger Förde. Als Nordschleswig nach dem Ersten Weltkrieg dänisch wurde, diente er als Zollgrenze, die eben von Gendarmen überwacht wurde. Der Weg ist wenig befestigt, und das ist auch das Faszinierende, er passt sich immer den Formen der ständig wechselnden Landschaftsteile an – und nicht umgekehrt. So nimmt er selbst die unterschiedlichsten Formen an: Enger und breiter, ansteigend, eben und abfallend, trocken und matschig, mit Kräutern unregelmäßig bewachsen, über Stege und kleine Brücken, manchmal direkt am Wasser, manchmal etwas vom Ufer entfernt durch einen Buchenwald oder durch kleine Siedlungen führend. Er ist materieller Grund, aber auch Ursache für die Schönheit, die sich dem Wanderer offenbart. Wer das nicht versteht, ersetze in Gedanken diesen Weg durch eine schnurgerade asphaltierte Straße und weiß, was gemeint ist.

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28. Gewohnheiten schaffen


„Nach dem Essen sollst Du ruhn oder tausend Schritte tun“ heißt es ja in dem bekannten Sprichwort. Wir haben uns grundsätzlich für die letzte Alternative entschieden, versuchen aber, wenn möglich, nach dem Mittagessen die Synthese von beiden zu realisieren. Wo wir auch wohnten, nach einiger Zeit schälte sich immer ein bestimmter Weg heraus. Dieser Weg ist immer ein Rundweg. Offensichtlich ist das Umkehren zu negativ, irgendwie mit Versagen und Niederlage besetzt und belastet. Immer finden wir ruhige Wege und „ruhig“ heißt für uns möglichst autofrei. Wir wundern uns, wie menschenleer die Straßen und Wege mit Beginn der Abenddämmerung sind. Allerdings sind sie auch am Tage nicht sehr frequentiert, von Schulkindern auf dem Nachhauseweg abgesehen. Wenn man Menschen in den Straßen überhaupt begegnet, sind es Hundehalter. Erst läuft man still aneinander vorbei, nach einigen Tagen folgt ein „Guten Abend“ bzw. „Moin“. Nach einem Monat vielleicht das erste Gespräch über den betreffenden Hund und über Hunde im Allgemeinen. Am Ende können dann sogar persönliche Dinge und Einstellungen thematisiert werden. Bekanntschaften brauchen hier Zeit.
Schön ist es zu erleben, wie die Abendstimmung sich auf die Inhalte und Weise der Unterhaltung während des Abendspaziergangs überträgt. Der Tag wird noch einmal rekonstruiert, vielleicht auch bewertet: Das war gut, jenes weniger gut. Man hat Zeit, nichts drängt in dieser Situation. Es kommt auch vor, dass in dieser Ruhe Themen hochkommen, die sonst nicht im Bewusstsein erscheinen. Hier gelingt es. Man kann hier auch schweigen, ohne dass Fremdheit entsteht – natürlich nicht zu lange. Wieder zu Hause bin ich noch oft in der Lage, entspannt relativ schwierige Texte zu lesen.
Ich möchte den Abendspaziergang nicht missen. Er wirkt immer sehr beruhigend und schließt den Tag organisch ab. Die Alternative, den Tag mit einem Krimi zu beenden, ist für mich keine.

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29. Zum Wirtshaus im Spessart - Angst am Silvesterabend


Wir wohnten Ende der sechziger Jahre in Babenhausen, einem kleinen Ort zwischen Frankfurt am Main und Odenwald. Ich weiß nicht mehr genau, ob wir damals an Silvester keine Einladung bekommen oder schlicht keine Lust hatten, zu Hause zu bleiben. Zumal ich eine wahnsinnig gute Alternative in petto hatte, nämlich nachmittags mit dem Wagen in den Spessart zu fahren, zehn Kilometer vor dem altehrwürdigen „Gasthaus im Hochspessart“ in Lichtenau, in dem schon Tucholsky gespeist hatte, zu parken, um dann nach einem ausgedehnten Spaziergang dort gut und ausgiebig zu essen. Auf dem Hinweg schien die Sonne, der Weg selbst war ein verschlungener Pfad durch Wald und Feld, den wir allerdings nicht auf dem Rückweg nahmen. Warum nicht? Um zwanzig Uhr, als wir den Gasthof verließen, herrschte draußen absolute Dunkelheit. Deshalb beschlossen wir, die Landstraße zu nehmen. Der Autoverkehr hielt sich dort in Grenzen, so dass es eigentlich eine gemütliche Heimtour hätte werden müssen. Zumindest Eveline sah es offensichtlich so, denn am Anfang war sie vollkommen entspannt, lachte und erzählte viel, während ich immer stiller wurde. Endlich sprach sie mich auf diese Differenz in unserem Verhalten an, und ich offenbarte ihr, dass ich Befürchtungen hätte, jemand könnte uns auflauern. Sie fand das absurd, aber je länger wir gingen, umso schweigsamer wurde ich, der Druck meiner Hand, die die ihrige umklammerte, wurde immer fester, ja verkrampfter. Mit dem Druck übertrugen sich offensichtlich meine dunklen Ahnungen, so dass auch ihr Gang wie der meinige immer schneller wurde. Aus meiner Angst wurde inzwischen die feste Gestalt eines Räubers, ja Mörders, der uns am Straßenrand auflauerte. Prophylaktisch hatte ich einen pfundschweren Stein aufgehoben, den ich einsatzbereit in der freien rechten Hand hielt. Und plötzlich wurde die Gefahr Wirklichkeit: Am Straßenrand war ganz deutlich eine vermummte Gestalt zu erkennen, die regungslos unserer harrte. Ein Zurück gab es für uns nicht mehr, seitwärts in die Büsche, genauer in den Wald zu schlagen, wäre wahrscheinlich ganz im Sinne des Täters gewesen, denn dort hätte er sein schreckliches Werk ganz ohne mögliche Zeugen verrichten können. Um unsere Lebenschancen zu vergrößern, überquerten wir lautlos die Straße und schlichen ganz leise an der vermummten Gestalt vorbei, die sich raffinierter Weise immer noch nicht bewegte, ließen sie aber nicht aus den Augen. Und was geschah? Nichts Äußerliches, sondern nach Art eines Vexierbildes eine Bewusstseinsänderung: Als wir auf gleicher Höhe mit dem schrecklichen Wesen waren, sprang urplötzlich das innere Bild um und aus dem Kopf des Mannes wurde ein ganz normales rundes Straßenschild, das mit einem Sack verhängt war und aus seinem Körper eine ganz normale Stange. Als wir das entdeckten, entspannte sich die Lage langsam, aber nicht ganz, denn nach wie vor gab es durchaus die Möglichkeit anderer drohender Gefahren. Wir mussten also noch einen Kilometer laufen, bis wir am Straßenrand unseren VW-Käfer im wabernden Nebel stehen sahen. Immer noch unter dem Eindruck der Angst, umrundete ich ihn, ob sich hinter oder darunter doch noch jemand versteckt hätte. Als das Ergebnis negativ ausfiel, rissen wir förmlich die Türen auf, sprangen hinein, verriegelten von innen und starteten in Sekundenschnelle, so dass wir in höchster Geschwindigkeit in Fahrt kamen und somit außer Gefahr waren. Hier ist zu erwähnen, dass Novalis´ „Hymnen an die Nacht“, die ich kurz zuvor begeistert gelesen hatte, gar nicht, aber auch gar nicht gefühls- und gedankenverändernd gewirkt haben. Wenn Literatur gewirkt hat, dann sicherlich der Erlkönig.

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30. Es schneit: Missmut und Freude


Während der ganzen Nacht hat es geschneit – und zwar heftig. Felder, Wege, Häuser sind von einem wunderschönen Weiß überzogen - auch die Straßen, aber nur für kurze Zeit, denn es dauert nicht lange, bis die Autos dafür sorgen, dass aus dem Schnee schmutziger Matsch wird. Die Morgennachrichten sprechen bereits von einem Schneechaos. Viele Erwachsene gucken besorgt, ja griesgrämig in den Himmel. Es sind, so weit mir bekannt ist, passionierte Autofahrer. Übrigens gibt es inzwischen viele Menschen, die den Klimawandel begrüßen, weil Schnee und Kälte als Störfaktoren ausfallen und damit das Autofahren nicht mehr behindern. Der heutige Tag ist also bereits eine Ausnahme. Aber die Kinder freuen sich und auch einige Erwachsene, zu denen auch wir gehören. Wir ziehen uns warm an und laufen durch eine für uns neue Landschaft: Aus dem schlichten Überlaufbecken ist ein romantischer See geworden, die am Ufer stehenden Häuser haben keine scharfen Ecken und Kanten mehr, sondern alles ist mit runden Schneehauben überzogen. Das dunkle Wasser des kleinen Baches kontrastiert scharf gegen seinen schneebedeckten Rand. Aus einer prosaischen Landschaft ist eine poetische geworden.
In Nähe unserer Siedlung gibt es einen kleinen, künstlich aufgeworfenen Hügel. Auf ihm gehen, laufen, springen, ziehen und fahren um die dreißig Kinder Schlitten und halb so viele Erwachsene schauen zu. Nebenan auf dem zugefrorenen Überlaufbecken haben sich Schlittschuhläufer eingefunden. Einige drehen elegante Pirouetten, dafür fallen andere ständig auf der Nase und das Niveau der Hockeyspieler ist bestenfalls auch nur im Mittelbereich anzusiedeln. Die Infrastruktur ist nach heutigen Ansprüchen grottenschlecht, sieht man von einem provisorischen Glühweinausschank eines Vaters ab. Man kann dorthin nur zu Fuß gelangen - und trotzdem haben alle Anwesenden hier viel Spaß und gute Laune. So viele rotbäckige Menschen habe ich seit langem nicht mehr gesehen. Die Situation besteht nur aus Menschen, Natur und Schlitten. So geht es auch, und das gar nicht so schlecht!

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31. Kinder unter erschwerten Bedingungen abholen


Unsere Schwiegertochter ist wegen eines Leistenbruchs operiert worden. Alles ist gut verlaufen. Wir haben eine Woche die Elternrolle eingenommen, um sie zu entlasten: Morgens um sechs Uhr aufstehen, den Kindern beim Anziehen helfen, Frühstück machen – alles von der Omi organisiert und getragen. Meine Zeit kommt danach, nämlich Fahrdienste mit dem Auto zur Schule und Kindergarten einschließlich Abholen anderer Kinder. Trotz größter Anstrengungen meinerseits kann ich keine Alternativen mit dem Rad oder gar zu Fuß durchsetzen. Einerseits fehlt es an Fahrrädern, anderseits ist die Entfernung wirklich zu groß. Die Entscheidung, mit dem Auto zu fahren, heißt heute gleichzeitig, von einem Meer anderer Wagen umgeben zu sein. Viel befahrene Straßen auch hier nahezu naturwüchsig, aber noch schlimmer, die Schule selbst ist förmlich von an- und abfahrenden und parkenden Autos eingeschnürt. Junge Mütter, in der rechten Hand einen Schulranzen, an der linken ihr Kind, schlängeln sich durch die kompakt aufgestellten Reihen der Autos. Das pure Dasein der Autos ist das Dominierende, die Menschen können nur kleine autofreie Nischen für sich in Anspruch nehmen. Aber nicht alle Mütter beugen sich diesem Diktat, denn einige wenige kommen tatsächlich täglich mit dem Rad, wobei die Kinder auf einem eigenen fahren bzw. einen Roller haben. Alle Achtung! Und ich frage mich, woher dieser Widerstandswille, diese Tapferkeit und diese Durchhaltekraft kommen. Umgekehrt habe ich den Eindruck, dass bei den Müttern, die insbesondere sehr große und teure Autos fahren, Identitätsbemühungen durch Statussymbole wirksam sind.
Interessant ist vielleicht noch folgende Selbstbeobachtung: Am ersten Tag bereitete es mir fast körperliche Schmerzen, diese Konzentration von Autos vor und um die Schulen herum beobachten zu müssen – und selbst Teil dieses Wahnsinns zu sein. Nach einer Woche legten sich die „Schmerzen“ und nahmen gewissermaßen theoretischen Charakter an: Der Intellekt kritisiert weiter, aber der Körper hat sich beruhigt. Hätte ich diese Aufgabe einige Jahre durchführen müssen – so vermute ich – wäre auch meine Autokritik zumindest stark zurückgedrängt worden. Es gibt offensichtlich keine autokritischen Berufsfahrer. Diesen Sachverhalt kann man mit Heideggers Begriff der Zuhandenheit gut erklären. Damit ist gemeint, dass uns die Dinge unmittelbar zur Hand sind. Wir haben zu ihnen keine Distanz. Sie gehören zu uns – und sind damit faktisch einem Kritiktabu unterlegen.

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32. Wiese versus Spielscheune


In unserer Umgebung gibt es keine Spielscheune, und wir wollen auch nicht mit unseren zwei Enkelkindern dorthin gehen, wenn sie uns besuchen. Auf Spielscheunen fahren wir nicht ab. Warum nicht? Sie sind inszeniert, sie müssen im Winter geheizt werden, sie schaffen unnötige Autofahrten, sie sind ein Bakterienherd und es gibt genug Alternativen zu ihnen. Wir wohnen am Rand einer Vorstadtsiedlung, die von der Nachbarsiedlung durch ein Feld und zwei Überlaufseen getrennt ist. Ein kleinerer Teil des Feldes ist als naturbelassener Spielplatz für Kinder ausgewiesen. Seltsamerweise wird er von ihnen fast nicht angenommen. Nur manchmal verirrt sich eine Mutter mit ihrem Kind dorthin.
Aber Eveline schreckt das nicht ab, sie hat einen Riecher für Aufenthalts- und Spielmöglichkeiten eines Gebietes. Zumal, wenn die Bedingungen wie jetzt günstig sind: Die Sonne scheint, der Korb ist mit Essensvorräten und einem Ball gefüllt. Johanna hat ihre Puppe trägt ihre Puppe im Arm, Matthies hat Pfeil und Bogen sowie seinen Fußball mitgenommen. Opi (also ich) muss auch mit, obwohl er eigentlich keine Zeit hat. Es geht also los. Gleich hinter dem Haus führt ein Weg an einem kleinen Bach vorbei. Wir haben Glück, just in diesem Moment fliegt ein Eisvogel pfeilschnell über die Wasseroberfläche an uns vorbei. Omi sieht ihn sofort, Matthies behauptet steif und fest, er hätte den Vogel auch gesehen, Johanna schaut mit einem Blick, gemischt aus Ungläubigkeit und auch Melancholie der möglichen Flugbahn des Vogels nach, während Opi, wie immer in solchen Situationen, offensichtlich Sehstörungen hat. Dann gibt es eine Abkürzung durch das Gebüsch am Sammelbecken vorbei. Hier könnten Indianer hausen, aber glücklich wird dieses gefährliche Terrain überquert und man erreicht das offene Feld. An dessen Seite befindet sich der naturbelassene Spielplatz mit Wällen, Spielflächen, Hügeln und Tälern und sogar einem kleinen Berg, den die Kinder im Winter zum Rodeln nutzen. Matthies und Opi eröffnen die Saison mit einem Fußballspiel, das der wesentlich Ältere nach hartem Kampf knapp verliert. Johanna hat für ihre Puppe ein Grasbett gemacht. Plötzlich hören wir Stimmengewirr. Sind es etwa doch Indianer, wie Opi ängstlich vermutet? Nein, es ist eine Gruppe von Kindern, die sich hier jeden Mittwochnachmittag unter Leitung eines Erziehers trifft. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten im sozialen Bereich entwickelt sich zwischen den zwei „Stämmen“ fast Nähe, zumindest gegenseitiges Vertrauen. Höhepunkt dieses Treffens ist ein Lagerfeuer, in dem Stockbrote „gebacken“ werden. Obwohl eigentlich eklig schmeckend, verputzen wir unsere Ration ratzfatz. Danach löst sich die „Stockbrot-Gruppe“ auf, und wir kehren wieder zu unserem ursprünglichen Stammesgebiet zurück. Omi hat inzwischen im Gras eine Decke ausgebreitet, auf der köstliche Dinge in ästhetisch sehr ansprechender Form liegen. Die schmecken wirklich lecker, da muss man sich nicht wie bei den Stockbroten verstellen. Matthies, der sonst sehr sparsam mit Lob ist, sagt auf dem Nachhauseweg: „Das war aber superschön.“ Dem schließen wir uns kommentarlos an. Die Großeltern denken im Stillen: „Es geht auch ohne Spielscheune.“ Das Fazit lautet: Phantasie ist stärker als aufwendige Inszenierungen.

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33. Outdoor-Aktivitäten damals


Elmshorn ist heute faktisch ein Vorort von Hamburg. Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der sechziger Jahre war Elmshorn eine Kleinstadt, die grundsätzlich aus sich selbst heraus existierte. Die meisten Bürger arbeiteten in der Stadt. Zumindest alle Grundbedürfnisse wurden dort befriedigt, die Innenstadt war der Ort, wo man zumindest beim dritten Hingehen mit Sicherheit den Menschen traf, den man gerne treffen wollte (in meinem Fall das jeweilige Mädchen meiner Träume). Die heimatlichen Sportvereine hatten regen Zulauf, die jährlichen Jahrmärkte und Zirkusaufführungen waren immer brechend voll. Am Stadtrand gab es an dem kleinen Fluss Krückau eine Natur-Badeanstalt. Auch diese war bei gutem Wetter stark frequentiert. Man konnte dort auch Ruderboote mieten. Allerdings waren die Möglichkeiten, flussaufwärts beträchtlich weit zu kommen wegen zunehmenden Wassermangels sehr begrenzt. Bereits nach zwei Kilometern wurde aus dem Rudern mehr ein Schieben durch denjenigen, der eine kurze Hose anhatte. Pfingsten und an anderen Feiertagen fuhr man mit dem Rad zum sechs Kilometer weit entfernten Barmstedter See oder zum Pfingstochsen, ein Ochse, der am Spieß gebraten wurde. Wenn man Pech hatte, was häufig vorkam, bekam man ein gar nicht schmackhaftes Stück Fleisch. Ich glaube immer noch, dass die für diese Arbeit zuständigen Schlachter alle aus Barmstedt waren und ihre Verwandten und Bekannten bevorzugt haben.
Ein Auto besaßen wir noch nicht. Busse verkehrten zwar, aber auf Routen, die für uns uninteressant waren. Mit dem Zug nach Hamburg fuhr man vielleicht vier- bis fünfmal im Jahr, nach St. Michaelisdonn bzw. Meldorf in entgegen gesetzte Richtung zweimal im Jahr, weil dort unsere engsten Verwandten wohnten. Alle anderen Ortsveränderungen legten wird als Kinder zu Fuß zurück. Das Fahrrad begann erst eine größere Rolle zu spielen, als wir etwas älter waren. Wir liefen also zur Schule und zu unseren anderen Zielen jeweils zu Fuß. Bolzplätze hatten wir mehrere zur Auswahl, wobei der beste ungefähr einen Kilometer entfernt lag. Alles, was wir kauften, wurde ausschließlich aus Läden der Innenstadt geholt und zwar tagtäglich. Ich kann mich jedenfalls nicht an einen Tag in der Woche erinnern, an dem in der Stadt nicht noch „etwas“ besorgt werden musste, sei es Brot vom Bäcker, Wurst vom Schlachter oder ein Stück Fisch vom Fischhändler - was ich übrigens gerne tat. Im Winter fuhren wir Schlitten am Deich der Krückau. Auch dorthin gingen wir natürlich zu Fuß. Wer fand sich da bloß ein – alle!
In meiner Lehrzeit bin ich jeden Morgen um sechs Uhr zu meiner Arbeitsstelle auf der anderen Seite der Stadt mit dem Rad gefahren. Das war immer sehr beeindruckend, weil es überall noch sehr still war. Von der Strecke kenne ich noch viele markante Gebäude und jede Straße.
Für uns Kinder und Jugendlichen war Elmshorn ein nahezu abgeschlossener Kosmos, der nicht nur nicht infrage gestellt, sondern in dem man sich irgendwie wohl und geborgen fühlte. Aber es gab auch dunkle Seiten in der Gestalt von Armut, Schlägereien und Tragödien, die wir Kinder aber schlicht nicht mitbekamen bzw. vor uns absolut verschwiegen wurden. Aber ich erinnere mich auch und besonders schmerzlich an eine Situation, in der wir Kinder selbst die Produzenten von Bösem waren: Zu Beginn meiner Schulzeit, in der ersten oder zweiten Klasse, gab es in unserer Schule einen Jungen, der in die Hosen machte. Jedenfalls sehe ich noch, wie er in kurzen Hosen, wie wir alle, von einer Horde von Kindern, zu denen ich auch gehörte, laut grölend mit „Hosenkacker“ verfolgt wurde und nach mehreren Straßenzügen in einem dunklen Eingang in einer kleinen Nebenstraße verschwand.
Als problematisch, zumindest aus der Sicht meiner Mutter, muss auch folgende Geschichte eingestuft werden. An der Krückau, vielleicht zwei Kilometer entfernt von uns, lag die Kläranlage der Stadt. Für uns Kinder eigentlich ein uninteressanter Ort. Das änderte sich aber schlagartig nach dem ersten Frost, denn dort gab es Felder, die systematisch mit dem (stinkenden) Wasser aus der Kläranlage überspült wurden , wodurch gleichzeitig eine wunderbar glatte Eisfläche entstand, die zwingend verlangte, dort Eishockey zu spielen. Das taten wir dann ausgiebig. Allerdings mit einem einzigen beträchtlichen Nachteil, der sich zwar während des Hockeyspiels nicht bemerkbar machte, sondern erst am Abend in der gut geheizten elterlichen Wohnstube – denn das bis dahin geruchslose Eis an Hose und Pullover verwandelte sich in seinen ursprünglichen „Stoff“, die bisherige Geruchsneutralität transformierte sich in einen bestialischen Gestank. Meine Mutter und selbst ich als Verursacher konnten uns die Quelle dieses Gestanks erst nicht erklären. Aber langsam dämmerte es mir, behielt meinen Verdacht aber für mich. Auch meine Mutter arbeitete sich über verschiedene Theorien letztlich an die wahre Ursache des Gestanks in ihrer sonst so penibel sauberen Wohnung heran. Ich musste ihr hoch und heilig versprechen, nicht mehr zu den Eisflächen der Kläranlage zu gehen. Da ich meiner Mutter sehr zugetan war, zudem mein Vater, an den ich mich damals kaum noch erinnern konnte, zu der Zeit und noch bis 1951 in russischer Kriegsgefangenschaft war, hatte ich mir fest vorgenommen, mein Versprechen zu halten. Am nächsten Nachmittag herrschte wieder klares und sonniges Winterwetter. Mit Traurigkeit sah ich all meine Freunde, bewaffnet mit Schlittschuhen und Hockeyschlägern, gen Kläranlage ziehen. Mein übermächtiges Verlangen, nicht mein Ich, war es, das mich zwang, ihnen zu folgen, allerdings mit der Einschränkung, ihnen nur zusehen zu wollen. Nach einer Weile stand für mich fest, dass der Torwart unserer Mannschaft eine Niete war und mit absoluter Sicherheit für die zu erwartende Niederlage verantwortlich wäre. Da ich zudem wusste, dass er zum Torwart keinen Bock hatte, schlug ich vor, obwohl ich ja keine Schlittschuhe mithatte, ihn als Torwart mit einem ausgeliehenen Schläger zu ersetzen. Schlechtes Gewissen meiner Mutter gegenüber hatte ich auf einmal nicht mehr. Ich traute mir zu, mit Lockerheit im Stehen das Tor rein zuhalten. Das war aber reine Theorie, denn im realen Kampf ging es gar nicht anders, als mit vollem Körpereinsatz zu spielen. Ich lag also mehr auf dem Eis, als dass ich stand. Und wir gewannen verdient. Am Abend fing es in unserer Stube wieder fürchterlich an zu stinken, und meine Mutter wusste nun gleich Bescheid. Aber anstatt, wie erwartet, fürchterlich zu schimpfen, hatte sie eine Lösung bereit: Vor dem Spiel musste ich alte Sachen anziehen – und das hieß damals lumpenähnliche Hosen und Hemden - und nach dem Spiel im Schuppen wieder ausziehen. Das war in Ordnung, Hauptsache war, das hübsche Mädchen aus meiner Nachbarschaft sah mich nicht, denn das hätte meiner Ansicht nach meine sowieso geringen Chancen bei ihr (was immer ich mir darunter vorstellte) mit Sicherheit gegen Null gedrückt.

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34. Vom Outdoor- zum Indoor-Leben heute


„Ich möchte heute nicht raus“, sagt die Siebenjährige, obwohl draußen Schnee liegt und dazu auch noch die Sonne scheint. Eine langjährige Bekannte hat seit längerer Zeit keine Sonne, keinen Regen und keinen Schnee mehr auf ihrer Haut gespürt, ihre Lebensorte beschränken sich auf den Arbeitsplatz, aufs Einkaufszentrum und auf ihr Zuhause. Ich selber sitze nun schon seit vier Stunden ohne Unterbrechungen am PC.
Was passiert da? Das in der Evolution kollektiv und individuell bestehende Mischungsverhältnis von Indoor- und Outdoor-Aktivitäten entwickelt sich heute immer mehr zugunsten Indoor-Aktivitäten. Menschliches Leben verschiebt sich von draußen nach drinnen. Die Merkmale des Drinnen: geschützt und künstlich-homogenes Klima, das unabhängig von den Außentemperaturen ist. Deswegen hat ein Drinnen eine wärmeundurchdringliche „Haut“ und immer ein begrenztes Volumen. Neben den traditionellen Aufenthaltsorten in Wohnungen, Geschäften, Büros, Fabrikhallen oder Schulen kommen Gebäude wie Einkaufszentren, Galerien, Wellnesszentren, Badelandschaften, Skihallen, Tennishallen, Fitnesszentren, überdachte Sportstadien, Großhallen, Spielscheunen, riesige, kleinstadtimitierende Kreuzfahrtschiffe hinzu. Internet-Käufe, Pizza-Dienste, Emails usw. stärken die Tendenz zum Drinnenleben. Zu den Indoor-Aktivitäten gehören auch Fahrten mit Autos, Bussen, Zügen, Schiffen und Flugzeugen. Auch das Autofahren in der Landschaft ist also keine Draußen-Aktivität, sondern findet in einem geschützten Raum, in einem Drinnen, dem Inneren des Autos statt.
Diese Transformation von Outdoor- zu Indooraktiviäten ist mit riesigem Energie- und Materialaufwand verbunden. Man denke nur an den momentan höchsten Wohnturm in Dubai. Im Drinnen werden viele technische Einrichtungen installiert, die den Verlust an Draußenerfahrungen kompensieren sollen. Diese Ersatzwelten üben offensichtlich eine größere Faszination aus als die entsprechenden realen Gegenstände draußen. Anders kann man sich den reibungslosen Übergang in diese imitierenden und virtuellen Welten nicht erklären. Die Steigerung der Drinnenaktiviäten verlangt im Privatbereich zwangsläufig größere Wohnungen, also mehr überbauten Raum. Die materiellen Veränderungen sind wiederum mit großen Mentalitäts-, Wahrnehmungs- und Kognitionsänderungen verbunden, nicht zuletzt auch im Bereich der Eigenbewegungen. Radfahren liegt nicht drin, und auch das Gehen im weitesten Sinne wird zwangsläufig eingeschränkt, denn eine Badelandschaft oder eine Skihalle ist bezüglich Größe, Luft, Geräuschpegel und Naturanteilen verglichen mit einem realen Strand oder Skipiste doch recht mickrig.

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35. Eine kurze Geschichte der Laufgewohnheiten in meiner Familie


Von lauffaulen Vorfahren in meiner Familie habe ich nie etwas gehört. Allerdings haben wir auch keine Sportler hervorgebracht. Erzählt hat man mir aber folgende Geschichte meines Großvaters väterlicherseits, der einen Bauernhof in Dithmarschen an der Nordsee besaß und auch im Alter viel lief, übrigens oft auch in den Dorfgasthof. Einer seiner Söhne hatte einen Bauernhof in Königsförde in Nähe der Ostsee übernommen. Mein Großvater besuchte regelmäßig seine Kinder, so auch diesen. Die Entfernung von Meldorf bis zu besagtem Bauernhof beträgt etwa achtzig Kilometer. Günstige Verbindungen dorthin gab es damals nicht. Vielleicht hatte er auch nicht genügend Geld, um eine Fahrt bezahlen zu können. Jedenfalls bewältigte er die Strecke hin und zurück zu Fuß. Dazwischen hatte er, offensichtlich bei früheren Bekannten, drei Anlaufstellen zum Übernachten.
Vielleicht hat diese Familiengeschichte meinen bereits mehrmals realisierten Wunsch, einfach von zu Hause loszugehen bzw. mit dem Rad loszufahren, begründet.
Auch von meinen Eltern habe ich in Erinnerung, dass sie jeden Abend einen kürzeren (rund zwei Kilometer) und jedes Wochenende einen längeren Weg (das konnten auch mal zehn Kilometer sein) im forschen Tempo, begleitet von einem Rotweiler und einem etwas sehr dicklichen Rehpinscher, zurückgelegt haben. Das geschah ganz unspektakulär mit größter Selbstverständlichkeit. Das ist erstaunlich, da mein Vater als Schlachtermeister immerhin von morgens Fünf bis abends körperlich stark arbeitete. Ob meine Mutter die treibende Kraft für das regelmäßige Laufen war, weiß ich nicht, jedenfalls habe ich ihn nie meutern hören.
In praktischer Hinsicht waren meine Eltern sicherlich ein Modell für mich. Das war mir bis jetzt allerdings nicht bewusst. Diese Interpretation ist mir erst jetzt während des Schreibens gekommen.

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36. Averlak - Prägung durch konkrete Erfahrungen


Averlak ist ein lang gestrecktes Straßendorf in Nähe des Nord-Ostsee-Kanals. Die Bauernhöfe, Betriebe und Einzelhäuser, manchmal durch eine Wiese voneinander getrennt, stehen wie Perlen aufgereiht links und rechts der Straße. Obwohl ganz durchschnittlich, bar jeglicher spektakulärer Besonderheiten, ist Averlak für mich etwas ganz Außergewöhnliches, nämlich nicht mehr oder weniger als das Paradies meiner Kindheit. Wie das? Meine Tante Grete und mein Onkel Paul betrieben dort vor und nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gastwirtschaft mit einer Kohlenhandlung und einer kleinen Landwirtschaft. Die Gastwirtschaft hatte einen Saal und vor dem Krieg sogar einen Kaffeegarten. Wenn meine Mutter und ich sie besuchten, ich ab acht Jahren auch alleine, fuhr man mit dem Zug bis St. Michaelisdonn und stieg von dort in eine heute nicht mehr existierende Kleinbahn bis zum Bahnhof Ostermoor, der etwas mehr als einen Kilometer von Averlak entfernt lag. Da Tante und Onkel keinen Personenkraftwagen hatten, dafür aber einen Trecker, dessen blubberndes Motorengeräusch ich immer noch in den Ohren habe, gingen wir diesen Weg zu Fuß, immer schon das Dorf im Visier. Meine beiden Füße waren, wenn ich nicht bei meinem Onkel auf dem Trecker saß, das einzige Fortbewegungsmittel, das mir für zweckgebundene Aktivitäten zur Verfügung stand. Zum Kaufmann oder Bäcker gehen, das Füttern der Schweine, Heu für das Vieh vom Boden holen, aber auch zweckfreie, wie im Garten Fußball spielen, zum Vogelschießen gehen, das am Ende des Dorfes stattfand, vom Balkon aus die Störche beobachten, die auf dem Dach des Nachbarhauses nisteten. In diesem Zusammenhang wage ich die These, dass wir in unserer Kindheit im Durchschnitt das Fünffache zu Fuß gegangen sind als Kinder heutzutage.
Im Saal fand wöchentlich eine Filmveranstaltung durch einen reisenden Filmvorführer statt, an der wir Kinder für gewöhnlich auch teilnehmen durften. Nur bei dem Film „Bitterer Reis“ mit Anna Magnani wurden wir ausgesperrt und die Zugangstüren verschlossen. Aber wir wussten einen Ausweg, denn ein Teil der Zwischenwand bestand aus Pappe, in die wir problemlos kleine „Sehfenster“ schnitten. Ob es nun diese ungewöhnliche Weise des Sehens oder die schon damals als verlockend empfundenen Körperformen der Magnani dafür verantwortlich waren, dass ich keinen anderen Film so deutlich in meinem Bewusstsein habe wie diesen, kann ich bis heute nicht beantworten, obwohl meine Kindheit – wenn ich mich recht erinnere – zur Hauptsache aus Fußball spielen. In Averlak gab es aber auch problematische Situationen für mich. So insbesondere folgende, von der ich aber nur von Erzählungen weiß: Nach einer Feier im Saal wurde in der Regel abends nicht mehr aufgeräumt und insbesondere in den Likörgläsern, aber auch in den anderer Gläsern, aus denen Bowle getrunken worden war, bildete sich während der Nacht aus dem dünnen Film an den Glaswänden zwar kein volles Glas, aber ein beachtlicher Bodensatz. Zwar nicht intentional, aber durch Instinkt oder nur durch Zufall schwante mir etwas von diesen gefährlichen Köstlichkeiten. Jedenfalls am nächsten Morgen, während die Erwachsenen noch schliefen, bin ich allein aufgestanden und anstatt wie sonst zu spielen, in den Saal gegangen – und habe bei dieser Gelegenheit alle Gläser sauber ausgeschleckt. Man fand mich morgens schlafend in einer Ecke des Saales. Erst als man entdeckte, dass die Gläser fast absolut sauber waren, kam jemand auf die Idee, dass ich der „Wäscher“ gewesen sein musste. Da ich aber auf kleine Püffe reagierte, machte man sich begründeter Weise keine Sorgen, steckte mich ins Bett, und am Nachmittag stand ich wie neugeboren auf – so erzählte man mir später.

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37. Eine Station in meiner Entwicklung vom konsumorientierten Saulus zum ökologischen Paulus


Jeder Leserin und Leser müsste inzwischen bemerkt haben, dass ich kein Liebhaber des Fernsehens und Autofahrens bin. Ich denke heute: Im habituell-zwanghaften Autofahren und Fernsehen verwirklichen und verkörpern sich grundsätzlich Humanität und Wachstum verhindernde Eigenschaften und Wünsche des Menschen. Bis ich zu dieser Einsicht gelangt bin, war es ein langer Weg und ein vollkommen anderer Ausgangspunkt. Es muss so um 1953 gewesen sein, als wir auf mein Drängen hin in unserer Straße den ersten Fernsehapparat bekamen. Ich weiß es noch wie heute: Es gab nur ein Programm, das nur abends ausgestrahlt wurde. Auch wurde damals jede neu hinzugekommene Fernseh-Familie noch persönlich begrüßt. An unserem ersten Abend gab es den Film „Dr. Crippen an Bord“. Ein Wunder war in unserem Wohnzimmer geschehen: Die Ansagerin saß zeitgleich in München hinter der Fernsehkamera und ich gleichzeitig vor dem Fernsehapparat. Ich konnte sie tatsächlich sehen und sie tat, als ob sie mich sähe. Meine Faszination war unbeschreiblich groß, nicht zu überbieten. Bald danach war auch die Fußballweltmeisterschaft von 1954. Zum Endspiel hatten sich ca. dreißig Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn und Arbeitskollegen angemeldet. Der Apparat war im großen Stall aufgestellt. Meine Mutter hatte mit antizipatorischem Organisationsgeschick dreißig Stühle in einem großen Radius vor den Apparat aufgestellt, so dass jeder gut sehen konnte, vorausgesetzt er blieb sitzen. Aber genau das änderte sich nach dem Anschlusstor zum eins-zu-zwei. Einige wenige rückten mit ihren Stühlen näher an den vermeintlichen Ort des Geschehens, konnten aber durch die wütenden Einsprüche der nun weniger gut Sehenden wieder in ihre alten Positionen zurückgebracht werden. Endgültig brach diese von meiner Mutter ersonnene Ordnung aber nach dem Ausgleichstreffer der deutschen Mannschaft zusammen. Kurz: der Radius der Zuschauenden wurde immer kleiner, die Anzahl der anwesenden Gäste, die noch etwas sehen konnten, immer geringer, während proportional die Anzahl der Aufgebrachten immer größer wurde. Zum Schluss gab es drei oder vier Gewinner, die direkt an der Mattscheibe klebten. Ich weiß aber nicht, ob sie da noch etwas sahen. Zudem war die jeweilige Verweildauer dort sehr kurz, weil die glücklichen „Nahseher“ trotz großer Gegenwehr diesen von allen begehrten Platz verloren, indem sie unsanft, um nicht zu sagen brutal, am Kragen gepackt und in die hinteren Reihen verfrachtet wurden. Mit anderen Worten, vor dem Apparat entwickelte sich fast eine veritable Keilerei, die nebenbei so laut war, dass das Siegestor von keinem der Anwesenden akustisch - visuell sowieso nicht - akustisch wahrgenommen werden konnte. Erst nachdem sich der Sender aus dem Spiel geschaltet hatte, bekamen alle über die Kommentare mit, dass Deutschland Weltmeister geworden war. Dieses Ergebnis sorgte übrigens auch dafür, dass, trotz aller Differenzen während des Spiels nach dem Spiel nur pure Freude herrschte – und auch reichlich Alkohol floss. Damals war dieser Genuss verkehrstechnisch allerdings kein Problem, denn alle kamen und gingen wieder zu Fuß nach Haus.

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38. Ein grenzwertiger Deal


Während meiner kombinierten Gesellen-Abendschulzeit hatte ich aus begreiflichen Gründen keinen Fernseher. Auch während des Studiums, bereits verheiratet, kamen wir aus anderen Gründen nicht auf die Idee, uns einen anzuschaffen. Selbst während der ersten Phase meiner Lehrerausbildung bestand bei mir noch kein Bedürfnis nach diesem Gerät – bis zur Vollendung meiner Zweiten Examensarbeit. Danach war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich nach dieser zeichengesättigten Zeit nun endlich Bilder sehen müsste, andernfalls ich schwere Schäden an Geist und Seele nähme. Das war so überzeugend, zumal auch unsere drei Kinder, die sofort begriffen, dass sich auch für sie eine einmalige Chance bot, freudig in den Chor der Befürworter einstimmten, so dass Evelines Einwände, wenn sie denn wirklich vorhanden waren, wie Schnee in der Sonne dahinschwanden. Immer noch infiziert von Günther Anders These, dass der Fernseher den Familientisch als Mittelpunkt abgelöst hätte, war auch ich der Meinung, dass der Fernseher möglicht weit entfernt von Wohnzimmer und Küche zu stehen hätte. Wir fanden also einen kleinen dunklen Nebenraum, wo er nun sein Dasein fristete. Meine Sucht nach Bildern war relativ früh gestillt, und ich war wieder auf meine ursprüngliche Position zurückgefallen, dass der Fernsehapparat der Kontaktvernichter mit der Welt schlechthin sei. Eveline hatte von Natur aus kein Bedürfnis nach diesem Teil, so dass unsere Kinder die einzigen waren, die dieses Zimmer, allerdings häufig, frequentierten. Das ging so etwa drei Jahre ohne Probleme vonstatten. Bis eines Tages etwas Schreckliches passierte. Ein Mord, zwar kein realer, sondern einer im Fernsehen, auch nicht an einem Menschen, sondern an einem Pferd war verübt worden. Pferde waren wiederum für unsere mittlere Tochter die perfekten Lebewesen. Als also das besagte Pferd von einer Kugel eines Banditen getroffen tot umfiel wie ebenfalls der Sheriff, der kurz vorher noch auf diesem Pferd saß, schrie sie in einer Mischung aus Panik, Schrecken, Lebensangst in höchst möglicher Lautstärke. Ihr emotionaler vulkanartiger Ausbruch galt aber dem Pferd und nicht dem Sheriff, wie wir später herausfanden. Aber zurück zur Handlung: Wir, Eveline und ich, hören das entsetzliche Geschrei in der Küche, sie wird blass, aber inaktiv, ich werde blass, aber aktiv, indem ich nach oben in das dunkle Kämmerchen stürze, die Situation sofort erkenne und mit irrwitziger Geschwindigkeit den Ausschaltknopf bediene. Aber statt der erwarteten Entspannung der Lage dröhnt mir die einhellige Forderung der Kinder entgegen, also einschließlich der vorgeblichen Pferdeliebhaberin, sofort den Apparat wieder anzustellen, man wolle ja schließlich wissen, wie der Film endet. Nicht mehr Herr der Situation, beuge ich mich den durch und durch irrationalen Wünschen.
Als ich in der folgenden Nacht noch einmal diese Situation durchdenke, kommt mir eine gute, wenn vielleicht etwas fiese Idee. Ich wusste vom Nachbarn, dass er für seine Ferienwohnung noch einen Fernseher suchte. Auch bin ich mir sicher, dass meine Sucht nach Bildern endgültig versiegt ist, so dass ich beschließe, den Apparat an ihn zu verkaufen. Sechshundert Markt will der Nachbar ausgeben. Bevor der Handel durchgeführt wird, hole ich von der Bank sechs Hundertmarkscheine und lege sie nach dem Kaffeetrinken geheimnisvoll auf den Tisch. Die Kinder gucken gebannt, und ich sage ganz locker: „Will jeder von Euch zwei dieser Scheine haben?“. Das gemeinsame Ja fällt ziemlich verhalten aus, denn sie vermuten mit Recht, dass damit Bedingungen verknüpft sind, die ich dann auch klar und deutlich ausspreche: „Jeder von Euch bekommt zweihundert Mark (das war um 1975 sehr viel Geld). Ihr könnt mit dem Geld machen, war ihr wollt, aber dafür ist der Fernseher weg.“ Und: „Wenn ihr zustimmt, ist diese Entscheidung endgültig, es gibt dann keinen Weg zurück in die Fernsehzeit, dann will ich nichts, aber auch gar nichts mehr davon hören. Überlegt es also gut.“ Der Jüngste kräht sofort: „Das mache ich natürlich“. „Ich auch“ ist das Urteil der Älteren, während sich die Mittlere noch etwas windet, aber nach einigen Minuten einsamen Überlegens doch vor der Macht des Geldes kapituliert. Und tatsächlich findet danach keine Diskussion mehr statt, lediglich der Sohn meint einige Tage später en passant „Papa, du hast uns richtig angeschissen“. Wenn auch die Ausdrucksweise daneben lag, hatte er in der Sache Recht. Deshalb verzichtete ich darauf, ihn zu korrigieren.

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39. Kinder als Wegbereiter für neue Konsumgüter


Dass in unsere Familie Ende der fünfziger Jahre, da wurde ich nämlich achtzehn Jahre alt, das Auto Einzug hielt und aus einer Fußgängerfamilie eine partielle Autofamilie wurde, war auch mein „Verdienst“, zwar nicht ohne Hilfe meiner Mutter, die meinem Drängeln sowieso keinen Widerstand entgegensetzte und meinen Vater schnell „rum bekam“. Allerdings entstand
für meinen Vater ein nicht von ihm vorhergesehenes Problem: Er hatte nur einen Wehrmachtsführerschein, den er sich – so dachte er – lediglich noch formal als allgemein Gültigen bestätigen lassen musste. Schließlich hatte er in den letzten Jahren seiner russischen Kriegsgefangenschaft in Sibirien als Kraftfahrer gearbeitet. Er ging also zur Zulassungsstelle, erfuhr aber dort, dass er doch noch eine kurze praktische und theoretische Prüfung zu machen hätte. Vor seiner „Prüfung“ verabschiedete er sich mit den Worten: „Ik mut noch gau de praktische Prüfung mooken“. Wir sprachen zu Hause Plattdeutsch. Eine Stunde später schlich er an unserem Wohnzimmerfenster vorbei, und wir erfuhren, er sei durchgefallen und müsse die Prüfung noch einmal machen. Das Gleiche widerfuhr ihm in der mündlichen Prüfung, obwohl er sich hier etwas besser vorbereitet hatte. Insgesamt also vier Prüfungen, bevor er am Ziel war. Ich habe ihn damals im Gegensatz zu meiner Mutter nicht bedauert, denn er kritisierte mich ständig während seiner führerscheinfreien Zeit, in der ich mich mit größter Selbstverständlichkeit ans Steuer setzte, weil ich in dieser Zeit der einzige Führerscheinbesitzer war, wegen meiner lässigen Fahrweise á la James Dean. Wir hatten also plötzlich Konflikte, die erst durch die Regel „Wenn Vater und Sohn zusammen im selben Auto fahren, sitzt der Vater am Steuer“ beendet wurden, zumal er mir – und dafür war ich ihm damals sehr dankbar - das Auto abends kommentarlos überließ.
Fazit: Dass Kinder Wegbereiter für neue Konsumgüter in der Familie sind, ist offensichtlich kein neueres Phänomen.

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40. Sinnvolle Reduktion


Zumindest seit meinem dreißigsten Lebensjahr ahnte ich, dass das Auto für den eigenen Leib und Geist, aber auch für die Umwelt ein problematisches Ding sei. Aber diese Ahnung, die inzwischen zum Wissen geworden ist, hatte allerdings noch nicht die Kraft, substanzielle Verhaltensänderungen zu bewirken, so dass ich noch im Landtagswahlkampf Schleswig-Holstein von 1983 als Spitzenkandidat der Grünen ohne innere Schwierigkeiten von einem Ort zum anderen mit dem Auto fuhr. Erst die Situation, dass ab 1989 Wohnort und Arbeitsplatz zwei Kilometer voneinander entfernt lagen, auch dass unsere Kinder aus dem Hause waren, bewirkte in unserer täglichen Praxis ein radikal neues Verhältnis zur Nutzung des Autos. Ich weiß gar nicht mehr, wie wir zu der weder ausdrücklich diskutierten noch formulierten Maxime kamen: Wenn es mach- und zumutbar ist, dann immer zu Fuß, mit dem Rad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sein. Das Auto benutzten wir von nun an so wenig wie nötig - und das hieß für knapp zweitausend Kilometer pro Jahr. Da unsere Wohnung vier Kilometer von der Innenstadt und auch unsere Arbeitsplätze nicht weit entfernt waren, machte es keine Mühe, das einzuhalten – ganz im Gegenteil. Es entstand Freude an der Eigenbewegung und an den vielen kleinen Erlebnissen, die man nur auf dieser Art und Weise der Fortbewegung erlangt.

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41. Schädlichen Emissionen aus dem Weg gehen


Wenn man zu Fuß durch viel befahrene Straßen geht, sollte man möglichst die linke Straßenseite benutzen, so dass die Autos einem entgegenkommen. Oder vor Ampeln nicht direkt am Straßenrand warten, sondern drei oder vier Meter zurücktreten Warum? Man atmet etwas weniger Abgase ein.

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42. Wie wir ohne Auto sehr schön leben


Wir haben nun schon seit einem Jahr kein Auto mehr, haben auch nicht das Gefühl, dass wir ein Opfer bringen, wenn wir auf das eine oder andere Ziel verzichten müssen, das man nur mit dem Auto erreichen kann – so abends noch einmal schnell zum Baden an den zwanzig Kilometer weit entfernten Strand zu fahren. Für uns war allerdings der Abschied vom Auto nicht sehr schwer und folgenreich, da wir seit vielen Jahren, wie bereits gesagt, nie mehr als zweitausend Kilometer pro Jahr gefahren sind.
Aber es stimmt: Unsere Handlungsmöglichkeiten sind bei bestimmten Zielen von den gegebenen technischen Voraussetzungen abhängig. Kurz, ohne Auto ändern sich zwangsläufig die Ziele: Bisher gewohnte werden durch neue ersetzt, die nach unseren bisherigen Erfahrungen in der Regel intensiver, sinnen- und sinnvoller erlebt werden. Auch gibt es viele Möglichkeiten, weite und sehr weit entfernte Ziele mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit einem Mix aus Rad, Zug und auch Schiff zu erreichen. Aus unserer Sicht sind die Leistungen dieser Verkehrssysteme akzeptabel, auch wenn die Deutsche Bahn nicht das Niveau der Schweizer Bahn erreicht. Die entsprechenden Informationen zu Fahrtzeiten und Anschlüssen bekommt man heute leicht über das Internet. Ich denke, da sind Möglichkeiten, von deren Existenz der durchschnittliche Autofahrer nichts weiß und nicht einmal wissen will. Aber auch hier gibt es natürlich Grenzen des Angebots. So, wenn Eveline zu den Veranstaltungen ihres Literaturkreises will, die an verschiedenen Orten der Stadt und Umgebung stattfinden. Meistens lösen wir das Problem dadurch, dass sie mit dem Bus hinfährt und ich sie nachts abhole und wir zu Fuß nach Hause laufen. Das kann übrigens sehr romantisch und geheimnisvoll sein, durch die dunklen Straßen zu gehen. Als einen Widerspruch empfinden wir es, um eine Mitfahrgelegenheit zu bitten, obwohl die anderen Teilnehmer sofort dazu bereit wären.
Ohne Auto zu leben, muss ja keine endgültige Entscheidung sein, aber man sollte es probieren. Auch Halbfertigprodukte wie car-sharing oder schlicht ein Auto zu mieten oder konsequent Taxen in Anspruch zu nehmen (es rechnet sich trotzdem), wären Alternativen. Zu diesem Ausprobieren gehört auch, dass man die ersten Wochen durchhält. Überhaupt sollte man in dieser Hinsicht viel experimentierfreudiger sein, denn man kann letztlich nicht mit Sicherheit sagen, dass die gegenwärtigen Gewohnheiten für einen selbst und die Umwelt die besten sind.

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43. Ganz ohne Wehmut geht auch das nicht


Für Strecken bis zu zehn Kilometern gehen wir zu Fuß oder nehmen das Rad und zwar ohne inneren Zwang, und ich freue mich auf diese Touren. Längere Strecken fahren wir mit dem Zug, auch darauf freue ich mich. Manchmal empfinde ich es zwar als Einschränkung, dass dadurch Aufenthalte an bestimmten Seen, Wäldern oder Mooren für mich unerreichbar bleiben.

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44. Eine Alternative mit drei Unteralternativen


Wir wollen in der Stadt einkaufen. Für uns bestehen drei verschiedene Möglichkeiten, zu unserem Ziel zu gelangen: Wir gehen beide Wege zu Fuß (insgesamt ca. acht Kilometer) oder gehen einen Weg zu Fuß, für den anderen nehmen wir den Bus oder wir realisieren eine Mischform: Bis zur Innenstadtgrenze fahren wir mit dem Rad, stellen es dort ab und laufen dann den Rest zu Fuß. Für alle drei Möglichkeiten müssen Informationen vorhanden sein: „Wann, wo und wohin fahren die Busse der Linie 5?“ „Wo kann ich das Fahrrad gefahrlos abstellen?“ „Wo gibt es ansprechende und relativ autofreie Schleichwege?“. Aus Autofahrerperspektive kann man den Erwerb dieser Informationen als unbequem und überflüssig betrachten. Das sehe ich aber nicht so.

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45. Warum soll ich gehen, wenn mein Auto vor der Tür steht?


Kürzere Distanzen werden von uns zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt und nicht im Modus der Fremdbewegung mit dem Auto. Warum? Es ist ein Irrtum zu glauben, die Art und Weise der Ortsveränderungen habe nur Einfluss auf den Körper und keinen bestimmenden Einfluss auf die Psyche. Beim Autofahren entsteht eine andere Welt, als wenn man geht oder mit dem Rad fährt. Das ist zumindest in zwei Eigentümlichkeiten begründet: In der Eigenbewegung wird die erfahrene Welt über die Muskeln direkt Eins-zu-eins im Gehirn abgebildet. Konkret: Steige ich eine Treppe hoch, bildet sich diese in meinem muskulären System ab und wird mit Hilfe der an den Muskeln liegenden Nervenzellen ins Gehirn weiter geleitet. Das Muskelsystem ist jedoch nicht nur an der Realisierung von körperlichen Bewegungen und an der Informationsvermittlung der jeweils begangenen (wortwörtlich) bzw. begriffenen (wortwörtlich) Umwelt beteiligt, sondern auch, zusammen mit den anderen Gewebesystemen, an der Entstehung von Werten. Das ist genau der Punkt, auf den es hier ankommt.
Wir differenzieren auf Basis der Morphologie in unterschiedliche Gewebearten (Muskel-, Nervengewebe etc.) und schreiben diesen Teilen dann eine spezifische Funktion zu. Dadurch, dass wir die Einheit durch diesen Ansatz zerstören, verschwindet auch unser Bedürfnis, dieser Einheit eine Funktion zuzuschreiben. Aber genau in dieser Einheit liegen die Funktion und die übergeordnete Bedeutung für unser Selbst. Es ist hier eben die Einheit – eine Summe von Teilen – die in ihrem Zusammenspiel nicht nur das berühmte „mehr“, sondern eben auch anders sind als die von uns gewählten Einzelteile (diesen Hinweis verdanke ich Klaus J. Korak).
Dass der Körper, besser sollte man hier vom Leib als den geistig durchdrungenen Körper sprechen, an der Bildung von Werten beteiligt ist, weiß man mit Sicherheit auch durch die Bemühungen, menschliche Intelligenz als künstliche Intelligenz zu rekonstruieren. Das Hauptproblem ist, dass es nicht genügt, hocheffektive Informationssysteme zu entwickeln, was schon gelungen ist, vielmehr muss für diese Systeme ein jeweils wertegenerierender Körper entwickelt werden, der dann ein Leib wäre – was bis jetzt eben nicht gelungen ist. Natürlich hat ein Roboter einen Körper, der aber nicht die in ihm programmierten Prozesse beeinflusst: Ein Roboter hat keine innere Instanz, die subjektive Erlebnisgehalte „trägt“; er verfügt über kein Selbst und damit über kein Selbstbewusstsein, das wiederum Voraussetzung für autonome Welterfahrung ist. Erst ein Selbst, zu dem notwendigerweise ein Leib gehört, ist fähig, Werte zu schaffen, weil das Selbst sich selbst erhalten will. Das Selbst ist der zentrale Wert, der in der Aufgabe der Selbsterhaltung wiederum viele abgeleitete Werte schafft. Nicht der ruhig gestellte Leib, sondern der sich bewegende Leib ist konstituierend an der Entstehung von Werten beteiligt, seien es die Bewegungen des Herzens, der Augäpfel, der Hände oder eben der Füße. Hören alle Bewegungen eines Leibes auf, tritt der Tod ein. Macht man die Bewegungen der Füße und Hände überflüssig, weil man sie durch technische Systeme ersetzt, entsteht eine Welt ohne die spezifischen Erfahrungen durch Hand und Fuß. Ersetzt man Erfahrungen wiederum durch Bilder jeglicher Art, entsteht doppelter körperloser Schein, weil zum einen der bildhafte Gegenstand körperlos ist (von der Materialität des Bildes abgesehen), zum anderen körperliche Erfahrungen mit den Händen und Füßen fehlen.
Natürlich ist menschliches Wissen immer eine Mischung aus primären Selbsterfahrungen und sekundär vermittelten Informationen gewesen und wird es erst recht im Informationszeitalter der Globalisation weiter sein. Ersetzen sekundär vermittelte Informationen die primären Selbsterfahrungen weitestgehend, entsteht tendenziell eine hochintelligente Spezies mit einer stark reduzierten Fähigkeit, autonom eigene Werte zu schaffen. Diese rein kognitive Ausrichtung führt zu dem, was seit Beginn der Moderne als Entfremdung, Verdinglichung, Entzauberung usw. beschrieben wurde und aktueller denn je ist. Eine Entwicklung, die nach dem Philosophen Peter Sloterdijk und dem Futurologen Ray Kurzweil als unaufhaltsam beschrieben wird, weil sie die real wirksame Logik der Moderne verkörpert.
Aber ein Mensch ohne Qualia, so nennt man in der Neurophysiologie, Kognitionspsychologie und Bewusstseinsphilosophie die leibabhängigen subjektiven Erlebnisgehalte, verliert die entscheidende Qualität, die ihn erst zum Menschen macht.
Nicht das Wissen, wohl aber das Ahnen dieser Zusammenhänge erklärt, dass der Wunsch nach und die teilweise Realisation von Eigenbewegung nicht ganz aus der Welt zu schaffen sind. Aus der Perspektive der Nützlichkeit, Funktionalität oder Objektivität sind die Qualia bestenfalls interessantes Beiwerk, im Grunde überflüssig. Das ist aber ein inhumaner, falscher Standpunkt. Denn die subjektive Dimension auszublenden hieße, die Hälfte der Welt, die innere Welt, zu überflüssigem Müll werden zu lassen. Die subjektiven Erlebnisgehalte sind Anfang, Basis und Quelle für alle nachfolgenden Gefühle, Werte, Gedanken und Handlungen – und deshalb unverzichtbar. Jeder zum Gehen unfähige Kranke und jeder Gefängnisinsasse kennt aus der Binnenperspektive den unersetzbaren Wert der Fähigkeit, sich selbst zu bewegen und nicht transportiert zu werden. Eigenbewegung ist ein wesentlicher Faktor für eine Gesellschaft, die auf Nachhaltigkeit und Leben setzt. Die Fähigkeit zum aufrechten Gang über längere Strecken wird mit Recht als die entscheidende Bedingung des Übergangs vom Affen zum Menschen gesehen, und wir verzichten im Konsumrausch freudig auf diese Fähigkeit.
So gesehen ist die substantielle Gewinnung und Rückgewinnung vom Gehen und Radfahren heute bereits eine Revolte, zumindest ein partielles Aufbäumen gegen den dominierenden Trend der zunehmenden Fremdbewegung hin zur Selbstbestimmung. Gehen und Radfahren dienen nicht nur dem Umweltschutz und sind nicht nur nützliche „Verkehrsmittel“, um ein Ziel zu erreichen, sondern müssen auch als ein Beitrag zum Menschsein bewertet werden.

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46. Die Geburt eines neuen Tages


Es ist sechs Uhr morgens, und ich fahre mit dem Rad zum drei Kilometer entfernten Bahnhof. Die Morgensonne scheint. Alles ist still. Es ist, als ob ich an einer Geburt, nämlich der Geburt eines neuen Tages beteiligt sei. An unserer Druckerei vorbeikommend, sehe ich Werner bereits am Werke. Ich klopfe einen Gruß gegen die Scheibe, er erkennt mich, auf seinem Gesicht erscheint ein Lächeln, vielleicht sein erstes an diesem Tage – und ich fahre weiter und erreiche mein Ziel, den Bahnhof.

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47. Die Einheit von Mensch und Technik


Sehe ich mir die Lebensweise meiner Verwandten, Freunde und Nachbarn einschließlich deren Kinder und meiner eigenen an, dann ist folgender Befund eindeutig: In der industriellen Konsumgesellschaft wird Gehen zunehmend durch Sitzen ersetzt. Aus dem sich selbst bewegenden Mensch ist durchweg ein sitzender, ein homo sedens geworden. Zum herkömmlichen Sitzen beim Essen, Lesen, Ausruhen und bei Berufen wie dem Schneider, Uhrenmacher oder Verwaltungsangestellten kommen nun in großem Ausmaße Arbeiten einschließlich Freizeitbeschäftigungen vor Bildschirmen hinzu und die Inanspruchnahme von Fahrzeugen wie Auto, Bus, Zug, Flugzeug, Rolltreppe oder Sessellift. Vermittler zwischen sitzenden Menschen und angewandter Technik ist die Fernbedienung, wozu auch die Maus des PCs und das Armaturenbrett des Fahrzeugs einschließlich Navigator gehören. Dieser Wandel wird durch entsprechende Technologien ermöglicht. Die Bewegungen des Menschen haben sich auf die Maschinen übertragen. Der Mensch muss sich ihnen anpassen.
Diese Darstellung scheint auf dem ersten Blick Technikkritik zu sein, ist sie aber nicht, sie ist vielmehr eine Kritik der Anwendung, und damit rücken Moral und Verantwortung in den Mittelpunkt. Warum? Die Meinung, dass von der jeweils bestehenden Technik ein großer Zwang ausgehe, ist falsch. Genau betrachtet, existiert der Zwang allein im Nutzer der jeweiligen Technik. Nur er entscheidet in Freiheit, ob er diese Technik einsetzt und jene nicht, und wenn ja, wie er sie nutzt. Ich komme ja auch nicht auf die Idee, meinen Feuerlöscher ständig einzusetzen, obwohl es nicht brennt und erwerbe, wenn ich denn autonom bin, nur das, was ich brauche. So sind der Lastkraftwagen oder das Auto des Arztes sinnvoll, das Privatauto in vielen Fällen eben nicht, der Aufzug im Krankenhaus für Krankentransporte notwendig, für Besucher nicht. Was Stefan Münker über das Internet aussagt, gilt für jegliche Technologie: „Erst der Gebrauch des Internets entscheidet über seine Ausrichtung und dieser kann zu individueller Emanzipation genauso gut wie zu konsumistischer Indifferenz und kapitalistischer Vereinnahmung führen.“ Sich zu entscheiden, setzt Freiheit voraus. Wenn Freiheit nicht an Moral gebunden ist, kann sie verheerend wirken. Negative Beispiele für unverantwortliches Verhalten gibt es in der Vergangenheit, aber auch leider in der Gegenwart viele.
Gänzlich fehl am Platze ist, gegen die Technik an sich zu polemisieren, sie als Gegenpol zum Leben zu bestimmen – Tendenzen, die ich früher auch selbst vertreten habe. Denn Technik gehört zum Wesen des Menschen, und sie zu begrenzen wäre sinnlos. Menschliches Handeln besteht aus Kausalität und basiert auf Freiheit. Befinde ich mich in einem Zimmer und will in den Garten, muss ich zuerst zur Tür gehen, dann die Türklinke runterdrücken und die Tür von mir wegdrücke, die Schwelle überqueren und schließlich den Gartenweg betreten – genau in dieser Reihenfolge. Je nach Ziel wird entweder eine einfache Handlung oder eine Handlungskette durchgeführt. Handlungen haben immer eine kausale Struktur, die einen Algorithmus bildet: Erst muss ich A durchführen, dann B, dann C, … bis ich am Ziel angekommen bin. An unserem Beispiel: Die Handlung „Vom-Zimmer-in-den-Garten kommen“ ist eine Ursache-Wirkungs-Kette. Aber die Kette kann auch einen anderen Verlauf nehmen: Ich gehe aus dem Zimmer durch die Tür, biege aber links ab und lande in der Küche - und eben nicht im Garten. Das heißt, der Mensch hat die Freiheit, die jeweilige Kette zu unterbrechen und eine neue in Gang zu setzen. Denn als Handelnder entscheidet er, wann, wo, inwieweit und wie lange er diese Handlung bzw. Handlungskette durchführt.
Kausalität ist ein Gedankending. Sie kommt in der Wirklichkeit nicht rein vor, ist immer in materiellen Prozessen wirksam: in der Natur, im menschlichen Handeln und in von Menschen geschaffenen Maschinen. Mit Technik wird im allgemeinen Sprachgebrauch die Summe der Maschinen bezeichnet, was aber zu kurz greift: Das griechische „techne“ enthält „Können“, über das ein Mensch verfügt. In diesem Sinne spricht man auch heute noch von der Technik des Sportlers oder von Gesprächstechniken. Es betrifft nicht nur erlernte komplizierte Abläufe, sondern beginnt bereits in dem Moment, wenn ein Affe sein Instinkt geregeltes Verhalten durch die Auswahl kausal geregelter Abläufe einsichtig ersetzt.
Wer Handlungsketten anwenden kann, beispielsweise als Autoschlosser oder als Versammlungsleiter, verfügt ebenso über innere Techniken. Natürlich ist auch das Gehen eine Mischung von Technik und Freiheit. Kinder, die das Gehen erlernen, setzen aber nicht ihre Freiheit ein, sondern müssen zuallererst einmal Techniken erlernen.
Kausalverhältnisse mit Hilfe des Verstandes zu erkennen und innere Kausalität als Handlungsmuster herzustellen und zu praktizieren, sind Wesensmerkmale des Menschen, ja sie konstituieren ihn. Dieses Vermögen markiert den Übergang vom Tier zum Menschen, indem der Mensch sich von seinen Instinkten teilweise löste und durch Handeln ersetzte. In die von ihm durchgeführten Handlungsketten wurden sehr schnell einfache Werkzeuge integriert, die die Effizienz des Handels vergrößerten: Ein Stein als Wurfgeschoss, ein Ast, um Früchte vom Baum runterzuholen, eine Wurzel, um etwas auszugraben. Werkzeuge wurden ständig weiter entwickelt, bis hin zu Maschinen, die schließlich von Motoren angetrieben wurden und so, obwohl vom Menschen geschaffen und überwacht, eine gewisse Selbständigkeit erreichten.
Wenn Handeln also auf innerer Technik beruht und Werkzeuge sowie Maschinen veräußerte Technik sind, Handeln aber das Wesen des Menschen ausmacht, dann wäre die Forderung, grundsätzlich auf Technik zu verzichten, für den Menschen tödlich. Die Menschheitsgeschichte besteht wesentlich darin, die inneren und veräußerten Techniken ständig zu verbessern. Dieser Prozess ist eine Konstante in der menschlichen Evolution und wird in Zukunft nicht aufzuhalten sein - und sollte es auch nicht, denn niemand kann letztendlich entscheiden, ob eine bestimmte Technik heute bereits sinnvoll ist oder erst in Zukunft sein wird.
Jegliche antitechnische Haltung wäre Donquichotterie. Es kommt allein auf die sinnvolle Nutzung oder unter Umständen auf einen Verzicht der Anwendung von äußerer Technik an, wobei allerdings nicht verdrängt werden darf, dass motorenangetriebene Technik immer auf externe Energie angewiesen ist und schädliche Emissionen abgibt. Gerade hier auf dem Feld der Nichtnutzung sollte ein Umdenkungsprozess stattfinden, weil die im Bewusstsein bestehende Koppelung zwischen Bestehen und Anwenden von Technik einen zementartigen Charakter im Sinne von „Das muss ich auch haben“ hat. Eingebettet ist diese Koppelung in die damit zusammenhängende generelle Unfähigkeit bzw. in das gesellschaftliche Tabu, Waren auf deren jeweilige schädliche Folgen hin rational zu kritisieren. Noch weiter gefasst: Glück und Sinn jenseits von Waren denken zu können und damit die absolute Dominanz der industriellen Konsumgesellschaft infrage zu stellen, ist das Gebot der Stunde.

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48. Mit dem Rad von Meran nach Rom mit zwei unvorhergesehenen „Events“


Im Spätherbst 1988 sind wir von Meran nach Rom mit dem Fahrrad gefahren. Die Räder hatten wir nach Meran mit der Bahn vorausgeschickt. Sie kamen aber erst drei Tage später dort an, so dass wir einen dreitägigen Zwangsurlaub in Meran verbrachten, der sich aber als eine Bereicherung herausstellte. Ausgeruht starteten wir. Die erste Station endete zwangsweise schon nach knapp zwanzig Kilometern in Tramin. Hatten wir noch keine Kondition, hatten wir uns verfahren, regnete es? Nichts von all dem. Schuld oder besser Ursache war ein Törgellen-Hof, in dem wir am frühen Vormittag eine Rast machten. Neben einer deftigen Brotzeit gab es da natürlich auch den äußerst bekömmlichen Traminer- Wein. Wir lernten dort nette Menschen kennen, verlängerten unseren Aufenthalt Stunde um Stunde, um schließlich gegen Abend über keinerlei Freiheitsgrade (immer nur ich, nicht Eveline) mehr zu verfügen. Obwohl eigentlich fahruntüchtig, schafften es unsere neuen Freunde, mich unbeschadet, von mir allerdings nicht mehr bewusst nachvollziehbar, auf einen Bauernhof mit Ferienwohnung zu bringen und mich dort ins Bett zu hieven, in dem ich wie neugeboren vierzehn Stunden später aufwachte. Das war übrigens mein einziger „Ausrutscher“ während der ganzen Fahrt - gut, dass ich bereits am Anfang dieses Lehrstück durchmachte. Die zweite Etappe war auch von der Distanz her wesentlich erfolgreicher: Über Trient und Revereto kamen wir in einem Tag bis nach Garda am Gardasee. Von dort ging es weiter über Verona, durch die Poebene nach Florenz und durch die Toskana über Orvieto bis nach Rom. Dass wir durchgängig nur Schönes sahen, verdanken wir auch unserem, auf dieser Fahrt konsequent durchgehaltenen Prinzip „Der Weg ist das Ziel“. Das heißt, dass wir uns immer, wenn Wahlmöglichkeiten bestanden, für den schöneren und damit durchweg autofreien Weg entschieden haben, auch wenn es ein großer Umweg war. Erhebend war das Gefühl, als wir an einem Sonntagmorgen durch die stillen Straßen Roms an der Engelsburg vorbeiradelten. Wir hatten es tatsächlich geschafft – von Meran nach Rom aus eigener Kraft!
Die einzige kleine Enttäuschung – das soll hier auch erwähnt werden - gab es in Viterbo. Nicht die Stadt selbst war es, sie ist faszinierend, auch nicht das Essen, es war köstlich, sondern es hatte einen ganz anderen Grund. Als wir in Viterbo ankamen, war die Stadt von Soldaten förmlich überschwemmt. Vergeblich klopften wir in mehreren Hotels und Pensionen an. Für eine Weiterfahrt war es zu spät. Unsere letzte Hoffnung war die Tourismuszentrale, und wir wurden nicht enttäuscht: Wir bekamen die Adresse eines zentral gelegenen und zudem auch noch sehr preisgünstigen Hotels. Wir also dahin – aber merkwürdigerweise guckten aus jedem Fenster dieses relativ kleinen Hotels lauter Frauen raus. Ebenfalls war der Empfangsbereich voller Frauen ohne Begleitung, die teilweise, aber nur teilweise recht passabel aussahen. Mir schwante sofort etwas, Eveline schwante nichts. Wir waren in einem Bordell gelandet, das wohl aus rechtlichen Gründen einige Hotelzimmer prinzipiell für jeden Gast offen halten musste. Es gab keine Alternative. Aus Sicherheitsgründen, man weiß ja nie, musste ich von innen mit großen Anstrengungen einen nicht kleinen Schrank vor die Tür bugsieren. Das war zwar gar nicht nötig gewesen, denn, obwohl während der ganzen Nacht ständig Gäste kamen und offensichtlich nach nicht zu langer Zeit wieder gingen, wurde kein einziges Mal an unsere Tür geklopft oder gar gerüttelt. Gefrühstückt haben wir dort nicht mehr.

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49. Pilgerwandern in heimatlichen Gefilden


Ich beteilige mich an einer Pilgerwanderung 25 Kilometer südlich von Flensburg. Mit dem Rad fahre ich am Sonntagmorgen zum Treffpunkt. Dazu benötige ich fast eine halbe Stunde, denn Flensburg liegt an einer talförmigen Förde, so dass es anstrengende Steigungen, aber auch gemütliche Abfahrten gibt. Ich habe an diesem Morgen beides. Nun fahren wir mit dem Bus zum Ausgangsort Sieverstedt, wo wir von dem dortigen Pfarrer in einer alten Dorfkirche begrüßt werden. Dann geht es los in Richtung Flensburg durch liebliche Landschaften, die mir bis jetzt unbekannt waren. Unsere Pilgerwanderung besteht aber nicht nur aus reinem Gehen, sondern wir legen zwischendurch Konzentrationsphasen ein, singen und essen gemeinsam, werden informiert in Angesicht eines reich tragenden Apfelbaumes über dessen Früchte in Bezug auf Biologie und Theologie. In den theologischen Betrachtungen steht der Heilige San Franziskus im Mittelpunkt. Alles das wird aber nie aufdringlich, sondern stets in lockerer Atmosphäre vermittelt, in der auch viel geschmunzelt und gelacht wird. Die gegenseitige Waschung der Füße, sofern man mitmachen will, stellt für mich schon eine gewisse Herausforderung dar, aber wenn man erst einmal eine anfängliche Scheu, vielleicht sogar Ekel überwunden hat, wird es ganz einfach und schön und ein Gewinn in Form einer engeren Beziehung zum jeweiligen Partner, in meinem Fall einem älteren Herrn. Auf einem Streckenabschnitt muss eine Zeitlang geschwiegen werden, was mir zu Beginn nicht ganz leicht fällt, aber dann zunehmend auch meine innere Akzeptanz findet. Die gegenseitige Nähe, die sich bald zwischen den Teilnehmern bildet, tut allen gut, zumal sie sich wie von selbst einstellt. Aber der genauere Blick zeigt, dass wirklich alle Teilnehmer sich erfolgreich bemühen, ihren Anteil beizusteuern. Ich lerne viel, nicht nur über Inhalte, sondern auch über das Wie.
Nach sechs Stunden erreichen wir unser Ziel, ein Flensburger Krankenhaus. Dort nehmen wir in der hauseigenen Kapelle an einer kurzen Andacht teil. Den Abschluss bildet ein gemeinsames Essen. An diesem Abend gehe ich früh zu Bett und schlafe fest bis morgens acht Uhr. Trotz des langen Schlafes bin ich tagsüber immer noch müde und sehr steif in den Bewegungen, aber zuversichtlich, dass ich im Laufe des Tages doch noch „gut drauf“ sein werde, was auch eintrifft. Am Nachmittag erfüllt mich sogar eine längere, sehr produktive Phase, was nicht so häufig vorkommt. Übrigens habe ich auch während der Müdigkeitsphase viele schöne Bilder im Kopf.
Das unerschütterliche Wissen, dass sich die Anstrengungen in Form von Behändigkeit, Gesundheit und Sich-wohl-Fühlen einstellen werden, ist vielleicht der Grund, solche Phasen problemlos zu meistern. Das schöne Gefühl „danach“ hängt sicherlich auch – zumindest bei mir – mit dem Wissen zusammen, es geschafft zu haben, eine selbst gestellte Aufgabe erfolgreich vollbracht zu haben. Hinzu kommt, dass die Gruppe ausgesprochen sympathisch war. Durch die gemeinsame Aktivität wurde das Zusammengehörigkeitsgefühl noch verstärkt. Hätte ich dieselben Menschen in anderen Kontexten kennen gelernt, wären diese Wertschätzungen wohl nicht in gleichem Ausmaß entstanden. Und noch eines muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden: Eine lange Wanderung besteht nicht nur aus einer Aneinanderreihung von guten Gedanken. Es schleichen sich auch Gedanken wie: „Wäre ich doch bloß zu Hause geblieben“ oder „Warum müssen die da vorne bloß so schnell laufen“ oder „Kann ich mich jetzt nicht irgendwie elegant vom Acker machen“. Bommi Baumann, einer der 68iger-Aktivisten, sprach sich später gegen so genannte Paradiesinstallateure aus, die Gegenwart oder Zukunft ohne Schatten, Dunkelheit bzw. Zweifel ausmalen. Und er hat Recht mit dieser Kritik, denn selbst bei dem von mir so hoch geschätzten Wandern gilt diese Einsicht. Der liebe Gott hat schlicht den Weg zum Paradies auch mit Hindernissen versehen, die es mit Anstrengung zu überwinden gilt.
Und was ich noch gelernt habe: Pilgerwanderungen müssen nicht erst von den Pyrenäen an beginnen, sondern man kann gleich von zu Haus aus loslaufen.

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50. Klarheit durch Gehen


Während des Schreibens suche ich eine Literaturquelle. Sie ist in einem Buch im anderen Zimmer. Ich begebe mich dorthin, komme zurück - und durch den kurzen Gang sind meine Gedanken nun klarer. Von einem Nobelpreisträger der Chemie habe ich gehört, dass beim Besteigen eines Busses seine entscheidende Einsicht bei ihm einschlug.

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51. Das Fextal im Engadin – ein Wanderparadies


In dem kleinen Bergbauerndorf Radein in Südtirol haben wir schon eine Woche unseres Urlaubs verbracht. Unsere Skier deponieren wir dort fürs nächste Jahr zurück und fahren mit Bus und Bahn bis nach Mals im Vinschgau. Von dort geht es mit dem Postbus weiter durch das Münstertal über den Ofenpass bis nach Zernez im Unterengadin. Wohl wegen der Schneelage ist der Individualverkehr auf dieser Straße stark eingeschränkt und die Landschaft mit den kleinen Dörfern zeigt sich– und das ist aus meiner theoretischen Sicht äußerst irritierend - trotz unseres passiven sitzenden Zustandes in ihrer ganzen Schönheit. Der Wunsch entsteht, diese Schönheit auch irgendwann wandernd zu erfahren.
Sils-Maria und seine Umgebung sind beeindruckend schön, aber das hinter Sils liegende Fextal ist so schön, dass es nicht mit Worten zu beschreiben ist. Dahin muss man selbst reisen und zwar nicht nur einmal, sondern mehrere Male. Das Fextal ist ein geschlossenes etwa zehn Kilometer langes Seitental und endet am Fexergletscher. Dieses Hochtal (rätoromanisch Val Fex genannt) auf fast 2000 m Höhe gehört zu den höchstgelegenen ganzjährig bewohnten Tälern der Schweiz. Das Rätoromanische ist hier sehr lebendig, was ich als friesisch Sprechender - auch eine Minderheitensprache - erfreut wahrgenommen habe. Das Hochtal ist von einem Kranz von Berggipfeln umgeben. Seit Jahrzehnten sind dort keine Gebäude zu dem jahrhundertealten Bestand hinzugekommen, und es ist nahezu autofrei. Durch das Fextal im Winter wie im Sommer zu wandern, ist lieblich und erhaben in einem. Auch wenn man Landschaften nicht vergleichen soll, wie Pestalozzi es auch für Kinder gefordert hat, meine ich, dass dem Schöpfer von Schönem hier etwas Besonderes gelungen ist.
Aufs Fextal bin ich übrigens durch ein Buch des leider sehr früh verstorbenen Philosophen Heinz Dieter Kittsteiner gestoßen, das ein interessantes Ergänzungsverhältnis von Marx und Heidegger rekonstruiert. Kittsteiner hatte dort offensichtlich ein Feriendomizil.
Die Oberengadiner Seen selbst sind im Winter immer zugefroren und bilden zusammen mit ihren Ufern ein wunderbares Laufareal, im Winter auch für Langläufer. Geht man auf ihnen von Sils-Maria in südwestliche Richtung, erreicht man nach etwa zehn Kilometern Maloja. Geht man in nordöstliche Richtung, kommt man nach St. Moritz. Der Besuch des Segantini-Museums in St. Moritz ist geradezu ein Muss. Betrachtet man die dort ausgestellten Bilder des Malers Giovanni Segantini, eröffnet sich eine Dimension dieser Landschaft, die zumindest ich so vorher nicht bemerkt habe. Gleiche eröffnende Wirkung hatte für mich die Lektüre des historischen Romans „Jörg Jenatsch“ von Conrad Ferdinand Meyer, der als der Retter Graubündens im Dreißigjährigen Krieg gilt. Für mich auch deswegen interessant, weil das Nationale damals nicht an eine sprachliche Kultur gebunden war. Übrigens eine Haltung, die nach meinen Erfahrungen in der Schweiz fast durchgängig anzutreffen ist. Mein Fazit: Das Fextal und die Umgebung von Sils-Maria sind ein Paradies für Wanderer und Spaziergänger. Das wusste auch Friedrich Nietzsche, an den viele Orte erinnern. Dass auch Theodor Adorno von Nietzsche motiviert wurde, dieses Gebiet aufzusuchen, ist bekannt.

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52. Beständigkeit und Veränderung


Gertrude Steins auf einen alten Zen-Spruch zurückgehendes Diktum „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ will sagen, dass das Ding, hier die Rose, absolut für sich steht. Es ist keinen subjektiven und objektiven Bedingungen und Prozessen unterworfen, ist weder Konstruktion noch perspektivisch konstituiert, noch eine momentane Zustandsform in einem evolutionären Prozess. Man kann das Ding hin und her wenden, letztlich bleibt es doch, was es ist. Alle relativierenden Einwände prallen an diesem Diktum ab. Es ist trotzig gerichtet gegen Heraklits „Alles fließt“ und gegen seine modernen Abwandlungen einschließlich der niveaulosen Variante „Alles fährt, fährt und fährt“.
Beim Gehen sind Beständigkeit und Veränderung paradoxerweise gleichermaßen als Einheit vorhanden: Im und durch das Gehen verändern sich durch die Willenskraft und Anstrengung eines Ichs ständig Straßen und Landschaften, während das Ich in einer eigentümlichen Weise unverändert bleibt. Beim Gehen entsteht daher größtmögliche Sicherheit, dass ich es bin, der da geht und dass dieser Weg in dieser Landschaft real ist.

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53. Ein Vergleich


Wir kaufen gerne in unserer Innenstadt ein. Dort sind die Geschäfte über den ganzen Innenstadtbereich verteilt, deswegen sind die Wege hier länger. Auch gehe ich, wenn ich schon einmal dort bin, die Einkaufstraße bis zu ihrem Ende und wieder zurück. So entsteht immer ein wirkliches Stück Laufen.
Zu den Einkaufszentren, die zumeist an der Peripherie der Stadt oder in Industriegebieten liegen, ist es schon wesentlich schwieriger, zu Fuß oder mit dem Rad hinzugelangen. Deswegen fahren alle, die ich zumindest kenne, mit dem Auto dorthin. Das hat den Vorteil, dass das Gehen minimiert wird. Lediglich der Weg vom Parkplatz, wenn es ganz arg kommt, kann hundert Meter lang sein. Die Betroffenen haben die nicht ganz unbegründete Hoffnung, dass man dort bald horizontale Lauftreppen installieren wird, damit unnötiges Gehen der Vergangenheit angehört. In den Zentren mit mehreren Ebenen, die durch Rolltreppen verbunden sind, sind die Wege die denkbar kürzesten.

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54. Vom Königssee zum Spitzingsee


Wir wandern vom Königssee zum Spitzingsee. Das klingt vielleicht ziemlich gewaltig, ist es aber für uns nicht. Routenführung und der Umfang der jeweiligen Tagestouren sind moderat, denn wir sind keine Sportler, keine habituellen Wanderer, sondern gehören eher in die Kategorie Spaziergänger im fortgeschrittenen Alter. Aber es stimmt, wir gehen gerne. Im Rucksack ist alles Notwendige. Er ist zwar nicht ganz leicht, aber dadurch bekommt die ganze Tour einen Touch von Ernsthaftigkeit und Professionalität. Vom Norden über München mit dem ICE kommt man problemlos weiter nach Berchtesgaden mit einem vorzüglichen ausgebauten Nahverkehrssystem. Wir sind von dort jeden Tag nie mehr als zwanzig Kilometer gelaufen. Von den durchwanderten Orten hat uns Bayrischzell am stärksten angerührt. Ich habe das Ensemble von Kirche, Rathaus, traditionellem Gasthaus und den „Zellerhof“ noch ständig vor Augen. Beispielhaft sei der letzte Tag unserer Wanderung von Bayrischzell zum Spitzingsee etwas genauer beschrieben: Vom Ortskern aus gehen wir am Waldrand ca. drei Kilometer bis nach Osterhofen. Von dort führt der Weg dann hoch zur Rotwand (1884 m) vorbei am Soinsee, einem sehr stillen und idyllisch gelegenen See, in dem einige Jugendliche baden und an dessem Ufer viele Wanderer und Spaziergänger rasten. Der markierte Weg führt nun über die Großtiefenthal-Alm zum ultimativen Aufstieg zum Rotwandhaus. An einer Hütte bekommen wir klares Quellwasser zu trinken. Insgesamt ist der Anstieg sehr anstrengend, aber auch unbeschreiblich schön, für uns schon etwas Besonderes. Das Rotwandhaus ist rundum voller Menschen. Alle sind offensichtlich gut drauf, viel Lachen und glückliche Gesichter. Selbst junge Eltern mit Kinderwagen, überhaupt viele Kinder sieht man. Wir gönnen uns, zwei Stunden lang bei großer September-Hitze (!) entspannt an der Hüttenwand zu sitzen und den Quarkkuchen von absoluter Spitzenqualität mehr zu verschlingen als zu essen. So ausgeruht und gestärkt gehen wir in bemerkenswerter Behändigkeit und topfit in zweieinhalb Stunden bequem auf der Via Alpina zum Spitzingsee bergab. Wir übernachten sehr nobel im „Arabella-Hotel“, das wir von früher her noch kennen. Obwohl es auch die Möglichkeit gibt, in diesem kleinen Weiler weniger luxuriös zu übernachten, meinten wir, das verdient zu haben.
Allgemein sei noch hinzugefügt: Das Kartenmaterial ist sehr hilfreich, zumal die Strecken gut ausgeschildert sind. Es gibt keine realen unübersteigbaren Hindernisse, die offensichtlich nur in den Köpfen bestehen. Diese Tour kann jede und jeder durchführen. Und: Auf einer solchen Wanderung erfährt man viel von der Welt und über sich selbst. Viel mehr als auf einer All-Inklusivtour nach Lanzerote oder auf einer Autofahrt von Hamburg nach Sizilien.

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55. Woher kommen unnötige Selbstbegrenzungen?


In einer Pension erzählen wir einem Ehepaar in mittleren Jahren, dass wir gerade eine mehrtägige Wanderung von Ort zu Ort machen. "Das stelle ich mir toll vor, aber das könnte ich nicht", bemerkt die Ehefrau anerkennend, und er nickt zustimmend. Welche innere Sperre wirkt in ihren Köpfen, und wer hat sie implantiert?

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56. Eigenbewegung – Anstrengung - Wachstum


Ich strenge mich mit aller Kraft über einen längeren Zeitraum stark an, bin danach erschöpft und ruhe mich, falls möglich, aus. Und nun tritt das Unerwartete ein, das man während der Erschöpfung für unmöglich hielt: Man ist wieder topfit, vielleicht sogar besser gestimmt als vorher. Dazu mein Modell: Körperliche und geistige Anstrengungen verbrauchen Energie, die im Körper gespeichert ist. Der Körper verhält sich nahezu wie ein Schwamm, der eine bestimmte Menge Wasser aufsaugen kann. Aber im Unterschied zum Schwamm kann der Körper durch Beanspruchung ständig seine Speicherkapazität vergrößern, allerdings tritt dann auch hier eine absolute Grenze auf. Das ist das, was man gemeinhin mit Wachstum bezeichnet. Eine Maschine steigert ihre Fähigkeiten nicht durch Gebrauch, sie kennt eben kein Wachstum. Wachsen kann nur ich alleine, keiner kann mir diese Aufgabe abnehmen. Andere können allerdings gute Bedingungen für diesen Prozess schaffen, damit er mir gelingt. Wachstum ist etwas durch und durch Eigenes. Es kommt alles darauf an, das zu begreifen. In der Eigenbewegung findet also ein sich selbst verstärkender Prozess statt, in dem Körper und Geist zusammen „gewinnen“.

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57. Der sich bewegende Leib muss immer wieder lernen


Im Urlaub laufen wir viel. Am ersten und zweiten Tag bewege ich mich noch ziemlich steif und angestrengt, erst danach gibt mein Körper seinen Widerstand auf und wird behände, und er erfreut sich offensichtlich dieses Zustandes.

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58. Ein Juwel im Mittelmeer - die Insel Porquerolles


Für längere Urlaube suchen wir uns möglichst Gegenden aus, die relativ wenig von Autos belastet sind. Deswegen waren wir vor zwei Jahren auf der kleinen französischen Mittelmeerinsel Porquerolles, die in unmittelbarer Nähe von Hyère und Toulon liegt.
Von Frankfurt am Main fahren wir über Paris mit dem TGV weiter nach Marseille und von dort nach Hyère. Der TGV durchrast die Strecke Paris-Marseille in dreieinhalb (!) Stunden - und ich denke mit Wehmut an Heinrich Heines Diktum anlässlich der Eröffnung der Eisenbahnlinie von Paris nach Rouen im Jahre 1843, wo er vom Töten des Raumes spricht.
In Hyère übernachten wir in einem kleinen Gasthof aus dem vorvorherigen Jahrhundert im Zentrum der Altstadt. Wir sind angemeldet, und weil es sehr spät ist, bekommen wir die Zimmernummer im Voraus zugewiesen, die wir ohne Hilfe auch finden. Welches Vertrauen!
Am anderen Morgen geht es mit dem Bus zum Fähranleger. In knapp einer halben Stunde erreicht das Schiff den einzigen Ort der gleichnamigen Hauptinsel Porquerolles. Diese Insel, so erzählt man uns, sei gewissermaßen eine kleine Version von Korsika. An der Südseite eine imposante Felsenküste, an der Nordseite kleine Badebuchten. Die ganze Insel steht unter Naturschutz. Für Touristen sind Autos und jede Art von Motorrädern verboten, was jedoch nicht für alle Einheimischen gilt. Kleine und kleinste Strecken werden von ihnen mit staubigen Altautos und Mopeds zurückgelegt. Ein Beleg, welch irrationale Macht die Motoren über Menschen ausüben. Aber insgesamt ist der Verkehr sehr eingeschränkt. Das Fahrrad dominiert eindeutig als Verkehrsmittel. Interessant ist, wie man hier doch insgesamt problemlos nicht nur mit einem nahezu motorenlosen Leben zurechtkommt, sondern wie viele Momente an Lebensqualität sich einem dadurch eröffnen. Um nur ein Beispiel anzuführen: Morgens der Weg zum Bäcker ist schlicht ein durchgängiger Genuss. Er führt über den Kirchenvorplatz quer durchs Dorf. Von weitem steigt der Geruch von frisch gebackenem Brot betörend in die Nase. Der Bäcker, der mich nach dem dritten Tag schon erkennt, hört sich gutmütig lachend mein reduziertes, genauer mein extrem spärliches Französisch an. Der tägliche Weg zum Badestrand (ca. 4 Kilometer) oder die Wanderungen über und rund um die Insel sind unvergesslich ins Gedächtnis eingebrannt. Genannt werden müssen auch die abendlichen Spaziergänge durch den Ort und der Aufenthalt auf dem öffentlichen Platz vor der Kirche, wo wir Gruppen beim engagierten Boulespielen beobachten können. Ein wunderschöner, unaufgeregter, Event-freier Urlaub.

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59. Zu Fuß oder mit dem Rad?


Die Hauptformen der Eigenbewegung sind Gehen und mit dem Rad fahren. Zwischen beiden bestehen Identitäten und Differenzen. Beide ermöglichen Ortsveränderungen größeren Ausmaßes und verlangen persönlichen Einsatz und Anstrengungen. Wenn man vom Wegebau absieht, belasten beide Mobilitätsarten nicht die natürliche, kulturelle und soziale Umwelt. Für die soziale Umwelt stellen sie sogar einen Gewinn dar. Man sieht und wird gesehen, die Möglichkeiten für ein kurzes oder längeres Gespräch sind ständig vorhanden, ja werden geradezu provoziert: Es ist fast unmöglich, aneinander vorbeizugehen, ohne sich gegenseitig wahrzunehmen.
Beim Gehen verfügt man über mehr Freiheitsgrade, weil der Körper, von Schnelligkeit und Ausdauer abgesehen, mehr kann als ein technisches Gerät wie ein Rad oder gar ein Auto. Der Körper kann sich jederzeit nach allen Richtungen hin bewegen. Er überwindet in der Regel problemlos Hindernisse in Form von Zäunen, Löchern, umgefallenen Bäumen, unsicheren Untergrund, enge Durchgänge, unregelmäßige Steigungen usw. Wenn diese Hindernisse vorhanden sind, muss der Fußgänger bei jedem Schritt aufmerksam sein.
Beim Radfahren, hier vom Mountain-Bike abgesehen, sollte der Weg möglichst hindernisfrei und eben sein. Dadurch wird eine relativ beständige und gleichmäßige Fortbewegung ermöglicht. Andererseits findet aber kein direkter Kontakt mit dem Untergrund statt. Das Rad ist die direkte Umwelt: Man sitzt im Sattel und tritt in die Pedalen.
Wo man eigentlich nur zu Fuß gehen kann, sollte man nicht Rad fahren. So ist es richtig, das Radfahren in Fußgängerstraßen wegen der Menschendichte zu untersagen. Denn der Radfahrer hat einfach nicht so viele Möglichkeiten der Feinbewegungen und des schnellen Reagierens wie ein Fußgänger.
Gehen setze ich auch mit Eigenbewegung gleich oder verwende es als Metapher für Selbsttun.

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60. Zeit und Geld sparen


Wir haben in unserer Nähe ein Lebensmittelgeschäft von mittlerer Größe, wie man sie immer noch in einigen Stadtteilen findet. Aber sie sind gefährdet, denn die Mehrzahl der Bewohner dieser Stadtteile kauft nur noch in Großmärkten ein. Wir nicht. Allein aus Zeitgründen lohnt es sich: Zu Fuß sind es fünf Minuten, mit dem Rad zwei. Wenn viel eingekauft wird, nehmen wir das Rad - also auch vom Tragen her keine Probleme. Unter dem Strich wird es auch nicht teurer.

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61. Zu Fuß auf Spurensuche in Schleswig-Holstein


Im Rahmen meiner Tätigkeit in der Lehrerausbildung musste (genauer: durfte) ich Studierende während ihrer Hospitationen in Schulen in ganz Schleswig-Holstein besuchen. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen bin ich immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den jeweiligen Veranstaltungen gefahren und habe auch oft zwei Hospitationen zu einer Einheit von zwei Tagen zusammengelegt. So auch in Dithmarschen in Burg und in Brunsbüttelkoog, die ca. zwanzig Kilometer voneinander entfernt liegen. Gegen Mittag hatte ich meine Aufgabe in der Schule in Burg beendet und begab mich auf Spurensuche.
In Burg hatte mein Vater vor dem Krieg in zwei Schlachtereien gearbeitet und oft von dieser Zeit erzählt. Einer dieser Betriebe war inzwischen abgerissen worden, der andere bestand offensichtlich noch im Originalzustand. Zwar konnte sich dort keiner mehr an meinen Vater erinnern, aber trotzdem war es ein schönes Gefühl zu wissen: Dort hat er vor sechzig Jahren gearbeitet, vielleicht an diesem Tisch gestanden und durch diese Tür Würstchen in den Laden gebracht.
Auf meinem Fußmarsch nach Brunsbüttelkoog war die nächste Station das bereits vorgestellte Dorf Averlak, mein Kindheitsparadies. Tante und Onkel waren schon lange tot, der Gasthof verkauft und aus meiner Sicht sehr zu seinem Nachteil umgebaut worden. Der idyllische, etwas tiefer gelegene Garten mit altem Baumbestand war aufgeschüttet worden und diente nun als Parkplatz für Baumaschinen. Zudem war die ursprünglich ruhige und typische Dorfstraße nun eine stark befahrene Autostraße. In dem Maße wie ich mich damals geborgen fühle, fühlte ich mich jetzt einsam und verloren. Deswegen bin ich wohl schnell weiter nach Westerbüttel gelaufen, wo das Geburtshaus meiner Mutter lag, in dem sich ursprünglich ebenfalls eine Gastwirtschaft befand. Auch hier wieder Veränderungen zum Schlechten hin, nämlich rein funktionaler Umbau zu Übernachtungsmöglichkeiten für Arbeiter der inzwischen dort entstandenen Industrieanlagen. Aus der ursprünglich ruhigen Kreuzung zweier Dorfstraßen mit Ziegelsteinpflasterung waren große asphaltierte Verkehrsstraßen geworden. Aber in diesen Wahrnehmungen sind offensichtlich auch subjektive Faktoren am Werk: Das Geburtshaus meiner Mutter liegt nämlich an einem so genannten Fleet, der den dahinter liegenden Garten begrenzt. In ihm haben wir gebadet, auf Holzflößen gerudert und im Winter auf dem Eis gespielt. Er hatte die Ausmaße eines mittleren Flusses – so jedenfalls in meinen Erinnerungen. Jetzt musste ich zweimal hingucken. Hatte ich mich geirrt? Vor mir lag lediglich ein ganz gewöhnlicher Graben von zwei bis höchstens drei Metern Durchmesser. Zu der Täuschung kam jetzt noch eine Enttäuschung hinzu: Das Konfektionsgeschäft, der Schmied, der Schlachter, zwei andere Gasthöfe und zwei mir damals bekannte Lebensmittelgeschäfte waren verschwunden, auch hatte sich die Zahl der intakten Bauernhöfe drastisch verringert.
Etwas erschöpft, aber voller schöner und trauriger Bilder, kam ich dann abends in Brunsbüttelkoog an, wo ich bei den Eltern einer Studierenden schlafen konnte, um am nächsten Morgen pünktlich in der dortigen Schule auf der Matte zu stehen – übrigens waren die gehaltenen Stunden den Studierenden sehr gut gelungen. Aber warum diese Geschichte überhaupt? Durch sie will ich sichtbar machen, dass man aus einem relativ kurzen, zielorientierten Aufenthalt sehr viel machen kann und sollte. Insbesondere, wenn man zu Fuß geht.

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62. Spontane Begegnungen ermöglichen


Ich trete gerne spontan mit Menschen in Kontakt – allerdings nicht zu lange. Auch hier gibt es ein Optimum. Beim Gehen stehen die Chancen des zufälligen Treffens hoch: Sei es der Nachbar, der in seinem Vorgarten beschäftigt ist, sei es die Bekannte, die mit dem Bus von der Arbeit kommt, sei es die junge Mutter, die mit dem Kinderwagen spazieren geht. Diese Gelegenheiten führen zwar nicht automatisch zu einem Gespräch oder einer kurzen Bemerkung, aber sie schaffen notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür. Dagegen treffen Autofahrer nur im Unfall aufeinander, denn ein funktionierendes Autosystem führt die Menschen aneinander vorbei – wie die Elektronen um den Atomkern, die sich ja auch nie kennen lernen.

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63. Eine andere Art des üblichen Reisens – Hybrid aus Schiff, Zug, Bus und Gehen


Unsere beiden Enkelkinder Johanna, sechs Jahre, und Matthies, vier Jahre alt, wohnen im Alten Land bei Hamburg. Für eine Woche lang wollen sie uns in Flensburg besuchen kommen. Wie organisieren wir das? Nicht, wie üblich, mit dem Auto werden sie abgeholt, sondern viel interessanter: Es gibt zwischen Finkenwerder und Hamburg-Landungsbrücken eine regelmäßige Fährverbindung, die im Viertelstundentakt verkehrt. Frisch herausgeputzt stehen die Kleinen mit den Eltern an der Anlegestelle in Finkenwerder und winken mir aufgeregt zu. Die „Übergabe“ erfolgt blitzschnell, weil die Fähre sofort wieder nach Altona zurückfährt. Wir gehen natürlich auf das Oberdeck, um alles besser zu überblicken. Die Barkasse fährt langsam an Blankenese, Oevelgönne, an den Ent- und Beladungsstationen der Hafenanlage und der Werft Blohm und Voss vorbei. Auf der Elbe selbst fällt insbesondere ein riesiges Containerschiff ins Auge. All das ist neu, aufregend und interpretationswürdig. Brause und eine Schachtel Pommes, die die Kinder selbständig unter Deck kaufen, sorgen für die nötige Stärkung, um die Fülle der Eindrücke zu verarbeiten, denn auch geistige „Arbeit“ macht hungrig. An den Landungsbrücken verlassen wir die Fähre und müssen mehrere Brücken zur dortigen S-Bahn überqueren. Eine ältere Dame nimmt ihre Einkaufstasche auf den Schoß, so dass wir drei auch Platz zum Sitzen haben. Der Höhepunkt ist hier allerdings ohne Zweifel ein älterer Mann mit einem kleinen Boxer. Da gibt es viel zu gucken, zu streicheln und zu fragen, so dass die kurze Fahrt wie im Flug vergeht. Im Hamburger Hauptbahnhof müssen wir durch ein Gewirr von Tunneln voller hastender Menschen zu unserem Zug eilen, denn der fährt in kürzester Zeit los. Gar nicht so einfach, aber wir schaffen es, wenn auch etwas erschöpft, ja wir sind sogar fünf Minuten früher da. Und wir haben Glück, denn wir ergattern im Zug sogar noch Fensterplätze und einen Tisch. Wieder ein Grund, sich zu freuen, denn der Zug ist zuletzt rappelvoll. Wie viele unterschiedliche Menschen es doch gibt: Angestellte im Anzug, eine Gruppe von Frauen aus der Provinz, die in der Großstadt eingekauft haben, ein türkisches Paar in westlicher, ein anderes türkisches Paar in traditioneller Kleidung. An einer Station steigen zwei „Gruftis“ ein und eine Gruppe um einen Rentner, der ursprünglich – wie er uns erzählt – in Russland gelebt hat. Er ist in Begleitung seiner hübschen Tochter und ihres Mannes sowie deren noch hübscheren Tochter, die alle aus St. Petersburg zu Besuch gekommen sind, und die er zu einer Fahrt an die Elbe und Alster eingeladen hat. Zwei Stationen später setzt sich ein Skinhead - zumindest im Outfit - zu uns und löst bei einigen leichte Irritationen aus, die sich aber schnell legen, da er sich im Verhalten von anderen nicht unterscheidet. Mit großen Augen und leicht geöffneten Mündern nehmen Johanna und Matthies diese ihnen unbekannte Welt zur Kenntnis. Zuerst fremdeln sie, nehmen aber doch im Laufe der zweistündigen Fahrt Kontaktangebote willig auf. Aber nicht nur die Mitmenschen im Zug sind interessant, sondern auch die Städte und Landschaften, die wir durchfahren, zu denen ich als geborener Schleswig-Holsteiner viel Allgemeines und Familiäres erzählen kann. Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Kinder nicht alles interessiert, aber doch aus Höflichkeit meine Ausführungen zur Kenntnis nehmen. Emotionaler Höhepunkt der Fahrt, zumindest für mich, ist die Eisenbahnbrücke in schwindelerregender Höhe über den Nord-Ostsee-Kanal, weil ich bereits als kleines Kind bei Fahrten über dieser Brücke Angst hatte, die immer noch in mir schlummert. Wenn die Kinder aber beruhigend meine Hände streicheln, legt sich das Unbehagen. Auf dem Flensburger Bahnhof erwartet uns schon die strahlende Omi, die allerdings nicht mich – wie es eigentlich sein müsste -, sondern zuerst einmal die Enkelkinder in die Arme schließt. Wir verlassen den Bahnhof, steigen in einen Bus und legen das letzte Stück Weg bis zu unserem Haus zu Fuß zurück – ständig von der Fahrt, aber auch von anderen wichtigen Dingen erzählend.
Obwohl die eigentliche Fahrt überwiegend aus Gefahrenwerden bestand, sind wir eine beträchtliche Strecke über Treppen, Tunnel, Bahnsteige und von der Bushaltestelle nach Hause gelaufen. Zusätzlich bewegten wir uns auf dem Schiff und im Zug. Kein Wunder, dass bei dieser Häufung von vielen Eindrücken und Bewegung zwischen zwei Stationen ein Nickerchen gehalten wurde. Vergleicht man diese Fahrt mit einer Autofahrt von Haus zu Haus, wird einem die ungeheure Reduktion von Eindrücken und Kontakten erst richtig deutlich.

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64. Der Syntagmatos Platz in Nàfplion


Der Markusplatz in Venedig ist ästhetisch perfekt, die Piazza del Plebicito in Neapel und die Piazza del Campo in Siena sind ebenfalls imposant, aber diese und alle anderen in der Welt können dem Syntagmatos Platz in Nàfplions Altstadt nicht das Wasser reichen. Er ist für uns der schönste. Warum?
Es sind sicherlich nicht seine Größe, er ist eher klein, auch nicht die Häuser, die ihn umstehen, auch nicht der venezianische Bau, der nun das archäologische Museum beherbergt und auch nicht die Moschee aus der türkischen Zeit, die jetzt ein Haus der Kunst ist. Schon eher sind es die Restaurants und Cafes, genauer der geschlossene, zwanzig Meter breite Gürtel aus Tischen, Stühlen und Sofas, die an der Nordseite vor den Lokalen aufgestellt sind. Mittags, wenn der Platz direkt unter der hoch stehenden Sonne liegt, ist er nahezu leer. Es herrscht dann eine Leere, wie man sie von den Gemälden Edward Hoppers kennt. Erst abends, und nur für diese Tageszeit gilt unser obiges Urteil, werden Gebäude und Platz einschließlich der gesamten Altstadt durch die vielen Menschen zu ihrer Schönheit erhoben. In den schmalen Gassen dominieren Touristen, aber auf dem Platz selbst ist das Verhältnis zwischen Einheimischen und Touristen zumindest ausgeglichen. Die griechischen Familien nehmen ihre Kinder abends dorthin mit. Während die Eltern meistens in größeren Verbänden vor den Cafes essen und trinken, verwandeln ihre Kindern den Syntagmatos Platz von früh abends bis Mitternacht in einen Spielplatz. Eine ideale Situation für Kinder und Eltern: Die Eltern haben ihre Kinder im (oft stolzen) Blick. Die Kinder können jederzeit an den Platz der Eltern zurückkehren, was übrigens so gut wie nie passiert. Wenn aber doch, dann nur für kürzeste Zeit, weil der „Spielplatz“ offensichtlich eine magische Anziehungskraft besitzt, dass selbst die schönste und voller Liebe für ihr Kind erfüllte Mutter mit ihm nicht konkurrieren kann. Wenn ein Kind gerade in der Lage ist, den Kinderwagen selbständig zu verlassen, nimmt es sofort Kurs auf in Richtung „Spielplatz“. Auf ihm wird Fußball, Tick Fangen, Klettern auf einem Denkmal gespielt. Es herrscht ein wildes Durcheinander, aber es gibt keine ernsthaften Konflikte, Verletzungen oder sonstiges Ungemach. Die Erwachsenen greifen nie ein. Kommt trotzdem, was sehr selten zu beobachten ist, ein weinendes Kind zur Mutter gelaufen, um sich von dieser tröstend in die Arme nehmen zu lassen, setzt bereits mit der ersten Berührung ein unglaublich schnell verlaufender Heilungsprozess ein. Noch während der Schluchzphase gucken die „Verletzten“ bereits wieder interessiert hoch auf das Treiben auf dem Platz. Und spätestens zwei Minuten später verlassen sie ungebührlich schnell und ungestüm – zumindest nach Meinung der Tröstenden – die schützende Umklammerung und stürzen sich jauchzend erneut ins Kindergetümmel.
Aus der Beobachtungsperspektive, für die Kinder gewissermaßen unsichtbar hinter Sonnenschirmen und Eltern versteckt, kann man in Ruhe wahre Kinderstudien betreiben. Alle Charaktere sind vortreten: Der Schüchtern-Ängstliche, die Bescheidene, der Guterzogene, die Draufgängerische, der Sportliche, die Kreative, der Gemeinschaftsorientierte, die Ausdauernde, der Schmetterlingsartige, die Eingreifende oder der Beobachtende. Man sieht, wie Gruppen entstehen und sich auflösen, wie Abgrenzungen durchgesetzt werden und wie sie durchlöchert werden, wie erste Regeln entstehen und eingehalten bzw. nicht eingehalten werden und wie damit umgegangen wird. In jedem Kind scheint eine Haltung zu existieren, die man mit „Hier bin ich Kind“ umschreiben könnte. Für sie gibt es nur andere Kinder. Spielzeuge aller Art sind nicht vorhanden. In unserer Gesellschaft eine reale Utopie.
In Nàfplions Altstadt dominiert der Mensch: Auf dem Syntagmatos Platz die Kinder, in den Gassen die Erwachsenen, ob sie durch die schmalen Gassen schlendern oder an einfachen Tischen vor den Restaurants sitzen. Zu diesen „konkret-sichtbaren“ Menschen gehört auch ein junger Mann, der wie ein übermütiger Geißbock springend voller Glück auf einer Treppe aus dem Dunkeln herunterkommt, dem etwas später ein leicht derangiertes, aber verträumt lächelndes Mädchen folgt. Und der Boutiquebesitzer muss erwähnt werden, der voller Innigkeit von seinem Freund aus Deutschland erzählt, der jedes Jahr nach Nàfplion kam und jetzt in Hamburg auf dem Ohlsdorfer Friedhof liegt. Von dieser Grabstätte zeigt er mir ein Foto einschließlich eines Lageplans. Dieser Freund befehligte während des Krieges eine deutsche Einheit in Griechenland und hatte mit Hilfe von Einheimischen in einem abgelegenen Dorf, ohne schuldig zu werden, seine Einheit durch den Krieg gebracht. Oder ein junger Grieche, der in einem Laden dabei ist, als ich nach dem Kult-Film „Rembetiko“ von Kostas Ferris aus dem Jahr 1983 frage und ihn nicht bekomme. Der junge Mann bietet sich sofort an, am nächsten Tag hier als Geschenk eine Kopie zu hinterlegen. Am folgenden Abend hole ich die Kopie ab und lasse eine Flasche Wein zurück.
Jeden Tag gehen wir den neu eingerichteten Uferweg von Nàfplion zum etwa fünf Kilometer entfernten Karathóna-Strand. Er führt an hohen Felsen vorbei, wobei man bei Temperaturen von über vierzig Grad im gleißenden Sonnenlicht eine alte griechische Galeere zu sehen vermeint. Ein nahezu mystischer Weg, nur von sehr wenigen begangen, was wir nicht verstehen.
Nach Griechenland darf man eigentlich nicht, nach Nàfplion schon gar nicht mit dem Flugzug anreisen. Denn Nàfplion muss man sich langsam nähern: Mit dem Zug durch Italien bis nach Venedig bzw. Ancona, von dort mit dem Schiff bis Patras und dann mit einem der öffentlichen Busse über Korinth bis nach Nàfplion – so kommt auch die Seele mit.

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65. Barfuß


Barfuß gehen ist eine wichtige Weise des Gehens, die ich noch zu wenig praktiziert und reflektiert habe. Das hängt wohl mit meiner Sozialisation in einem bäuerlich-handwerklichen Milieu zusammen. Zumindest bei uns lief keiner barfuß.

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66. Einheit von Mensch und Umwelt – Erlebnisintensivierung durch Eigenbewegung


Es trifft nicht den Punkt, wenn man sagt, der Mensch befindet sich immer in einem bestimmten Raum und einer bestimmten Zeit. Nein, er ist Teil eines bestimmten Raumes und einer bestimmten Zeit: Mensch und jeweilige Umwelt bilden eine untrennbare Einheit. Die Intensität dieser Einheit wird allein von der Stärke der körperlichen und geistig-seelischen Aktivitäten, sprich Eigenbewegung des jeweiligen Menschen bestimmt. Der Intensitätsgrad des Erlebens beeinflusst stark den „Wirkungsgrad“ der erfahrenen Welt. Beim Wandern wird die Landschaft, beim Gehen wird der Untergrund, beim Tanzen wird der Tanzpartner, beim Lesen wird der Inhalt der Lektüre deswegen intensive, lebendige Wirklichkeit, weil das Ich aktiv ist. Umgekehrt werden durch Fremdbewegungen und beim oberflächlichen Medienkonsum das Ich und das, was ihm begegnet, unlebendig, uneigentlich, schattig, fade. Das gilt grundsätzlich für alle Beziehungen: Wenn Geist und Körper von der jeweiligen Umwelt nicht ergriffen werden bzw. wenn umgekehrt Geist und Körper sich nicht der Umwelt intensiv zuwenden, entstehen keine Beziehungen, sondern Leere und ein Unbehagen, das sich in dem Ahnen ausdrückt: „Da muss doch noch etwas mehr sein.“ Es findet also ein wechselseitiger Rückzug statt: Das Ich zieht sich aus der Welt zurück und die Welt aus dem Ich.

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67. Eine alte Tradition: Zu Fuß rund um Föhr


Auf Föhr, wo wir fast zwanzig Jahre gelebt haben, gibt es die Tradition, am Himmelfahrtstag rund um die Insel zu laufen. Das sind immerhin 36 Kilometer. In der Regel brennt die Sonne an diesem Tag unbarmherzig vom Himmel runter, oder es regnet in Strömen. Ein Drittes gibt es nicht. Teilnehmer sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Gruppen und als Einzelläufer. Zeitvorgaben gibt es nicht, auch nicht einen Zuspruch von Eltern oder mitleidigen Mitmenschen während der Wanderung. In der Regel wird die ganze Insel umrundet. Aber die Strecke wird auch unterteilt oder gar auf ein Drittel reduziert, wie böse Zungen behaupten. Auch gibt es das Gerücht, dass die Insel am Tag zweimal umrundet worden sei. Man sieht, insgesamt geht man sehr locker mit dieser Tradition um. Früher, so erzählt man, war die Tour nicht ganz gefahrlos, denn in jedem Dorf gab es eine Gruppe Jugendlicher, die versuchten, grund- und ankündigungslos Läufergruppen aus anderen Dörfern zu verprügeln. Wenn der Angriff allerdings auf einer fehlerhaften Analyse der Kraft- und Machtverhältnisse gründete, wurden aus den Tätern Opfer. Aber das konnte die große Teilnehmerzahl am Rund-Föhr-Lauf schon damals nicht verringern, die auch heute noch unvermindert groß ist. Vom Augenschein her scheint weit mehr als die Hälfte aller Föhrer an diesem Tag sich auf dem Deich zu befinden. Es ist schon seltsam, 36 Kilometer zu gehen, ist ja kein Pappenstil. Trotzdem hat meines Wissens nach bisher kein Läufer diese Länge kritisiert. Sie wurde und wird mit Recht als selbstverständlich akzeptiert. Ich denke in diesem Zusammenhang an unsere damals zehnjährige Tochter, die nicht gerade sehr lauffreudig war – im Gegensatz zu ihrem Papa. Das Gesicht schon von der Sonne stark gerötet und den Rat der besorgten Mutter, den Lauf aufzugeben, ignorierend, mühte sie sich die letzten zehn Kilometer bis zum Ausgangspunkt, der ja wegen der Form der Insel auch Ziel war – und schaffte es. Nach einjähriger Erholungspause war sie im nächsten Jahr wieder dabei, allerdings dauerte dieses Engagement nur bis zur Pubertät.
Offensichtlich lässt sich die breite Beteiligung am Rund-Föhr-Lauf nur durch seine selbstverständliche Einbindung in den Ablauf der jährlichen festlichen Ereignisse auf unserer Insel erklären. Jeder lauffähige Föhrer beteiligt sich wie gesagt an dieser Tour oder hat sie zumindest schon mehrmals mitgemacht. Hinzu kommt, dass in diesem Lauf ein starkes kollektives Moment steckt: Man läuft in der Gruppe, überholt bzw. wird ständig von anderen Läufern überholt, die man in der Regel auch mehr oder weniger gut kennt, um ein freundliches Wort oder einen Scherz mit ihnen zu tauschen. Man ist trotz der langen Strecke geborgen. Und man weiß, man leistet Ungewöhnliches.

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68. Eine kompetente Quelle


Hinweis der Deutschen Herzstiftung anlässlich des Weltherztages: "Sinnvoll ist daher, körperliche Bewegung in den Tagesablauf einzubauen: Berufstätige könnten ihre Pause für einen Spazierung nutzen, öfter die Treppe statt des Aufzugs nehmen oder mit dem Rad zur Arbeit fahren.“

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69. Von der Insel Hydra lernen


Nachts hört man nur einige bellende Hunde, sonst nichts. Am Tag ist Hydra ebenfalls sehr ruhig, fast wie ausgestorben. Ab dem späten Nachmittag beginnt sich der gleichnamige Hauptort erst mit Menschen zu füllen. Die weiß gestrichenen traditionellen griechischen Häuser sind ohne zwanghaft dazwischen geschaltete moderne Architektur im einzelnen und als Ensemble ästhetisch. Der Ort und die Insel sind perfekt: Keine Autos, alles wird auf Eseln oder zu Fuß transportiert – und es geht. Es ist einfach erstaunlich, wie schnell man selbst und offensichtlich alle Touristen und Einheimischen sich mit größer Selbstverständlichkeit und Können problemlos zu Fuß auf den Weg machen. Die Insel ist nur von Fußwegen durchwebt – und man kann gut auf ihnen gehen. Menschen aus den Vereinigten Staaten, Polen, Israel lernten wir kennen, und alle waren wie wir vom Zauber dieser Insel eingenommen.
Auf Hydra muss man also zu Fuß gehen, es sei denn, man nimmt eine dieser laut-nervigen Wassertaxen, die um die ganze Insel zu einsam gelegenen Badebuchten fahren. Da aber die Qualität der wenigen Badestrände, die zu Fuß erreichbar sind, es einem leicht machen, sich nicht zu lange dort aufzuhalten, unternehmen wir tagsüber ausgedehnte Spaziergänge durch die Stadt und ihre Vororte. Hier hat es uns der auf einem Berghang teilweise aufgegebene Stadtteil besonders angetan. Der Zerfall der Häuser ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass man sehr wohl noch viele Details damaligen Wohnens erkennen kann. Da die Insel ca. achtzehn Kilometer lang und vier Kilometer breit und die Wege teilweise zugewachsen sind, kann man eine Durchquerung nicht mehr als Spaziergang, sondern schon als Wanderung bezeichnen. Hydra ist eine baumlose Insel. Auf den Bergkuppen liegen einige weit verstreute Klöster, die aber bei unseren Besuchen hermetisch abgeriegelt sind. Wir kommen auch an einem Friedhof vorbei, auf dem gerade jemand mit einer Harke Knochen aus einer der Grabkammern herausklaubt, vielleicht um Platz für einen „Nachfolger“ zu schaffen. Ich empfand diese Situation jenseits aller Zeit.

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70. Zwei schöne Treppen


Eine herrlich altmodisch gewundene Treppe in einem Bürgerhaus aus der Gründerzeit führt bis in den vierten Stock. Zugegebener Maßen etwas anstrengend, aber auch ein Bewegungs- und Wahrnehmungsgenuss.
Und noch ästhetischer: Das etwas heruntergekommene, aber doch noch sehr schöne Hotel aus dem vorvorigen Jahrhundert hat im Eingangsbereich eine breite, "herrschaftliche" Treppe. Sie weckt Erinnerungen an den Film „Vom Winde verweht“. Welch ein Gefühl, sie hinunter schreiten zu dürfen. Ich fühle mich etwas wie Clark Gable. Aber fast alle Hotelgäste zwängen sich in den kleinen Lift, selbst diejenigen, die ihr Zimmer im ersten Stock haben.

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71. Muße für Beobachtungen


Ich bin zehn Minuten zu früh an der Bushaltestelle, so dass ich Zeit habe zum müßigen Umherschauen. Ich beobachte gerne einzelne Menschen oder Gruppen: Wie gehen sie mit Stress, mit Einsamkeit, mit Verliebtheit, mit Konflikten, mit Alter, mit Jugend um? Die Dichte der beobachteten Menge darf nicht zu groß sein, denn dann sieht man wegen der schnell wechselnden „Objekte“ fast nichts. Aber auch nicht zu gering, denn dann wird man schnell zu einem beobachteten Beobachter – und das könnte peinlich werden oder auch eine Chance sein, einen Augen-blick, ein Lächeln oder ein Wort zu wechseln. Auch das gehört zur Lebensqualität. Um hier eventuelle eigene Defizite und Verluste zu bemerken, sollte man über einen gewissen Zeitraum die Anzahl der getauschten Augenblicke mit anderen Menschen zählen. Wahrscheinlich wird man erschrecken, und das führt vielleicht zu einer Veränderung der eingefahrenen (wortwörtlich!) Gewohnheiten.

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72. Spontaner Entschluss


Ich gebe es ja zu, meine Lust zum Arbeiten hält sich momentan sehr in Grenzen. Um ganz ehrlich zu sein, ich schaffe rein gar nichts. Aber mein Unterbewusstsein hilft. Ich werde plötzlich von einer Vision traktiert: Ich stelle mir ein schönes Schlagsahnestück vor, das aber in unserem Haus nicht anwesend ist. Nachdem ich meine Bedenken wegen eventueller Gewichtsprobleme erfolgreich wegrationalisiert habe, schwinge ich mich aufs Rad, um zum Bäcker zu fahren. Ich trete richtig kräftig in die Pedalen. In dieser Anstrengung bemerke ich plötzlich einen Körper, meinen Leib, ich spüre mich selbst. Das gibt Sicherheit und irgendwie Kraft und Zuversicht. Zudem habe ich noch einen kurzen Plausch mit dem Nachbarn. Mein Ich stellt fest, dass es von jemand anderem nicht nur wahrgenommen, sondern auch anerkannt wird. Danach fühle ich mich gut. Ich erkläre mir das damit, dass mein bis dahin vernachlässigtes körperliches und soziales Ich wieder aktiviert und gestärkt worden ist. Aber in diesem erfolgreichen Prozess hat sicherlich auch das Sahnestück geholfen.

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73. Garten Eden oder Ort des Lärms


Bei schönstem Sonnenschein, man hört deutlich die Vögel singen, genießen unsere Freunde an einem Sonnabendnachmittag bei Kaffee und Kuchen ihren Garten. Plötzlich zerreißt ohrenbetäubender Krach die friedliche Atmosphäre. Was ist passiert? Für sie unsichtbar, weil durch eine Hecke getrennt, aber in unmittelbarer Nähe, startet der Rasenmäher des lieben Nachbarn. Er muss die Kaffeegesellschaft eigentlich gesehen haben, hat aber natürlich kein schlechtes Gewissen, denn es steht ja schließlich in seiner Freiheit, innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Zeiten seinen Rasen zu mähen, wann immer er will - zumal er diesem seit zehn Tagen keinen Kurzschnitt mehr verpasst hat, so dass ein Aufschub nicht mehr möglich ist. Ist dieses Argumente überzeugend? Ich meine nicht. Warum nicht?
Lärm ist der Gesundheit abträglich. Aber viele Tätigkeiten sind eben nicht leise, können es gar nicht sein. Deswegen kommt alles darauf an, zwischen unvermeidlichem wie Baulärm und vermeidbarem Lärm wie aufheulende Motorräder zu unterscheiden. Wie sieht es im Garten aus? Das Wort "Paradies" enthält ja die Bedeutung "Garten Eden" oder "Garten Gottes". Lärm, Gestank, Aggression sind aber leider zu häufig Gast in unseren Gärten. Da werden mit elektrischen bzw. motorisierten Rasenmähern, mit Vertikutierern, mit Häckslern, mit Motorsägen und motorisierten Geräten, deren Funktion und Namen ich gar nicht kenne, gemäht, geschnitten, gesägt, gesaugt, umgegraben, beseitigt. Alles Tätigkeiten, die man meiner Erfahrung nach auch per Hand durchführen könnte. Deswegen, um nicht nur zu theoretisieren, habe ich mir einen Handrasenmäher zugelegt. Kein Krach, kein Gestank, kein schlechtes Gewissen. Der Schnitt entspricht nicht ganz den Vorgaben der Werbeplakate, er ist dafür naturnaher und damit - so meine ich - auch schöner anzusehen. Obwohl auch mit diesem Verfahren Kleinstlebewesen umgebracht werden, herrscht bei dieser Arbeit - zumindest aus meiner Sicht - eine Art Stille und Frieden, denn das Klappern dieses Gerätes hat nichts Aggressives an sich. Außerdem erübrigt sich durch die körperliche Anstrengung der Gang-ins-Fitnessstudio.
Um es deutlich zu sagen: Ich bin nicht gegen Gartenarbeit, denn der Garten war immer gebändigte und geordnete Natur im Unterschied zu der ihn umgebenden wilden Natur. Aber inzwischen ist die Umgebung nicht mehr wild, sondern intensive Kultur (cultura enthält "bebauen") in Form von mit Lärm erfüllten Straßen, Gebäuden, bestellten Feldern. Deshalb muss der Garten heute nicht mehr so streng der unbedingten Ordnung und Herrschaft unterworfen werden wie in vorindustriellen Zeiten. Es muss nicht alles einheitlich sein, es ist kein Grund zur Panik, wenn einige Gänseblümchen in unserem Rasen durch ihr reines Dasein Aufenthaltsrecht einfordern. Der Philosoph Leibniz sagt: natura non facit saltum (die Natur macht keine Sprünge), was für den Garten hieße, auf reine geometrische Formen zu verzichten und der Natur - natürlich innerhalb eines Rahmens - Freiheitsmöglichkeiten in ihrem Wachstum und Ausbreitung zu lassen. Und das Wichtigste, wenn irgend möglich auf schweres motorisiertes Gerät verzichten und stattdessen mit Hilfe der Hand verändernd eingreifen, denn die Hand ist behutsam und zielgenau.
Ein Garten mit viel Natur und wenig Motoren-Technik ist für uns – wie gesagt – ein Stück Paradies. Wenn nur irgendwie möglich, verlegen wir möglichst viele Tätigkeiten in den Garten: Johannisbeeren für die Marmelade vorbereiten, Mittag essen, ich kann auch sehr gut in der Sonne schwierige Texte lesen. Das liegt sicherlich daran, dass man mehr Sauerstoff einatmet, aber auch die Schönheit und Stille des Gartens tragen dazu bei. Auch kann der Blick sich ausruhen, wenn man die Nahrung suchende Amsel auf dem Rasen beobachtet oder sich an der melancholischen Form der Trauerbirke erfreut oder barfuß die vielen Naturwunder des Gartens betrachtet. Kaffee bzw. Tee und ein kleines Stück Kuchen im Garten einzunehmen, ist ein kaum zu übertreffender Genuss „Under certain circumstances there are few hours in life more agreeable than the hour dedicated to the ceremony known as afternoon tea“ (Henry James „The Portrait of a Lady“). Die Zeit scheint stehen zu bleiben. Eben ein Schimmer von Paradies.

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74. Stimmungswechsel


Heute musste ich fremdbestimmt zwei Stunden hart im Garten arbeiten, wozu ich eigentlich keine Zeit hatte. Entsprechend unmotiviert begann ich. Aber dann erwachte mein Engagement. Danach habe ich eine halbe Stunde auf dem Sofa gedöst. Nun bin ich sehr wach (wenigstens für meine Verhältnisse) und gut gestimmt.

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75. Natur entsteht in der Naturbegegnung


Frühmorgens ruhig im Garten stehen oder mit dem Rad durch Schrebergärten zur Arbeit fahren – das sind Naturbegegnungen. Die Bewegungen der Natur, insbesondere des Windes, verbinden sich mit den Eigenbewegungen zu einer lebensbejahenden Einheit. Wer sich stattdessen ins Auto setzt, verzichtet auf Begegnungen mit der äußeren und seiner eigenen Natur. Er wird zu einem isolierten Objekt.

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76. Mit dem Rad von Flensburg nach Kopenhagen


Einen Anfang zu bestimmen, ist schon schwer genug, ihn mit Sicherheit zu bestimmen, unmöglich. Hat man ihn scheinbar bestimmt, ist man froh. Schaut man dann noch einmal genauer hin, bemerkt man mit Sicherheit, dass auch dieser Anfang letztlich eine willkürliche Setzung ist, denn in jedem Anfang stecken zeitlich vor ihm liegende Anfänge. So auch die Frage nach dem Anfang einer Wanderung. Die geistigen Prozesse, die vorangehen, klammer ich hier aus. Beginnt sie mit dem Ausstieg aus dem Zug, Bus, Flugzeug oder Auto? Was ist, wenn ich zu Fuß zum Bahnhof laufe? Diese Bestimmungsaufgabe erübrigt sich, wenn ich von zu Hause aus mit dem Rad losfahre oder mich zu Fuß auf den Weg mache. Diese Form des Reisens ist für mich die Idealform. Eine der bisher wenigen realisierten „Idealformen“ bestand aus einer Fahrradtour von Flensburg nach Kopenhagen.
An einem Sonntagmorgen im Hochsommer verlassen wir mit unseren bepackten Rädern die Auffahrt unseres Hauses. Alles schläft noch. Die etwas kühle Morgenluft erfrischt ungemein. Wir fühlen uns rundum wohl. Wir fahren durch die bezaubernde Angeliter Landschaft mit ihren kleinen Dörfern zum zwanzig Kilometer entfernten Langballig an der Ostsee, weil von dort bereits um neun Uhr eine Fähre zum dänischen Sonderburg fährt. Sonderburgs alter Stadtkern ist anheimelnd. Die neue Universität und ein Science center sind attraktiv. Auf unserem weiteren Weg liegt das Dorf Asserballe mit dem Geburtshaus des Dichters Hermann Bang. Dieses ehemalige Pastorat ist für mich der Inbegriff dänischer Architektur auf dem Lande. Groß, behäbig und wohl proportioniert liegt es gut sichtbar etwas erhöht in der Nähe einer ebenfalls typischen dänischen Kirche. Beide, Pastorat und Kirche, in einem gleißenden Weiß, wie ich es nur von Südspanien her kenne.
Ziel auf dem Weg nach Kopenhagen ist heute die Insel Ærø. Die Insel mit dem Hauptort Ærøskøbing wird von vielen Dänen als ihre schönste Insel bezeichnet, von denen es bekanntlich nicht wenige gibt - und ich meine mit Recht. Deshalb muss man in diesem kleinen sehenswerten Ort unbedingt übernachten. Am besten im „Lille Hotel“, denn dort ist es unübertroffen „hyggelig“, wie die Dänen sagen und das heißt „gemütlich“ mit einem Schuss zusätzlicher Gemütlichkeit. Von nun an sind wir im Rhythmus des Reisens. Es geht nach Svendborg auf Fünen, einer alten, aber durch das rege Geschäftsleben auch irgendwie modern anmutenden Stadt. Dänemark verfügt seit langem über ein gut ausgebautes Fahrradwegenetz, dessen Routen durch landschaftlich ansprechende Passagen führen. Alles wäre perfekt, wenn nicht der starke Wind von vorne bliese – und zwar während der ganzen bisherigen Strecke. In Ringstedt auf Seeland haben wir keine Kraft mehr. Ein gegenseitiger Augen-Blick genügt: Wir fahren zum Bahnhof und besteigen mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Erleichterung den Zug nach Kopenhagen. Im Zug lernen wir die entzückende Tusnelda kennen, die zweijährige Tochter eines jungen Ehepaares, das genau so unangepasst ist wie der ungewöhnliche Name ihres Kindes. Kopenhagen ist eine Stadt mit vielen Radfahrern. Man ist dort kein Exot, sondern unter seinesgleichen. Alle Sehenswürdigkeiten erreichen wir problemlos mit diesem Fortbewegungsmittel. Auf dem Rückweg nach Flensburg schlafen wir eine Nacht in einem kleinen Bahnhofshotel, das direkt an den Schienen liegt. Fährt ein normaler Zug daran vorbei, kein Problem. Aber wehe, es kommt einer dieser schweren Schnellzüge vorbei. So ein Höllenlärm war mir bisher jedenfalls nicht begegnet. Ein kleines Landhotel vor Faaborg auf Fünen hat für uns ebenfalls eine Überraschung parat, zwar nicht von akustischer Art, sondern von informativer: Die Hotelbetreiber haben zwanzig Jahre einen Betrieb auf Grönland geführt. Ihre Erfahrungen, von denen sie gerne erzählten, waren für uns hoch interessant – aber trotzdem wollen wir nicht nach Grönland, zumindest nicht mit dem Rad.

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77. Zu Besuch bei Freunden im Odenwald


Freunde von uns haben im Odenwald das schönst gelegene Haus in Deutschland – so denken wir jedenfalls. Es war ursprünglich ein Forsthaus. Sie erwarben es günstig zu Beginn der siebziger Jahre und haben durch viel Eigenarbeit ein kleines Paradies daraus gemacht. Es liegt erhöht am Ende eines Tales, und man schaut von dort oben auf ein kleines Dorf. Ein geschlängelter Weg, gesäumt von Obstbäumen, ist von oben ebenfalls einsehbar, so dass man schon sehr früh weiß, wer zu Besuch kommt. Die nächste Zugstation ist Bensheim. Wir lassen uns nicht abholen, sondern haben einen Wanderweg direkt von Bensheim über das bekannte Fürstenlager zu ihnen entdeckt. Er führt an Wiesen vorbei, durch Wälder, über Bergrücken mit weiten Ausblicken und über Ebenen. Eine Rast im Fürstenlager, eine geschlossene kleine Siedlung aus der Barockzeit, ist ein Muss. Der dortige Gasthof ist reines Biedermeier. Für die zehn Kilometer brauchen wir etwa drei Stunden, das heißt drei Stunden erfüllte Zeit. Der dann auf der Terrasse des Forsthauses bereitstehende Zwetschgenkuchen mit viel Schlagsahne ist nicht nur unvergleichlich genussvoll, sondern auch noch verdient.
Wenn möglich, folgen wir bei längeren Zugfahrten immer der Maxime, einen Teil des Weges zum Ziel zu machen. Das kann man relativ leicht am Anfang oder am Ende einer Fahrt realisieren. Bedingung ist natürlich, dass das mitgenommene Gepäck auf Rucksackkompatibilität gehalten wird.

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78. Spuren im Schnee


Es schneit leicht. Wir machen gegen neunzehn Uhr einen Spaziergang. Nach einer Stunde kehren wir in unsere Straße zurück. Die Fußabdrücke im Schnee sind die unsrigen, neue sind nicht hinzugekommen.

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79. Nur eine Frage der Organisation


Wir wollen abends zu Fuß in ein gut bürgerliches Restaurant gehen. Natürlich kann es da einige Kleidungs-Probleme geben, insbesondere die Schuhe betreffend. Lösung: Wir ziehen wetterfeste Schuhe an und stecken die „Restaurant-Schuhe“ in einen Beutel. Bei Regenwetter muss man diese Verdoppelung auf Regenhose und entsprechende Oberbekleidung erweitern. In jedem Lokal gibt es eine Möglichkeit, wo man sich unbemerkt umziehen kann. Mit frischer Gesichtsfarbe und sicherem Gang betreten wir dann angemessen bekleidet den schönen Ort.

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80. Widerstand gegen gebaute Befehle


Wenn wir an Befehle denken, denken wir an gesprochene, eventuell noch an geschriebene, also an symbolisch vermittelte. Aber es gibt auch Befehle über materielle Arrangements: die Führung der Straßen und der Gänge in Geschäften, die Struktur der Bahnhöfe und Stadien sowie unmittelbar durch Barrieren und Zäune. Diese Befehle können vernünftig sein, sind es aber nicht immer. Das gilt es zu bedenken und im Handeln zu berücksichtigen.
Ich arbeite in einem vierstöckigen Gebäude. Wenn ich nicht gerade sehr viel zu tragen habe, nehme ich die Treppe und lasse den Fahrstuhl ohne mich fahren. Das lohnt sich – selbst zeitlich. Und ich nehme mir die Freiheit, selbst zu entscheiden.

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81. Der Vorteil des kurzen Weges: Einkaufen ohne Auto


Wir haben in unserer Nähe ein Lebensmittelgeschäft von mittlerer Größe, wie man sie immer noch in einigen Stadtteilen findet. Aber sie sind gefährdet, denn die Mehrzahl der Bewohner dieser Stadtteile kauft in Großmärkten ein, die in der Regel nur noch mit dem Auto erreichbar sind.
Wir jedenfalls decken unseren Bedarf an Lebensmitteln hauptsächlich bei unserem Supermarkt „um die Ecke“. Ich schreibe extra Supermarkt, weil er ca. 10 000 Artikel anbietet. Das genügt doch nun wirklich. Da wir nahezu täglich einmal dorthin gehen, auch weil dort ein Bäcker seinen Verkaufsstand hat, ist die Menge der eingekauften Waren problemlos zu transportieren. Ist am Wochenende mehr einzukaufen, fahren wir mit zwei Rädern dorthin und dann ist auch dieses Problem zufrieden stellend gelöst. Ansonsten gehen wir zu Fuß bzw. fahren mit dem Rad oder dem Bus in die Stadt, um Sachen zu besorgen, die es bei unserem Kaufmann nicht gibt. Selbst kleinere Möbelstücke transportiere ich gegebenenfalls in einem Fahrradanhänger oder im öffentlichen Bus – immer in dem Bewusstsein: Schwierige Situationen zu meistern, fördert die Intelligenz.
Unser Kaufmann gehört zur Identität unseres Stadtteils, ein Ort, an dem man sich trifft und wo Öffentlichkeit entsteht. Er steht auch für kurze Wege, die alle zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt werden können und damit zur Wohnqualität des Stadtteils beitragen. Zumindest aus Zeitgründen lohnt es sich: Zu Fuß sind es fünf Minuten, mit dem Rad zwei. Mit dem Auto einzukaufen, ist zumindest zeitaufwendiger, und wenn man die Benzinkosten und Abschreibungen hinzunimmt, bestimmt nicht wesentlich günstiger, wenn diese Art des Einkaufens täglich vonstatten geht. Trotzdem kauft nur ein sehr kleiner Teil der Bürger unseres Stadtteils in „unserem Laden“ ein. Diese Menschen denken nicht weiter. Denn was passiert, wenn man aus Krankheits- oder Altersgründen nicht mehr Auto fahren kann – und es unseren Kaufmann nicht mehr gibt?

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82. Modifizierte Skiferien in Südtirol – eine Synthese aus Winterwandern und Skifahren


Radein ist ein kleiner Ort an der deutsch-italienischen Sprachgrenze in Südtirol. Er liegt 1500 Meter hoch, hat neben urigen Bauernhöfen eine Dorfkirche mit einem bemerkenswerten schlanken Turm. Sie liegt anrührend auf einem kleinen Hügel im Zentrum dieses Gebirgsdorfes mit einer weißen Mauer wie zum Schutz umschlossen. Seit Jahren machen wir im Winter dort auf dem „Thomaserhof“ Urlaub. Ein alter Bauernhof, dessen Spuren bis in das 12. Jahrhundert zurückreichen. Der Skiurlaub selbst ist von einer besonderen, um nicht zu sagen, von einer anderen Art, denn in Radein selbst kann man nicht Skifahren. Wer das will, muss neun Kilometer zum 2100 Meter hoch gelegenen Jochgrimm laufen, wo es ein kleineres Skigebiet gibt.
Wir werden allerdings - ich gestehe es - jeden Morgen von unserer Wirtin bis auf zwei Kilometer an dieses Gebiet herangefahren, und erst den restlichen Weg laufen wir dann zu Fuß. Der Rückweg ist gewissermaßen das Sahnehäubchen des Tages: Die ersten zwei Kilometer führen auf einem schmalen, baumlosen Weg zum Wald nach Radein. Links reckt sich das Schwarzhorn hoch, rechts, auf der anderen Seite des beginnenden Tales erhebt sich das Weißhorn. Wir laufen gen Westen, immer der Abendsonne entgegen, die Trentiner Berge liegen ausgebreitet vor uns. Der Forstweg schlängelt sich in Serpentinen von 2100 Meter auf 1500 Meter zum Dorf runter. Zweimal sieht man direkt aus großer Höhe auf das Dorf. Jedes Mal identifizieren wir „unseren“ Bauernhof und die umliegenden Gebäude und Wege, selbst die Kirche erkennen wir deutlich. Und jedes Mal geht von diesem Blick eine große Ruhe aus, abgesehen davon, dass diese Ausblicke auch Landmarken für den noch vor uns liegenden Weg sind.
Gefährlich wird der Weg nur, wenn er vereist ist. Buchstäblich auf allen Vieren kriechen wir dann runter, so dass ich ohne Übertreibung sagen kann: Seit meiner Kindheit sind bei mir nie wieder so viele verschiedene Muskelpartien in Anspruch genommen worden. Bisher ist Gott sei Dank nichts passiert, wahrscheinlich, weil wir immer höllisch konzentriert sind. Trotzdem gibt es mehr als einmal die Situation, dass wir meinen, hier nicht mehr weiter zu kommen, weil kein Halt, kein Widerstand, sondern nur überall Glätte ist. Aber bevor wir resignieren reden wir uns gut zu: „Du kannst mehr, als Du denkst.“
Jeden Tag elf Kilometer auf einem oft schwierigen Waldweg zu gehen und vier Stunden Skifahren machen müde. Da abends in Radein nicht der Bär los ist, haben wir kein Problem, nach dem exzellenten Abendessen in der alten Tiroler Bauernstube bei leichter Lektüre bis gegen 21 Uhr zu verweilen und dann ins Bett zu gehen. Zugegebenermaßen kein spannender und eventreicher , aber ein höchst erholsamer „Skiurlaub“.
Sicherlich gibt es bis jetzt nicht viele Gäste, die diese Art eines Skiurlaubs anstreben, aber ich bin mir sicher, dass es in Zukunft immer mehr werden, die ein solches entschleunigtes Gesamtkunstwerk genießen wollen. Grundsätzlich denke ich, dass man auch im Urlaub möglichst „Hybrid-Formen“ finden sollte, also eine Mischung aus verschiedenen Akivitätsformen, wie Winterwandern und Skifahren.

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83. Es gibt auch negative Vorbilder


Ich kenne einen Sportlehrer, übrigens sehr nett, der auch die kleinste Ortsveränderung mit dem Auto zurücklegt. Dieser „Lehrer“ ist bezüglich Bewegungsfreude für die Schüler kein Vorbild und in seinen Bewegungsansprüchen an die Schüler ein Widerspruch.

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84. Sonst hätten wir den Dachs nicht gesehen


Damit haben wir Flachländler gar nicht gerechnet. Es ist Anfang Mai. Wir wandern von Bad Wiessee am Tegernsee bei nebligem Wetter los und wollen über die Aueralm (1299m) nach Lenggries gelangen. Bereits nach einigen hundert Metern Aufstieg liegen die ersten Schneehaufen auf unserem Weg, die sich auf der Bergkuppe, auf der die Almhütte idyllisch liegt, zu einer alles bedeckenden veritablen Schneedecke von einem halben Meter Dicke entwickelt haben. Wir legen in der Hütte eine Rast ein. Die Aueralmhütte ist urig und mollig warm, weil ein alter Bollerofen den Raum maximal aufheizt, vor allem in seiner unmittelbaren Umgebung. Eine tolle Gelegenheit, denke ich, mein durchschwitztes Unterhemd und den Pullover auszuziehen und durch mitgebrachte trockene Kleidung zu ersetzen. Ich hänge also voller Stolz über meine sportliche Leistung für alle gut sichtbar die Schweißprodukte an den Ofen und will mich setzen – aber bereits auf dem Weg dorthin kritisiert mich laut ein Wanderer in einem diesmal für mich nicht gut klingenden Bayrisch, ob ich zu Hause in einem Schweinestall wohne. Ich gucke ihn verdattert an und er ergänzt: „Woischt net, det de Soche grausich zu stinke aafange“ (oder so ähnlich). Da in diesem Moment seine Prognose sich in Realität umzusetzen beginnt, verzichte ich auf jede Gegenrede, ergreife meinen „Stolz“ und bringe die Sachen schnellstens nach draußen. Als sich sein und mein Gemüt beruhigt haben, unterhalten wir uns noch in Harmonie über das Wandern und die schöne Gegend dieser Region - zumal er mir hoch anrechnet, dass ich seiner Kritik sofort gefolgt bin. Dass sich in der kurzen Zeit eine Art Wanderfreundschaft entwickelt hat, zeigen später auch seine heftigen Interventionen gegen mein Vorhaben, weiter gehen zu wollen, obwohl hinter der Hütte wegen des hohen Schnees keine Weg zu erkennen sind. In Zusammenarbeit mit Eveline, einem anderen Wanderer und dem Almbetreiber holen sie mich von dem von mir mittlerweile neu gespurten Weg zurück. Um „denen“ jedoch zu zeigen, dass Schleswig-Holsteiner zumindest genau so powervoll sind wie die Bayern und durch die unvermutete Dicke der Schneedecke inzwischen selbst verunsichert, gehe ich der Form nach murrend, aber innerlich sehr wohl einsichtig, mit ihnen zur Hütte, obwohl ich äußerst ungern einen einmal eingeschlagenen Weg wieder zurückgehe. Es gibt unter der Schneedecke natürlich viele Wege, aber für uns bleibt praktisch nur einer übrig, weil geräumt – und der führt uns wieder nach Bad Wiessee. Auf dem Rückweg steht ein älterer Mann regungslos und guckt gebannt einen bewaldeten Hügel hoch. Als wir ihn erreichen, zeigt er wortlos auf ein Gebüsch, wo – man glaube mir – ein Dachs hin und her wackelt. Er sei wohl gerade aus dem Winterschlaf gekommen und deshalb noch unsicher auf seinen vier Beinen. Aufgrund dieser von mir so vehement abgelehnten Umkehr haben wir zum ersten Mal einen Dachs in freier Natur gesehen. Daraus resultiert die Einsicht: Eine Umkehr kann auch ein Gewinn sein.

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85. Visuelle Präsens


Die sichtbare Wiederkehr der Nachbarin - sie hat einen kleinen Hund bekommen.

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86. Holzhacken - eine seltene Form der Eigenbewegung


Der Winter 1979/80 ist in die Geschichte Schleswig-Holsteins als Schneewinter eingegangen. Auch Föhr, wo wir damals wohnten, war über eine Woche lang eingeschneit und vom Festland abgeschnitten. Durch dieses Naturereignis kam ich zu dem Schluss, dass wir zu unserem bestehenden Heizungssystem auf der Basis von Öl ein zusätzliches auf Basis Holz haben müssten. Zwar ist Föhr mitnichten eine waldreiche Insel, aber insbesondere über die alle vierzehn Jahre fällige Knickrodung kam man gut an Brennholz heran. Die erworbenen Stämme wurden in einer eintägigen Großaktion von einem Nachbarn und mir als Handlanger in Baumscheiben zersägt und gestapelt. Jeden Tag habe ich diese während der Heizperiode dann in ofenkompatible Scheite zerhackt. Zehn Jahre später sind wir umgezogen und diese Art des Heizens am neuen Wohnort nicht wieder aufgenommen. Schade, denn Holzhacken ist für mich eine elementare sinnvolle Art der Eigenbewegung. Ich vermisse die Kommunikation zwischen Holzstück und mir, und ich vermisse den Geruch des Holzes. Und bin fast traurig, wenn ich irgendwo jemandem beim Holzhacken zuschaue.

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87. Von Oberstdorf auf die Elmau


An einem Donnerstag im August starten wir morgens um Sechs von zu Hause aus. Wir wollen mit dem Zug nach Oberstdorf fahren und von dort eine Wanderung beginnen. Der große und der kleine Rucksack sind gepackt. Zur neuen Busstation, die fünfhundert Meter von unserem Haus entfernt liegt, gehen wir über einen Feldweg und fahren zum Flensburger Bahnhof. In Hamburg-Dammtor haben wir eine halbe Stunde Aufenthalt, Gelegenheit, in einer kleinen Cafeteria noch einen Espresso zu trinken und in der Bahnhofsbuchhandlung noch umher zu schmökern. Mit dem ICE fahren wir bis Augsburg und von dort direkt nach Oberstdorf, wo wir um 19 Uhr ankommen. Vom dortigen Bahnhof laufen wir durch die Innenstadt zu einer Pension, in der der wir ein Zimmer vorbestellt haben. Warum diese genau Beschreibung? Obwohl dieser Tag ein reiner Reisetag war, sind wir doch viel gelaufen.
Der erste Tag dient der Eingewöhnung, wir bleiben im Ort, fahren mit der neuen Seilbahn auf das Nebelhorn und laufen durch Nebelschwaden zurück ins Dorf. Zur Einstimmung gehört selbstverständlich der Besuch eines richtigen Cafes, das wir auch finden.
Am nächsten Tag geht die eigentliche Wanderung los. Es nieselt, die Wege sind aufgeweicht. Am ersten Tag kommen wir deshalb nur bis Schöllang. Von dort kann man in der Ferne immer noch Oberstdorf liegen sehen. Das ist uns natürlich irgendwie peinlich, aber der Ort und insbesondere der dortige Gasthof entschädigen uns wieder. Unseren weiteren Wanderweg werde ich im Folgenden nicht genauer beschreiben, denn, um dessen Schönheiten zu erfahren, gibt es nur eine Möglichkeit: Selbst dort wandern. Er führt von Schöllang über ein Hochtal nach Bad Hindelang. Von dort wandern wir durch das Tannheimer Tal über Weißenbach und zum Heiterwanger See. Hier gönnen wir uns einen Ruhetag, um dann frisch gestärkt über die österreichisch-deutsche Grenze nach Grainau und weiter über die Partnachklamm die Elmau, unser Endziel, zu erreichen. Das Hotel „Schloß Elmau“ ist zwar kein Schloss, aber in Wirklichkeit viel mehr als das: Ein Juwel aus Natur und Kultur und, wie alle Juwele, nicht ganz billig. Das kann ich aber mit meinen inneren Werten in Einklang bringen, denn ich unterwerfe mich möglichst nicht einem Entweder-Oder, hier also Askese oder Genuss, sondern denke, dass ein Wechsel nicht nur den Wert beider stärkt, sondern insgesamt einen erfüllten Lebensstil ausmacht. Zur Freiheit einer Wanderung gehört unserer Meinung nach auch, sich nicht vor Beginn auf eine bestimmte Route und auf bestimmte Unterkünfte festzulegen. Aus unserer Sicht besteht die Qualität einer Wanderung auch darin, zu jeder Zeit entscheiden zu können, welche Richtung und welche Pension wir nehmen und wie lange wir bleiben wollen. Das hat auf unseren vielen Wanderungen und Fahrradtouren bisher immer geklappt, jedenfalls mussten wir kein einziges Mal draußen schlafen.

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88. Sich bewegen reduziert Angst


Ich fahre morgens um sechs Uhr mit dem Fahrrad zum vier Kilometer entfernten Krankenhaus, um mich einer Leistenoperation zu unterziehen. Meine Angst ist fast verschwunden, als ich dort ankomme. Nach der Operation fühle ich mich körperlich geschwächt und psychisch verunsichert, zumal es eine Komplikation gegeben hat. Deshalb muss ein Freund das Rad vom Krankenhaus für mich abholen. Zwei Wochen danach haben wir eine siebentägige Wanderung von Ort zu Ort gemacht und sind im Durchschnitt am Tag etwas über zwanzig Kilometer gewandert. Langfristig war mir, als ob ich von der Stärke der Natur etwas abbekommen hätte. Die Wanderung hat jedenfalls sehr geholfen.

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89. Falscher Alarm: Die Praxis und Theorie des Gehens ist doch richtig


Ich bewege mich gerne und tue es auch tagtäglich. Vor kurzem „merkte“ ich mein Herz. Ich machte daraufhin größere Spaziergänge, intensivierte meine ansonsten kurze Morgengymnastik, versuchte, konzentriert entspannt zu sein, rieb mich mit einer schmerzlindernden Creme ein. Alles half nichts, insbesondere, wenn ich einschlafen wollte. Dunkle Gedanken durchzogen zunehmend mein Bewusstsein. Es wurde für mich immer klarer: „Dein Herz“. Das war natürlich für mich doppelt existenzbedrohend, einmal rein körperlich, aber auch geistig, da ich ja überzeugt war, eine Theorie, ja ein Modell einer Lebensweise entwickelt zu haben, in der Herzbeschwerden nicht vorkommen.
Die charmante, am Ende des Medizinstudiums stehende Tochter unseres Nachbarn, riet mir eindringlich, sofort einen Arzt aufzusuchen. Aber welchen, da es bereits Freitagabend war. Also rief ich im Städtischen Krankhaus an, berichtete von meinen Beschwerden, und die Antwort lautete „Kommen Sie sofort vorbei“. Dort wurde ich per EKG untersucht und der Befund war negativ, was das Herz anbetraf. Die Ursache war eine massive Verspannung im Schulterbereich. Als ich nach einer halben Stunde das Krankenhaus verließ, war ich ein dankbarer Mensch und fühlte mich wie neugeboren. Und - nicht unwichtig - mein Modell war ebenfalls gerettet.

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90. Wir können das!


Es ist gegen zehn Uhr abends. Wir kommen von einer „Elternersatztour“ ziemlich erschöpft am Sonntag im heimatlichen Bahnhof an. Alle Busse sind weg. Die Frage ist, fahren wir mit dem Taxi oder gehen wir trotz des schlechten Wetters die vier Kilometer zu Fuß nach Hause, zumal wir so lange im Zug gesessen haben. Wir entscheiden uns fürs Laufen, obwohl ich zum normalen Gepäck noch schwere Bücher (physisch und geistig, so auch eine dreibändige Ausgabe von Hans Jürgen von der Wense) tragen muss. Am Anfang kommen mehrmals Gefühle des Unwohlseins und Selbstzweifels, die aber zunehmend weniger werden. Zu Hause in der kuscheligen Wärme und bei einer heißen Tasse Tee das Gefühl der Zufriedenheit, ja des Glücks. Ich denke, vieles kommt hier zusammen: Die körperliche Anstrengung, das Wissen, wir sind autonom nach Hause gekommen und der heimliche Stolz „Wir können das!“

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91. Der Stab wird weitergegeben


Von Elmshorn nach Glückstadt führt eine Nebenstrecke durch die Elbmarsch, die ich in meiner Jugend sehr oft mit dem Rad gefahren bin, meistens aber nur bis nach Colmar an der Elbe. Nach Colmar sind es von Elmshorn aus vierzehn Kilometer, nach Glückstadt etwas mehr als zwanzig. Kurz vor Colmar gibt es eine Nebenstrecke der Nebenstrecke, die unter dem Deich an kleinen Katen vorbei direkt zum Ortskern führt. Die Katen liegen eng an den Deich geschmiegt, so dass sie auch von ihm geschützt werden. Steigt man aber die wenigen Meter auf die Deichkrone, weitet sich der Blick, fast unheimlich, über den dort sehr breiten Elbstrom. Das Gefühl des bergenden Schutzes scheint offensichtlich durch eine unmittelbar vorhandene, bedrohliche Weite des Stromes hervorgerufen zu werden. Beide durchdringen einander. Damals immer, aber auch heute noch denke ich oft: „Dort möchtest Du wohnen.“ In Colmar badeten, zelteten und liebten wir. Das gehört auch zu einem Teil meiner überwiegend erfüllten Kinder- und Jugendzeit. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre fand zu Pfingsten in Colmar eine legendäre Riverboat shuffel statt. Die damalige Hamburger Szene kam mit Ausflugsschiffen aus Hamburg nach Colmar. Das waren durchweg sehr schräge Vögel, die dann wie auf einer Mardi Gras Parade in New Orleans von Jazzbands begleitet an und über den Deich von Colmar tanzend die dortigen Gaststätten und deren Säle erreichten. In Elmshorn hatten wir zu der Zeit zwar auch eine Jazz-Szene mit gleichen Inhalten, aber sie war gemessen an der Hamburger Szene bieder, wenig alternativ, kurz provinziell. Ein unvergessliches, weil wahnsinnig freches Stück der Hamburger bestand für uns Sechzehnjährige darin, dass eines ihrer Mädels auf dem getanzten Rückmarsch für Sekunden ihre Bikinihose runterzog, was von den auf dem Deich sitzenden Zurückgebliebenen mit einem orkanartigen Gejohle gewürdigt wurde. Im Nachhinein betrachtet gehört dieser partielle Striptease sicherlich nicht zu meinen kulturellen Höhepunkten. Aber ich schweife vom eigentlichen Ziel der Geschichte ab. Schon damals empfanden wir die Tour nach Colmar als ziemlich weit und waren abends entsprechend kaputt. Nun lese ich in einer Zeitung, dass ein bekanntes 21-jähriges Model oft mit dem Fahrrad von Elmshorn nach Glückstadt zu ihren Eltern fährt und es wie folgt begründet: „Dieser Sport ist ein guter Ausgleich für mein stressiges Leben aus dem Koffer.“ Alle Achtung, dass sind nämlich je Fahrt zusätzliche sechs Kilometer mehr als unsere Tour von Elmshorn nach Colmar. Sie ist also weit besser als wir damals.

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92. Paradigmawechsel?


Wir sind zu einem Brunch eingeladen, dort gibt es nur eine Tasse Tee und nach einer Stunde werden wir hinauskomplimentiert. Warum? Wir haben das Datum verwechselt und sind einen Tag zu früh hingegangen. Trotz dieses Fiaskos lassen wir uns nicht entmutigen und stehen am nächsten Tag wieder auf der Matte, diesmal aber zur richtigen Zeit. Fünfunddreißig Gäste überwiegend aus dem Lehrer-Universitäts-Medienmileu sind in guter und aufgekratzter Stimmung, auch vermutlich deswegen, weil die Gastgeberin jedem Gast die Aufgabe gestellt hat, ihrem Mann einen Ratschlag zu geben, wohin er in seinem bevorstehenden Sabbatjahr am besten hinfahren könne. Und jetzt kommt das Erstaunliche: Zwar werden auch die üblichen Maximalentfernungsziele wie Neu-Seeland, Birma und Indien genannt, aber die Mehrheit der Voten plädiert für Orte in der Nähe wie die Nordseeinsel Amrum, Kanufahrten auf dänischen Flüssen, die dänische Südsee, die holsteinische Schweiz und den Achtermann im Harz und den mir unbekannten Kellerwald. Befragt, wie dieser Gast auf den Kellerwald gekommen sei, verweist er auf die Lektüre des lesenswerten Buches „Vom Wandern“ von Ulrich Grober. Ich bin überzeugt, dass noch vor drei Jahren Fernreisen unangefochten dominiert hätten. Ich wage deshalb die These, dass sich in diesen Voten ein neues Bewusstsein manifestiert.

Anhang

Die folgenden neun Beiträge sind aus Leserbriefen und kleinen Veröffentlichungen entstanden. Sie fallen also aus der bis hierhin verfolgten Konzeption heraus, in den Geschichten möglichst die subjektive Dimension mit darzustellen. Dadurch entsteht zweifelsohne ein Bruch. Deshalb habe ich anfangs gezögert, sie in diese „Erlebnissammlung“ mit aufzunehmen. Denke aber, dass sie als Beschreibung von Ermöglichungs- bzw. Verhinderungsgrund von Eigenbewegung einen sinnvollen Platz einnehmen. Um die Differenz zu markieren, werden sie in einem Anhang gesondert zusammengefasst.

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I. Drei Heimaten


Es gibt Städte, in denen man sich bei der ersten Begegnung sofort heimisch fühlt, bei anderen dauert es länger, bis so etwas entsteht, und bei einigen erblüht nichts, keine Nähe, kein Wunsch zu bleiben. Nah ist mir immer noch Elmshorn, die Stadt meiner Kindheit und Jugend, die in allgemeiner Auffassung heute– um es höflich auszudrücken - nicht als besonders schön gilt. Aber so war es nicht vor sechzig Jahren. Da war Elmshorn eine Stadt voller Menschen, voll von Geschichte und Geschichten – und von Geheimnissen. Meine zweite Heimat ist die Insel Föhr, auf der wir nahezu zwanzig Jahre lebten. Dort hatten wir – nicht zuletzt wegen der isolierenden Insellage und natürlich auch wegen unserer Kinder, die dort aufwuchsen sind - intensive soziale und kulturelle Kontakte, eine großartige Natur sowie das einzigartige Wattenmeer. Zudem hatte ich mich intensiv mit der Geschichte Föhrs im Besonderen und mit der Nordfrieslands im Allgemeinen beschäftigt, auch hatten wir die friesische Sprache erlernt. Aus beruflichen Gründen sind wir nach Flensburg gezogen. Flensburg, nun seit nahezu zwanzig Jahren unser neuer Wohnort, ist mir nah, aber nicht so nah wie meine ersten zwei Heimaten, da ich diese dritte Heimat bis jetzt nicht so gut kennen gelernt habe wie Elmshorn und Föhr – für Flensburg war bis jetzt nicht so viel Zeit. Aber ich schätze diese Stadt insbesondere wegen ihrer Lage an der Förde, der Altstadt und wegen des starken kulturellen dänischen Moments.
Wer liebt, auch in der abgeschwächten Form des Schätzens, leidet, falls das Objekt seiner Begierde gefährdet ist. Und wie alle Städte heute leiden, so auch Flensburg: Zuallererst und heftig leiden Städte unter der ungeheuerlichen Wucht des Autoverkehrs. Da eine Stadt selbst nicht spricht, bedarf es Stellvertreter.

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II. Bürger einer Stadt bewegen sich


Zu einer Stadt gehört eine Innenstadt. Das ist eine jahrhundertealte Realität und kulturelle Errungenschaft, die seit ca. fünfzehn Jahren zumindest in Klein- und Mittelstädten zunehmend verspielt wird. Der Grund liegt darin, dass aus Bürgern Bewohner werden. Worin unterscheiden sich beide? Bürger haben ihren Lebensschwerpunkt in ihrer Heimatstadt. Hier kaufen sie ein, genießen das kulturelle Angebot von Cafes, Theater bis hin zur Architektur, nehmen am städtischen Leben teil und versuchen, dort auch Arbeit zu finden. Der Bewohner hingegen wohnt zwar in einer Stadt, lebt aber nicht in ihr. Er reduziert seine Entscheidungen allein auf Billigkeit, Bequemlichkeit, Schnelligkeit und Spektakuläres. Ihm ist es einerlei, wo er diese Bedingungen vorfindet, sei es in sterilen Einkaufszentren auf ehemals grünen Wiesen oder im Industriegebiet. Er führt ein „verinseltes“ Dasein zwischen Einkaufszentren, Arbeitsplatz und Wohnung. Diese „Inseln“, die sich immer weiter voneinander entfernen, können nur noch durch unzählige Autofahrten am Tag miteinander verbunden werden. Zwischen den Inseln ist Niemandsland. Diese Strukturen und die von ihnen abhängigen Lebensweisen ersetzen die Stadt.

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III. Der richtige Weg


Fast alle Innenstädte kämpfen um ihr wirtschaftliches Überleben. Zu ihrem traditionellen „Gegner“, den autogerechten Einkaufszentren an ihrer Peripherie, kommt nun der zunehmende Internet-Einkauf hinzu. Eine Entwicklung, die jeder Bürger durch sein Tun entweder verstärken oder verlangsamen, ja umkehren kann. Warum sollte er es?
Die Charta von Leipzig sieht in einer Stadt der kurzen Wege die bessere Zukunft, wo Benzin eingespart wird und grünes Umland nicht mehr mit Eigenheimen oder Einkaufszentren zersiedelt wird. Einer Stadt ohne Zentrum fehlt das Herz, und sie stirbt. Ursache sind die vielen Bürger, die dort nicht mehr einen bedeutenden Teil ihrer Einkäufe tätigen: Jeder Kaufakt ist aber eine politische Handlung, weil er diese oder jene Auswirkungen auf die Stadt hat, die im Griechischen „polis“ heißt und wovon sich das Wort „Politik“ ableitet.
Was ich hier betreibe ist eine Kritik des Bürgers. Den Bürger zu kritisieren, gilt heute oft als unzulässig, ja undemokratisch. Das drückt aber ein falsches Demokratieverständnis aus: Das Volk (gr. demos) bzw. seine Bürger entscheiden frei, was aber nicht automatisch heißt, dass diese Entscheidungen immer gut und richtig sind. Auch gefallene Entscheidungen müssen kritisiert und müssen gegebenenfalls revidiert werden können. Gegen den Mainstream plädiere ich für die Maxime: Bürger, deckt Euren Bedarf vorwiegend in der Innenstadt und beim Kaufmann um die Ecke. Bestehende Angebotslücken, die jetzt zweifellos bestehen, würden dann schnell geschlossen werden.

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IV. Für das Alltägliche, gegen Events


Zur 725-Jahrfeier findet im Gebiet des Hafens eine der typischen dreitägigen Veranstaltungen mit Buden, Animationen und kleinen Shows zum Thema statt. In Leserbriefen wird das Dargebotene als relativ dürftig und oft am Thema vorbei gehend kritisiert und man verlangt für die Zukunft Verbesserungen. Ich teile aus grundsätzlichen Erwägungen diese Kritik nicht: Im Hafen müssen nicht (übrigens auch nicht in Innenstädten) mit aller Gewalt inszenierte Veranstaltungen stattfinden, damit „im Hafen überhaupt etwas los“ ist, sondern das Leben im Hafen selbst ist interessant, in ihm ist immer „etwas los“. Aber man muss dafür schon einen Blick haben, der nicht der Blick der Eventkultur, des Spektakulären, der Gigantomanie, des Einmaligen, des Außergewöhnlichen, des Scheins ist. Nein, es gilt die Schönheit des Alltags und des „Normalen“ zu sehen und ggf. neu zu entdecken: der Zusammenklang der Segelschiffe, die Fassaden der Häuser, die ruhig dahin ziehenden Schwäne, die begeisterten Kinder auf dem Spielplatz, die Cafebesucher, die genussvoll ihre Getränke schlürfen, die zwei hübschen Joggerinnen, der stolze Jagdhund, der melancholische Blick eines alten Menschen, die Spaziergänger. Ich meine, das ist Leben pur. Wesentlicheres gibt es nicht. Das ist die Hauptsache.

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V. Mut zu Visionen


Nicht nur Besucher Flensburgs, sondern auch viele Einheimische betonen immer wieder, dass der Hafen beidseitig vielleicht der schönste Teil unserer Heimatstadt sei -- und, dass dazu gerade die Veränderungen in den letzten Jahren zur Aufwertung dieses Gebietes entscheidend beigetragen hätten. Dieser positive Zustand schließt aber nicht aus, weitere Verbesserungen vorzunehmen: Ein nächster mutiger Schritt könnte sein, den vierspurigen Straßenzug um den Hafen zumindest teilweise zurückzubauen und nur noch für Anlieger offen zu lassen, so dass Fußgänger und Radfahrer Vorrang hätten. Die gewonnenen Zwischenräume könnten dann mit flachen Neubauten und Freiflächen ausgestaltet werden, so dass die bestehende Bebauung direkt mit dem Hafen verbunden wäre. Das hätte eine große Aufwertung von Wohn- und Lebensqualität des gesamten Ostufers zur Folge. Was heute der Süllberg für Blankenese ist, wäre dann dieses aufgewertete Stadtviertel für Flensburg. Dass dabei vieles noch zu bedenken ist, versteht sich von selbst. Ich hoffe, dass diese zukunftsweisende Vision der Stadtentwicklung nicht reflexartig abgelehnt wird, bloß weil sie ungewöhnlich ist.

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VI. Belebung der Innenstadt


Den Innenstädten geht es nicht gut, immer mehr Bürger meiden sie. Das Spektrum der möglichen Ursachen wird breit diskutiert: Zu wenige und teure Parkplatzmöglichkeiten und weite Fußwege sind das häufigste Argument, aber auch die Breite und Qualität der Angebote, die Sauberkeit der Straßen bis hin zur Anwesenheit von Menschen aus sozialen Randgruppen werden u. a. bemängelt. Diese Argumente spiegeln Bedürfnisse, Werte und ein Bewusstsein eines neuen Typus von Menschen, der sein Verhalten und seine Entscheidungen fast ausschließlich nach ökonomischen Prinzipien und nach Bequemlichkeit ausrichtet. Auf der Strecke bleiben Schönheit, Begegnungen (dazu gehören auch störende und irritierende), Augen-blicke , Zufälle, Überraschungen, Zweckfreiheit, Unübersichtlichkeit, Vielfältigkeit, Tradition, das Miteinanderreden, Öffentlichkeit, Vernunft und Ethik – also Erfahrungen, die eine den Menschen in den Mittelpunkt stellende Stadt viel umfangreicher und intensiver ermöglicht als die reizarmen und monofunktionalen Einkaufszentren auf ehemaligen grünen Wiesen. Gegen diese Tendenzen zu leben, setzt aber den neugierigen, selbständigen, verantwortungsvollen und sozial-kulturell interessierten Bürger voraus: Einen Bürger, der sich auf seine Eigenkräfte verlässt, sich erinnert, dass er zwei Füße zum Laufen hat, der auch einmal etwas tragen kann und es auch nicht als soziale Deklassierung interpretiert, wenn er mit dem Rad oder Bus in die Stadt fährt. Das bringt sogar Spaß und schafft Selbstwert. Nebenbei ist es seiner Gesundheit bekömmlich, und er leistet wahrscheinlich einen kleinen Beitrag zur Reduzierung des Klimawandels.

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VII. Versinkendes Erbe


Der Altstadtkern einer sächsischen Kleinstadt zerfällt. Der Grund liegt primär nicht in den demographischen Veränderungen, sondern in der zunehmenden Unwirtlichkeit der Städte, bedingt durch den Individualverkehr. Die Folgen kann jeder sehen, falls er überhaupt noch sehen kann: Lärm, schlechte Luft und Verhässlichung. Wer mutet sich das und gar seinen Kindern zu? Es gibt nur eine wirkende Lösung, die zweierlei verlangt: den Individualverkehr aus der Stadt verbannen und von den Bewohnern die Einsicht, dass es viel besser ohne das Auto geht, dass Lebensqualität erst durch dessen Abwesenheit entsteht. Das zu denken, heißt, das dominierende Tabu der Gegenwart zu brechen.

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VIII. Das allmähliche Verschwinden sozialer Kontakte


Geht man tagsüber oder gar abends durch die Straßen, trifft man nicht mehr auf Menschen, sondern fast nur noch auf Autos. Aber der Mensch braucht andere Menschen, sie erwärmen und inspirieren ihn. Er will den lebendigen Kontakt. Das will auch der Autorfahrer. Er fährt und fährt und merkt nicht, dass das Fahren gerade die Verwirklichung dieses Wunsches verhindert - denn tendenziell fahren alle nur noch, d. h. es findet kein Treffen, sondern nur noch ein Aneinandervorbeifahren statt. Das zeitliche Verhältnis von Fahren und gewünschten sozialen Situationen wird immer günstiger für das Fahren und ungünstiger für das Treffen. Letzteres gelingt nur noch bei räumlich und zeitlich exakt geplanten Veranstaltungen. Zufällige und spontane soziale Situationen werden immer seltener, werden strukturell zunehmend unwahrscheinlicher. Einsamkeit und damit Unzufriedenheit machen sich somit breit. Die Flucht in den stundenlangen Fernsehkonsum vermittelt das gesuchte Leben nur als Schein; das wird zwar nicht durchschaut, aber löst doch Unwohlsein aus und führt zur erneuten Suche, natürlich mit dem Auto. So entsteht ein in sich geschlossenes System der sozialen Kontaktlosigkeit, aus dem es offensichtlich kein Entrinnen mehr gibt - obwohl es doch so einfach wäre: Geht in die Stadt, fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln und reduziert Euren Fernsehkonsum drastisch. In die dadurch entstehenden Freiräume wird dann wieder das wirkliche Leben mit seinen kleinen und großen Überraschungen, Schönheiten und Lernmöglichkeiten eindringen.

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IX. Die Straßenverkehrsordnung ändern


Ich halte es für falsch, Autofahrer einerseits und insbesondere Fußgänger und Radfahrer andererseits im Straßenverkehr grundsätzlich für gleichberechtigt zu halten. Es gibt viele gute Gründe, die Bedingungen für Fußgänger und Radfahrer ständig zu verbessern und zu erweitern, und es gibt noch mehr gute Gründe, den Individualverkehr einzuschränken. Zu den Gründen der Erweiterung: Fußgänger sind für das Leben in einer Stadt eine Zunahme an Schönheit und Kommunikation. Zu den Gründen der Einschränkung: Klimaerwärmung, Belastung durch Schadstoffe, Vernichtung von Lebensräumen insbesondere für Kinder, Tote und Verletzte, tendenzielle Unbewohnbarkeit ganzer Straßenzüge (dort wohnen in der Regel nicht die Autolobbyisten), permanente Lärmbelästigung, "Verhässlichung" der Stadt und Verhinderung von Kommunikation und Interaktionen. Die Benutzung des Autos ist aus dieser Sicht nur dann legitim, wenn notwendige Gründe vorliegen. Bequemlichkeit ist aus meiner Sicht kein notwendiger Grund.